Wir erleben heute an den Hochschulen gegensätzliche Trends. Der Ansturm, der seit der Öffnung der „Massenuniversitäten“ in den späten 1960er Jahren begann, wird fortgeführt. Rund 2,5 Mio. Studierende bevölkern die Hochschulen in Deutschland.[1] Man könnte meinen, es handele sich um einen Trend der „Verbürgerlichung“ – der Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an universellem Wissen. Mitnichten – wurden die Hochschulen bis Mitte der siebziger Jahre auch Arbeiterkindern geöffnet, indem das Bafög eingeführt und neue Reformuniversitäten mit paritätischer Mitbestimmung gegründet wurden, so haben wir es heute generell mit einer „Gegenreform“ zu tun, die eher einen Trend der „Prekarisierung“ der Studierenden eingeläutet hat. Wie können unter diesen Vorzeichen Studierende für sozialistische Hochschulpolitik gewonnen werden?
Veränderte Studienbedingungen
Hochschulen sind, wie alle anderen Arbeitsbereiche auch, eingebettet in das kapitalistische Akkumulationsregime.[2] Ihre finanzielle Ausstattung erfolgt nach den spezifischen Anforderungen ihrer jeweiligen Epoche.
Bis zum Ende der 1960er Jahre war die Hochschullandschaft noch immer nach Maßgabe der Ordinarien organisiert. Die Kaiserzeit lebte hier nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland „unter den Talaren“ fort. Vorherrschender Konservatismus verhinderte dringend benötigte Reformen, die in die Erforschung neuer Produktionstechnologien münden sollten. Widerstand gegen die Öffnung der Fakultäten für Biochemie oder Informatik wirkten innovationshemmend[3] und das zu einer Zeit, als der Rheinische Kapitalismus seine ersten Risse verspürte – Stagnation und Arbeitslosigkeit wurden erstmals nach dem „Wirtschaftswunder“ spürbar. Kurzum, das deutsche Kapital verlangte nach Produktionsinnovation. Die Hochschulen mussten mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte und Techniken für den kapitalistischen Produktionsprozess hervorbringen. Die Regierung Willy Brandts kam diesen Anforderungen nach. Im Ergebnis ihrer Reformen stand die Massenuniversität, die breiten Bevölkerungsschichten Zugang zu Bildung gewährte, u.a. durch die Einführung des Bafög. Die damals vergleichsweise starke gesellschaftliche Linke konnte durch die Bildungsreformen Terraingewinne an den Unis verzeichnen. Paritätische Mitbestimmung und weitere Demokratisierungsinstrumente konnten erkämpft werden. Sogenannte Reformunis – wie die „Rote Kaderschmiede“, die Universität Bremen – haben ihren Ursprung in dieser Zeit.
Seither blieben bedeutendere Investitionen im Bildungswesen aus. In den 1990er Jahren, mit dem K.O. der Linken, breitete sich der Neoliberalismus auch an den Hochschulen aus. Erstmals wurde auf den Ansturm von Studienanfängern mit Aufnahmebegrenzung reagiert. Unterfinanzierung wurde im „schlanken Staat“ zur Doktrin: entfielen in Deutschland 1990 auf eine Million Studierende 0,55 Prozent des BIP, so waren es 2004 nur noch 0,43 Prozent. Dieser Trend hat sich massiv verschärft. Der Bolognaprozess läutete ab der Jahrtausendwende einen Prozess ein, der Bildung unter Standortkonkurrenz stellen sollte (Exzellenzinitiative). Heute stehen Studierende untereinander in Konkurrenz um das Erlangen von Kreditpunkten und überhaupt um die Möglichkeit der Aufnahme eines Studiums.
Der Wegfall der Wehrpflicht und die Verkürzung der gymnasialen Oberstufe (G8) läuteten einen Ansturm auf das System der beruflichen und Hochschul-Bildung ein, bei dem es angesichts schlechter Zukunftsaussichten – befristete Arbeitsverhältnisse und zu wenig Ausbildungsplätze – zu einer Studienaufnahme kaum Alternativen gibt.
Schlechte Studienbedingungen, überfüllte Hörsäle und Seminare sind zum Dauerzustand geworden. Wegen fehlenden Personals kommt es zu Semesterbeginn regelmäßig zur Überfüllung der in ungenügender Zahl angebotenen Seminare. Das Studium wird zusehends verschult und nimmt dabei chaotische Züge an. So sieht der Lehrplan der Bachelor- und Masterstudierenden vor, dass Pflichtmodule in einem vorgegebenen Zeitrahmen absolviert werden müssen. Da vielerorts zu wenige Seminare angeboten werden, verlängert sich die Studiendauer zwangsläufig.
Der Leistungsdruck im Studium hat in den letzten Jahren, besonders im Zusammenhang mit der Einführung des BA/MA-Systems, massiv zugenommen. Zwischen 2003 und 2010 hat sich die Zahl derjenigen, die die psychologischen Beratungsstellen des Deutschen Studentenwerks zu Rate ziehen, nahezu verdoppelt.[4] „Burnout“ durch Überarbeitung nimmt unter Studierenden zu. Durchschnittlich arbeiten Studierende 42 Stunden die Woche. Davon 35 Stunden zur Vor- und Nachbereitung des Studiums sowie sieben Stunden zusätzlich im Nebenjob.[5]
Gerade die Thematisierung sozialer Probleme, mit denen die Studierenden unmittelbar konfrontiert sind – Leistungsdruck, Studienfinanzierung, knapper und zu teurer Wohnraum, nicht zuletzt die Perspektivlosigkeit – sind Anknüpfungspunkte zur Politisierung. Im Fokus sollten dabei auch immer radikale Wege zu ihrer Behebung stehen. Die Frage von bezahlbarem Wohnraum ist vor allem in den großen Uni-Städten wie Berlin, München und Hamburg eine wichtige Frage für viele Studierende.
Hochschulen als Bezugrahmen antikapitalistischen Protests
Mit all diesen Fragen können wir konkret an die Lebenssituation von Studierenden anknüpfen. Wichtig dabei ist, den Studierenden zu verdeutlichen, dass all diese Probleme nicht zufällig existieren oder vorübergehender Natur sind. Sie sind Teil einer bestimmten Systemlogik, der des kapitalistischen Systems. Ihre Aufhebung ist damit auch nur mit der Überwindung des Systems möglich.
Dass Studierende wichtige Träger von sozialen Bewegungen, vor allem auch von systemkritischen Bewegungen sind, beweist dabei nicht nur ein Blick in die ältere Geschichte. Gerade im Zuge der Krisen-Proteste in Spanien, Griechenland oder Portugal waren es vor allem junge Menschen, Studierende, welche die Kämpfe initiiert, vorangebracht und besonders auch radikalisiert haben. Frankreich ist ein Beispiel, wie ein Bildungsstreik sich zum Generalstreik entwickeln kann. In Großbritannien haben die Studierendenproteste besonders die repressiven Seiten des kapitalistischen Staates herausgefordert.[6] Auch in der Bundesrepublik können wir auf Bewegungen an den Hochschulen zurückgreifen. So hat die Zivilklausel-Bewegung im letzten und auch schon in diesem Jahr einige Achtungserfolge erzielen können. Für uns als AntimilitaristInnen stellt sie einen wichtigen Ansatzpunkt da, um eine breite Debatte über die Rolle der Hochschulen in der Frage von Krieg und Frieden zu initiieren.
Bildung und Hochschule nehmen im Kapitalismus eine besondere und wichtige Rolle ein und werden folglich auch nach kapitalistischen Interessen gestaltet. Die Forderung nach Ausweitung der Demokratisierung der Hochschule bzw. Bildung setzt daher an einem Interessengegensatz an. Ein Beispiel: Viele Hochschulen installieren flächendeckend so genannte Hochschulräte – Gremien, welche mit Angehörigen der Universität, zum Teil aber auch mit Personen aus der „freien Wirtschaft“, also aus Unternehmen und Konzernen, besetzt werden. Diese entscheiden dann z.B. über das Leitbild und die Ausrichtung der jeweiligen Hochschule, darüber, welche Studiengänge gefördert, oder wo finanzielle Mittel eingespart werden sollen.
Meistens werden Studierende in diesen Diskussions- und Entscheidungsprozess nicht mit einbezogen. Dies zeigt deutlich, dass die Interessen der Studierenden (wohlgemerkt als größte Mitgliedergruppe an der Hochschule) keine Rolle spielen, ja meistens noch den Interessen von Wirtschaft und Uni-Leitung entgegenstehen. Eher spielt die Profit-Logik der beteiligten Unternehmen eine übergeordnete Rolle.
Hochschulbildung, die sich also nicht den Prioritäten kapitalistischer Warenverwertung unterordnen will, muss daher notwendigerweise systemkritisch sein. Systemkritisch, weil die Hochschule nicht im luftleeren Raum existiert, also genauso den Zwängen der Kapitalakkumulation unterworfen ist. Wenn man diese ökonomische Zweckbindung in Frage stellt, agiert man gegen das Interesse von Unternehmen und Regierung.
Studentischer Protest muss mithin Teil einer gesamtgesellschaftlichen Auflehnung gegen die Offensive des Kapitals werden, also sich auch langfristig die Umwälzung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zum Ziel setzen. Dabei muss der Protest das Studium als Moment der gegenwärtigen gesellschaftlichen Organisation der Arbeit begreifen und zu einem Widerstand gegen deren kapitalistische Form werden. Er muss also die heutige Hochschule zusammen mit der gegenwärtigen Organisation der Arbeit bekämpfen.
Hochschulkämpfe waren in den letzten Jahren eher Abwehrkämpfe gegen den neoliberalen Umbau der Uni. Seit 2007 kommt es z.B. regelmäßig zu Bildungsstreiks. Eine Besonderheit der letzten Jahre liegt jedoch darin, dass es sich bei den Aktionen weniger um spontane Ausbrüche von Frust und Unzufriedenheit handelte, sondern eher um eine langfristige und bundesweit geplante Kampagne, die durchaus erfolgreich war, neoliberale Reformen zurück zu schlagen. So wurden durch die massiven Proteste die flächendeckende Rücknahme der Studiengebühren in fast allen Bundesländern erreicht und auch die teilweise Abschaffung von Anwesenheitslisten.
Von diesen Abwehrkämpfen innerhalb des Systems muss studentischer Protest aber zu einer klaren antikapitalistischen Perspektive und Strategie kommen, um langfristig die Interessen der Studierenden durchzusetzen.
Chancen sozialistischer Politisierung heute
Die Formen studentischer Organisierung sind so vielfältig, wie es das politische Themenspektrum der Hochschulgruppen selbst ist. Die Universität bietet dabei den idealen Rahmen, um sich zu engagieren. Zum einen sind wir nicht der strengen Disziplin eines Lohnherren unterworfen, der bestimmte politische Aktivitäten über ökonomischen Druck sanktionieren kann. Zum anderen treffen wir an den Hochschulen auf eine Konzentration von jungen Menschen, die in keinem anderen gesellschaftlichen Raum so hoch ist. Nicht zuletzt bietet die Hochschule die Möglichkeit, in einem größeren Rahmen theoretische und vor allem strategische Diskussionen zu führen.
Studentische Organisationen sollten dabei die Aufgabe bewältigen, aktiv in Kämpfe vor Ort einzugreifen, in dem z.B. Protest unterstützt und organisiert wird, in dem Möglichkeiten zur kritischen Theoriebildung angeboten und Studierenden der Raum für politische Bewusstseinsbildung und Organisierung zur Verfügung gestellt wird. Darüber hinaus aber muss eine bundespolitische Perspektive gegeben sein, um Auseinandersetzungen zusammen zu bringen und, wie z.B. im Bildungsstreik, flächendeckend Druck auf Regierung und Staat aufbauen zu können.
Ein wichtiges Ziel sollte weiterhin die Schaffung von breiten Bündnissen darstellen. Eine thematische Verengung auf das Thema „Hochschulpolitik“ erweist sich in dieser Hinsicht als der falsche Weg. Hochschulpolitik kann nicht unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Fragen betrachtet werden und sollte nie bei Forderungen stehen bleiben, die allein auf die Uni bezogen sind.
Bündnisse sollten an den Hochschulen vor allem mit dem akademischen Mittelbau geschlossen werden, da hier die Prekarisierung in den letzten Jahren massiv zugenommen hat. Mittlerweile sind z.B. 80 Prozent aller Verträge befristet.[7] Auch die nicht-wissenschaftlichen Beschäftigten sind wichtige PartnerInnen.
Auch außerhalb der Hochschule sind Bündnisse mit von der herrschenden Klasse besonders marginalisierten Gruppen wir z.B. Erwerbslosen und MigrantInnen wichtig. Erfolgreich können Bewegungen aber letztendlich nur dann sein, wenn sie auch an die ökonomischen Kämpfe von ArbeiterInnen angebunden werden, um gemeinsam konsequent die soziale Frage zu stellen. Dabei wird es an Anknüpfungspunkten für linke, antikapitalistische Politik, für Protest und Widerstand auch in Zukunft nicht fehlen.
[1] Bundesministerium für Bildung und Forschung [Hrsg.]: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012. 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung – Auszug – Zusammenfassung, ausgewählte Tabellen und Abbildungen, Bonn/Berlin 2013. S. 2.
[2] Vgl. S. Zeise, Politik für die Mehrheit, in: Z 94, Juni 2013, S. 113-119.
[3] Torsten Bultmann, Die standortgerechte Dienstleistungshochschule, in: PROKLA, Heft 104, 26. Jg., Nr. 3, 1996, S. 329-355, hier S. 334.
[4] Christoph Wöhrle, Burnout bei Studenten: Absturz der Überflieger, in: SPIEGEL Online – UniSPIEGEL vom 6.9.2011, http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/burnout-bei-studenten-absturz-der-ueberflieger-a-773855.html Letzter Aufruf am 30.10.2013.
[5] Pressekonferenz 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks. Statement des Präsidenten des Deutschen Studentenwerks, Prof. Dr. Dieter Timmermann, Berlin 2013. S. 2.
[6] Vgl. A. Gallas, J. Nowak, F. Wilde (Hrsg.), Streiks im Europa der Krise. Hamburg 2012.
[7] Silke Gülker, Wissenschaftliches und künstlerisches Personal an Hochschulen: Stand und Zukunftsbedarf, Expertise der GEW. Frankfurt/Main, 2011.