Klassenanalyse und Intelligenz heute

Der Tod des „alten" Typs des Intellektuellen und die Entstehung eines neuen Typs des „Intellektuellen von unten"

von Lothar Peter
Dezember 2013

1.

Der „alte“ – oder besser: „traditionelle“ – Intellektuelle definierte sich dadurch, dass er im Namen kollektiver Subjekte wie Staat, Nation oder Klasse sowie allgemeiner Werte und Ideale wie Patriotismus, Sozialismus, Freiheit und Vernunft öffentlich seine Stimme erhob und in den Kämpfen seiner Zeit Partei ergriff.

Dieser traditionelle Intellektuelle trat als autonomes Individuum in Erscheinung und seine soziale Position musste keineswegs mit denjenigen gesellschaftlichen Gruppen und Kräften übereinstimmen, denen er sich verpflichtet fühlte.

Selbst der „organische Intellektuelle“ im Sinne Antonio Gramscis kam nicht unbedingt aus derjenigen Klasse, deren Interessen er artikulierte, wie zahlreiche prominente Beispiele aus der Geschichte der Arbeiterbewegung zeigen.

2.

Auch für traditionelle linke Intellektuelle bot die bürgerliche Öffentlichkeit ein Forum, um die Sache der Unterdrückten und Entrechteten dem Schweigen oder den Beschönigungen der Herrschenden zu entreißen und der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Die Komponenten dieser Öffentlichkeit wie Zeitungen, Verlage, Bücher, Universitäten und Kongresse dienten nicht nur der Reproduktion der herrschenden bürgerlichen Ideologie, sondern auch der Vermittlung der Kritik linker Intellektueller.

Der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) und die Medialisierung des „kollektiven Bewusstseins“ in den kapitalistischen Gesellschaften haben dem traditionellen universalistischen Intellektuellen inzwischen weitgehend den Boden entzogen. An seine Stelle ist der sogenannte „Medienintellektuelle“ getreten. Nicht mehr eine spezifische wissenschaftliche, künstlerische oder literarische Kompetenz sind seine Legitimationsbasis, sondern das Prinzip des „esse est percipii“ (George Berkeley), also das „Sein durch Wahrgenommenwerden“.

Die „celebrity“ des „Medienintellektuellen“ hängt davon ab, inwieweit er den Codes symbolischer Herrschaft performativ zu entsprechen vermag.

3.

Hat die Dominanz des Medienintellektuellen das unwiderrufliche Ende dessen eingeläutet, was man mit der Funktion des traditionellen „engagierten linken Intellektuellen“ verbindet?

Einerseits ja, denn die geschichtlichen, sozialen und kulturellen Koordinaten, in denen große Intellektuelle wie Gramsci, Sartre, Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Georg Lukács oder Adorno verortet waren, sind verschwunden.

Andererseits nein, denn die Widersprüche, Krisen und Katastrophen der Gegenwart erfordern Kritik und das Engagement von Intellektuellen ebenso dringend wie vor einem halben Jahrhundert.

Aber für ihr Handeln entstehen mit der Vergesellschaftung von Wissen und Kultur neue Bedingungen. Die Ausbreitung „immaterieller Arbeit“ (Hardt/Negri), die steigende Zahl der „knowledge worker“ und „Symbolanalytiker“ und die Akademisierung von immer mehr Berufen schafft ein neues intellektuelles Potential für Kritik, zumal da die Widersprüche zwischen der Vergesellschaftung von Wissenschaft und Kultur einerseits und ihrer Indienstnahme für Herrschafts- und Ausbeutungszwecke an Komplexität und Tragweite zunehmen. Die Nutzung von Nano-Technik bei spekulativen Transaktionen auf den Finanzmärkten, von denen das Wohl und Wehe von Millionen Menschen abhängt, liefert dafür einen besonders erschreckenden Beweis.

Vergrößern die aktuellen Formen wissenschaftlich-technisch und medial unterbauter gesellschaftlicher Herrschaft einerseits den Druck auf Angehörige der Intelligenz, sich den Imperativen des Systems zu beugen, so treten in diesem Prozess aber andererseits auch gleichzeitig neue Akteure auf, die sich gegen die Instrumentalisierung sowohl ihrer eigenen Tätigkeit als auch der Ergebnisse wissenschaftlicher und kultureller Produktion für den Profit, für die Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit und Entdemokratisierung zur Wehr setzen.

4.

Schon während der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat Michel Foucault die Gruppe derjenigen, die als Biologen, Informatiker, Ärzte, Psychiater und Sozialarbeiter im Kontext ihrer konkreten beruflichen Tätigkeit die Wahrheit hegemonialer Diskurse in Frage stellten, als „lokale“ oder „spezifische Intellektuelle“ (Dispositive der Macht) bezeichnet. Es scheint, als ob seitdem die Ausweitung „immaterieller Arbeit“ eine breitere Basis für einen neuen Typ der Intellektuellen geschaffen hat, den ich die „Intellektuellen von unten“ nennen möchte. Es handelt sich dabei um alle wissenschaftlichen Akteure und Kulturproduzenten, die ihre spezifischen Kompetenzen in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einbringen und die mit ihrer Arbeit verbundenen Probleme als Fragen gegensätzlicher Interessen und Ziele politisieren. So sensibilisiert eine investigative Journalistin wie C. K. für die Zusammenhänge von scheinbar unpolitischer Kriminalität, Rechtsradikalismus und Aktivitäten einflussreicher „honoriger“ Einzelpersönlichkeiten. Ein Arzt wie K.-R. F. ergriff Partei für die dioxingeschädigten Opfer der Chemieindustrie. Der graduierte Betriebswirt und Lehrbeauftragte J. B. kämpft als Quartiermeister eines sozialen Brennpunkts gegen die strukturellen Ursachen der heutigen Wohnmisere. Soziologieprofessoren wie S. L. setzen der Ökonomisierung der Universitäten öffentlich Widerstand entgegen – usw.

5.

Aber Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller und Journalisten werden nicht schon allein durch ihre anerkannten Qualifikationen und Kompetenzen auf ihren jeweiligen Feldern zu Intellektuellen. Erst wenn sie ihre spezifischen Fähigkeiten einsetzen, um für bestimmte Probleme eine nicht auf partielle Interessen beschränkte Lösung zu erreichen, werden sie zu Intellektuellen. Gleichzeitig unterscheiden sie sich vom Typ des Experten, der sich durch seine angebliche Neutralität definiert und seine Funktion erfüllt sieht, wenn er seine Expertise an den Auftraggeber abgeliefert hat. Erst wenn er aus seiner Arbeit den Schluss zieht, sich politisch zu engagieren, wird der Experte zum Intellektuellen.

Intellektuelles Engagement impliziert immer ein universalistisches Moment. Nur wenn zu den professionellen Fähigkeiten von Wissenschaftlern und Kulturproduzenten die Überzeugung und das Bedürfnis hinzutreten, sich an konkreten Punkten – oder wie Foucault sagen würde: „lokal“ – in einer potentiell für alle Menschen vorteilhaften Weise politisch zu engagieren, werden aus Ärzten, Informatikern, Psychotherapeuten, Bildhauern, Journalisten und anderen „Intellektuelle von unten“. Während die traditionellen Großintellektuellen ihre universalistischen Botschaften gleichsam „top down“ verbreiteten, entwickeln die „Intellektuellen von unten“ ihr Engagement „bottom-up“, ausgehend von den Problemen und Konflikten, mit denen sie in ihrer alltäglichen Praxis konfrontiert sind.

6.

Bis in die Gegenwart hinein ist auch die Linke noch immer auf den Typ des außerordentlichen, genialischen Intellektuellen fixiert. Diesen Typ wird es gewiss auch zukünftig immer wieder einmal geben. Aber die Perspektive einer linken Intellektuellenpolitik muss sich in erster Linie auf die „Intellektuellen von unten“ richten, denn sie und nicht einzelne intellektuelle Koryphäen verkörpern vor allem die Vergesellschaftung von Wissenschaft und Kultur und repräsentieren als „kollektive Intellektuelle“, um mit Bourdieu zu sprechen, die dieser Vergesellschaftung immanenten Widersprüche und Kämpfe.