Klassenanalyse und Intelligenz heute

Repolitisierung der Kunst?

von David Salomon
Dezember 2013

Politische Ästhetik

In der Einleitung zu seiner Arbeit über die Entwicklung des Dichters Bertolt Brecht zwischen Früh- und Exilwerk formulierte Herbert Claas 1977 eine prägnante Definition des Begriffs „politische Ästhetik“, an der sich auch heute orientieren kann, wer sich der Frage nach der sozialen Funktion und der politischen Bedeutung von Kunst zuwendet: „Ästhetik systematisiert die Vorstellungen von der rezeptiven und produktiven künstlerischen Aneignung von Wirklichkeit. Politisch ist diese Ästhetik, wenn sie sich der Verhältnisse zwischen Menschen bestimmter Epochen als des Gegenstands der künstlerischen Aneignung bewußt ist, diese Produktion als Spezialfall gesellschaftlicher Arbeit begreift und im realistischen Erkennen und Darstellen antagonistischer Verhältnisse den mittelbaren Beitrag der Kunst zur Entwicklung vernünftigen sozialen Handelns erblickt. Die politische Ästhetik vermittelt folglich die künstlerische Tätigkeit mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen insgesamt und reflektiert deren Anwesenheit in der inneren Organisation der Kunstwerke. Dies vermag sie nur, wenn sie historisch und materialistisch verfährt.“ (Claas 1977, 10) Nimmt man diese Definition zum Ausgangspunkt, so lässt sich festhalten, dass eine politisch-ästhetische Herangehensweise an Kunst (sei es aus der rezeptiven Perspektive des Wissenschaftlers oder Kritikers oder aus der produktiven Perspektive des Künstlers selbst), sich durch das Zusammendenken unterschiedlicher disziplinärer Aspekte auszeichnet: Politische Ästhetik ist weder einfach nur soziologisch – im Sinn etwa einer Ableitung der Bedeutung eines Kunstwerks aus der sozialen Lage des Künstlers oder der Verfasstheit der sozialen Institutionen von Kunstproduktion und -distribution –, noch schlichtweg psychologisch – an den „Wollungen“ des Künstlers orientiert. Sie ist weder bloß ästhetisch – sei es normativ auf einen überzeitlichen „Wert“ (etwa „das Schöne“) orientierend oder philologisch/kunsthistorisch deskriptiv auf die Offenlegung der in einem Kunstwerk sedimentierten „Realien“ (Benjamin 1991a, 25) bedacht – noch nur politisch an etwaigen Proklamationen und Eineindeutigkeiten der Parteinahme im Kunstwerk interessiert. Indem sie – wie Claas es ausdrückt – „die künstlerische Tätigkeit mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen insgesamt“ vermittelt und „deren Anwesenheit in der inneren Organisation der Kunstwerke“ reflektiert, weist sie vielmehr allen genannten Aspekten einen Platz zu, an dem sie ihren spezifischen Beitrag zum Verständnis künstlerischer Produkte leisten können und hiermit auch zum durch Kunst vermittelten Verständnis von sozialer Wirklichkeit.

Politische Ästhetik als wissenschaftlicher Ansatz (oder auch als Ansatz zur Kunstkritik) hat somit keineswegs nur solche Kunstwerke zum Gegenstand, die selbst einem Programm Politischer Ästhetik folgen. Abermals in den Worten von Herbert Claas gesprochen: Die „gesellschaftlichen Voraussetzungen“ künstlerischer Tätigkeit können auch mehr oder weniger adäquat „in der inneren Organisation“ (also der Dramaturgie, der formalen Komposition, den Figuren oder der Fabelführung) von Kunstwerken „anwesend“ sein, deren Produzenten dies keineswegs reflektieren, oder deren politische Haltungen keineswegs auf eine Aufhebung antagonistischer sozialer Verhältnisse zielen (das Paradebeispiel ist hier Marx‘ Lieblingsdichter Balzac). Und umgekehrt kann auch ein explizit politisches, kämpferisches, engagiertes und Partei ergreifendes Kunstwerk schlichtweg an den sozialen Bedingungen und Verhältnissen seiner Epoche vorbeigehen, oder gar (wie manche Lieder Wolf Biermanns) mit scheinbaren Evidenzen soziale Verhältnisse verschleiern, indem sie etwa „Richtiges“ zum „falschen Zeitpunkt“ vortragen[1]. Zudem ist auch die explizit gewollte Abwesenheit sozialer Voraussetzungen, die Beschränkung auf l’art pour l’art oder – im anderen Extrem – die klischeehafte Verkitschung sozialer Beziehungen (etwa des Arzt-Patienten-Verhältnisses in der Schwarzwaldklinik oder der Liebesbeziehungen in den Romanen Rosamundes Pilchers) ein lohnenswerter Gegenstand politisch-ästhetischer Analyse, aus dem so manche Erkenntnis über die hegemonialen Konstellationen einer Epoche gewonnen werden können. Gerade hier erweist sich politisch-ästhetische Kunstkritik zugleich als Gesellschafts- und Ideologiekritik. In einem kleinen ironischen Dialog schreibt Hanns Eisler: „Was produziert in unserer Zeit die Dummheit in der Musik? / Abwendung von, Uninteressiertheit an und Abscheu vor der Politik. / Ist es Ihnen bekannt, Eisler, daß solche Abneigung auch ein politisches Verhalten ist? / Gewiß – und das ist Verfall.“ (Eisler 1976, 260)

Dem ist heute zweierlei hinzuzufügen: Erstens, dass diese Diagnose – im Zeichen einer zunehmend „postdemokratischen“ (Crouch 2008) Öffentlichkeit – beinahe aktueller scheint, als zur Zeit, da Eisler sie stellte; zweitens, dass sie sich ohne größere Probleme auch auf andere Kunstformen übertragen lässt. Nur am Rande sei erwähnt, dass sich „Abwendung von, Uninteressiertheit an und Abscheu vor der Politik“ seit je bestens mit ihrer Ästhetisierung vertrug, wie sie jedem „Bonapartismus“ (Losurdo 2008) eignete und auf deren faschistische Form Walter Benjamin zufolge der Kommunismus einst mit der „Politisierung der Kunst“ antworten sollte (Benjamin 1991b, 508).

Tendenzen der Entpolitisierung

Es spricht viel dafür, die Benjaminsche Entgegensetzung nicht bloß zeitspezifisch auf die historische Konstellation der dreißiger Jahre beschränkt zu lesen, sondern als allgemeinen Anspruch an Kunst unter den Bedingungen antagonistischer Vergesellschaftung. Dabei fällt auf, dass die „Politisierung der Kunst“, also – in der Produktionsperspektive gesehen – die explizite Entdeckung künstlerischer Ausdrucksformen als Erkenntnismittel sozialer Zusammenhänge und zugleich als Mittel und Medium politischen Engagements, Konjunkturen unterliegt: Konnte etwa Friedrich Schiller mit gutem Recht das Theater als moralische Anstalt betrachten – eine Betrachtungsweise, die im „Sturm und Drang“ bekanntlich durchaus eine politische Schlagseite hatte, so kam dem Theater etwa um die Jahrhundertwende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert – dem sozialen Realismus des damaligen Naturalismus zum Trotz – doch weit eher die Funktion der Unterhaltung und Repräsentation bürgerlicher Bildungsschichten zu. Die weitgehende Politisierung der „Schaubühne“ in den zwanziger Jahren, auf die bekanntlich das an pompösen Ästhetisierungen orientierte Nazitheater folgte, und deren Protagonisten (genannt seien nur Brecht und Piscator) prägend für das progressive Theater der Nachkriegszeit blieben, wurde nicht zufällig zum Vorbild der starken Politisierung, die das Theater in den – nicht nur ästhetisch vielfach an die Weimarer Zeit anknüpfenden – 70er Jahren erlebte (genannt seien hier nur die Epocheprägenden Stücke von Peter Weiss). Auch wenn das Theater durch seinen Live-Charakter stets vortrefflich geeignet war, Kristallisationspunkt politischer Öffentlichkeit zu sein, lassen sich ähnliche Bewegungen auch in anderen Gattungen und Kunstformen beobachten. Dass die Kunst sich gerade in den achtziger Jahren zu entpolitisieren begann, muss ebenso wenig überraschen, wie dass die neunziger Jahre – in denen es immerhin noch einen Nachhall politischer Ästhetik durch DDR-Künstler wie Heiner Müller (dessen Medienpräsenz auffallend war) oder Peter Hacks gab – die Tendenz weiter vertieften. In den nuller Jahren schließlich schien künstlerische Tätigkeit – von einigen, freilich bedeutenden Ausnahmen abgesehen – fast gänzlich aufgehört zu haben, Bestandteil demokratischer Öffentlichkeit zu sein. Ingar Solty (2013) verweist zu Recht auf die penetrante Innerlichkeit der so genannten Popliteratur. Zu erwähnen wären in diesem Kontext jedoch auch die Volten eines Regietheaters, das sich eher dadurch auszeichnete, die Schrullen von Regisseuren zu zelebrieren und als psychologische Tiefe ewig-menschlicher Abgründe zu inszenieren, als einen Beitrag zur sozialen Erkenntnis zu leisten. Im selben Maß, in dem demokratische Öffentlichkeit verkümmerte und auf Talkshowniveau zusammenschrumpfte, wurde die „Kunst der Gesellschaft“ (Luhmann) zum autopoietischen Subsystem, um das sich kaum mehr jemand ernsthaft scherte. Auffallend ist in diesem Kontext insbesondere die stetig abnehmende Bedeutung von Skandalen. Um abermals ein Beispiel aus der Welt des Theaters anzubringen: Schon die Aufführung des Fassbinder-Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ unter Intendant Rühle in Frankfurt (1986) zerstörte das bis dahin bestehende linke Monopol, zum Ärgernis zu werden. Was nach ihm an „Skandalen“ folgte, spielte – mit Ausnahme vielleicht der allerdings einer Eventkultur verschriebenen Provokationen Christoph Schlingensiefs – entweder mit Nazisymbolik („Eva Hitlers Geliebte“ BE 1997) oder war manifest rechtskonservativ wie Botho Strauss’ Dramatisierung seines „anschwellenden Bocksgesangs“ zum Odysseus-Stück „Ithaka“ (1996). Die nuller Jahre haben selbst hier wenig zu bieten: Ein „Skandälchen“ löste bestenfalls Daniel Kehlmanns bildungsbürgerliche Empörung über das Regietheater (2009) aus, die mit ihrem Anlass die Belanglosigkeit teilte. Auch wenn es selbstredend auch in dieser Zeit politisch relevante Kunst gab, so fristete sie doch weitgehend ein Schattendasein.

Dabei waren es nicht zuletzt die Künstler selbst, die die Wucht einer neoliberal inspirierten Politik der Einsparungen am eigenen Leib zu spüren bekamen. Wer eine Momentaufnahme der sozialen Situation von Künstlerinnen und Künstlern in der Bundesrepublik aus der jüngeren Vergangenheit sucht, wird in einem Artikel aus dem März 2008 fündig, in dem Wolfgang Lieb einige Zahlen (insbesondere solche aus dem „Abschlussbericht der Enquête-Kommission ‚Kultur für Deutschland‘ des Deutschen Bundestages vom Dezember 2007“) zusammengestellt hat (Lieb 2008). Daraus ergibt sich, dass die Zahl von in Kulturberufen Beschäftigten zwischen 1995 und 2007 von 596.000 auf 797.000 Personen angestiegen ist. Lieb schlüsselt den branchenspezifischen Stand im Jahr 2007 wie folgt auf:

- Design und bildende Kunst: 213.000

- Musik und darstellende Kunst: 202.000

- Literatur und Publizistik: 175.000

- Architekten: 113.000

- Bibliothekare und Museumsfachleute: 66.000

- Kulturspezifische Geisteswissenschaftler: 28.000

Lieb führt aus: „Von den annähernd 800.000 Erwerbstätigen in Kulturberufen waren laut Mikrozensus von 2004 rund ein Drittel oder 337.000 als Selbständige tätig. In der Künstlersozialversicherung sind davon noch einmal weniger als die Hälfte, nämlich rund 153.000 Personen registriert.“ Erschreckend – so Lieb – sei nicht zuletzt die Einkommensstruktur. Er zitiert aus dem Abschlussbericht der Enquête-Kommission: „Die Einkommen der Mehrzahl der in der Künstlersozialkasse Versicherten sind sehr gering. Zum 1. Januar 2007 konnte aufgrund der Vorausschätzungen der Versicherten ein Durchschnittseinkommen von 11.094 Euro im Jahr errechnet werden. Das Einkommen der Künstlerinnen lag mit 9.483 Euro im Jahr noch unter dem der Künstler (Jahresdurchschnittseinkommen 12.452 Euro). Ein solches Jahreseinkommen ist kaum geeignet, davon den Lebensunterhalt zu bestreiten.“ Wie Lieb betont, gehen in diese Durchschnittsangaben sowohl hohe – teilweise, wie sich vermuten lässt, exorbitant hohe – Einkommen als auch niedrige – und, wie sich vermuten lässt, auch hier exorbitant niedrige – Einkommen ein. Dass eine eindeutige Klassen- oder auch nur Schichtenzuordnung von Künstlern somit kaum möglich ist, ist so selbstverständlich wie wenig überraschend. Während auf der einen Seite, um nur bei Schauspielern zu bleiben, hochbezahlte Personen wie Veronika Ferres („Die Frau vom Checkpoint Charlie“) oder Maria Furtwängler („Die Flucht“) sich mit ihren Ehemännern Maschmaier und Burda auf dem Olymp der zwielichtigen Gestalten sonnen können, kratzen insbesondere Schauspieler in der freien Szene der Off-Theater zumeist am Existenzminimum.

Die Rückkehr der Gesellschaft in die Kunst

Wie in anderen Feldern des sozialen Lebens können auch bezogen auf Fragen der Kunst Verelendungstheorien, die einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen eigener prekärer Lage und progressivem Engagement unterstellen, wenig Erklärungskraft beanspruchen. Die eigene soziale Lage – bzw. die soziale Lage der eigenen Berufsgruppe – übersetzt sich erst dann in politisch-soziale Reflexionen, wenn der ästhetische Diskurs selbst sich gegenüber den sozialen Fragen einer Epoche öffnet. Prägnant formulierte dies der Schriftsteller Michael Wildenhain in einem Interview mit Thomas Wagner: „Das große Problem ist letztlich der Rezeptionszusammenhang. Brecht, insbesondere mit seinen Lehrstücken, ist nicht vorstellbar ohne die Situation Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre, ohne eine sehr starke kommunistische Partei und die entsprechenden Publikationsorgane, die sich um sie rankten. Es gab also einen Resonanzraum für die Literatur, aus dem das Echo herausschallte. Heiner Müller ist nicht vorstellbar ohne die DDR. Er wurde zwar auch sehr stark im Westen rezipiert, aber nur vor dem Hintergrund dieses real existierenden Resonanzraumes. Ich glaube, politische Literatur braucht immer diesen Resonanzraum. Wenn dieser schmal und dünn ist wie im Moment, dann wird es schwer.“ (Wildenhain 2010, 118)

Folgt man diesen Überlegungen, die nahe an der von Herbert Claas herausgestellten Bedeutung des Wirkungszusammenhangs liegen, so ist die Frage nach Tendenzen und Chancen einer Repolitisierung der Kunst notwendig an die Frage nach dem Zustand ihres „Resonanzraums“ und somit nach der Struktur gesellschaftlicher Öffentlichkeit gekoppelt. In Ergänzung zu Wildenhain ließe sich auch darauf verweisen, dass in der Bundesrepublik die Bedeutung der Kommunistischen Partei als Kristallisationspunkt politisch-ästhetischer Debatten – nicht zuletzt freilich durch die Existenz eines sozialistischen Machtblocks – gerade in den 70er Jahren auch auf der Basis geringer Mitgliederzahlen und Wahlergebnisse gegeben war. Das Fehlen eines solchen Kristallisationspunktes, der seine Rolle auch für diejenigen spielte, die sich eben durch die Gegnerschaft zu ihm definierten, trägt dazu bei, dass sich derzeit die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Segmenten des intellektuellen Feldes eher bescheiden ausnimmt. Sozialwissenschaftler und Schriftsteller etwa treffen sich heute kaum und es ist nicht immer klar, ob sie sich gegenseitig überhaupt wahrnehmen. Die Ausgangsbedingungen für eine repolitisierte Kunst erscheinen somit nicht unbedingt berauschend. Gleichwohl lassen sich – im Zeichen der Krise – durchaus Anzeichen finden, dass ein neues Interesse von Kulturschaffenden an sozialen Prozessen besteht, das sich zunehmend – wenn auch kleine – Resonanzräume erobert und auch in den Leitmedien stärker vertreten ist als noch vor zehn Jahren.

Zum Abschluss dieses Beitrags möchte ich versuchen, diese These an einigen wenigen Indizien zu verdeutlichen, die allerdings zeigen, in welche Richtung eine systematischere Zusammenstellung gehen könnte: Im Jahr 2010 veröffentlichte der Soziologie Thomas Wagner beim Argument Verlag einen Band mit dem Titel „Die Einmischer – wie sich Schriftsteller heute engagieren“. In insgesamt 20 Gesprächen entfalten darin durchaus unterschiedliche Gegenwartsautoren wie Dietmar Dath, Juli Zeh, Raul Zelik, Michael Wildenhain, aber auch Lyriker und Liedermacher wie Michael Mäde und Kai Degenhardt ihre jeweilige Programmatik politischer Interventionen innerhalb und außerhalb ihrer literarischen Formen. (Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang sicherlich Dietmar Dath, der auch durch seine Tätigkeit für die Frankfurter Allgemeine Zeitung der bekannteste Linke unter den zeitgenössischen Schriftstellern ist.) Bereits 2007 arbeitete Christina Ujma (2007) in Z 70 am Beispiel der Schriftstellerin Tanja Dückers heraus, wie auch bei jenen Literaten der „Generation Golf“, die lange Zeit als Träger einer politik- und gesellschaftsabgewandten Literatur gelten konnten, Anzeichen zur Politisierung zu beobachten sind. Ujma geht nicht nur auf die erinnerungspolitische Kontroverse um Günter Grass’ „Krebsgang“ ein, in die Dückers sich einmischte, sondern auch auf die schroffe Absage der Autorin an einen Engagement-Begriff, der sich in Wahlaufrufen für die SPD erschöpft. Ihren Kollegen, darunter auch die links-libertäre Juli Zeh, die 2005 zusammen mit Grass zur Wahl Gerhard Schröders aufriefen, schleuderte Dückers seinerzeit entgegen: „Nicht mal ein Hauch von Aufbegehren, von der Aufbruchsstimmung, die die Leute früher in Scharen zu den Roten oder den Grünen trieb, hängt in der Luft. Kosovo-Krieg, Hartz IV, Sozialabbau – sie machen mit. Schriftsteller für Hartz IV! – das ist die junge Revolte von heute.“ (Zit. n. Ujma 2007, 53) Doch nicht nur im außerliterarischen Engagement von Schriftstellern, auch in der Literatur selbst lässt sich – wenn auch zaghaft – eine Rückkehr des Gesellschaftlichen oder, was im Prinzip das Gleiche ist, eine Rückkehr des Realismus erkennen. Keineswegs eineindeutig „links“ doch sozial gesättigt ist Jan Brandts Generationsroman „Gegen die Welt“, der im Mikrokosmos eines ostfriesischen Dorfes ein beklemmendes Bild des Übergangs von den achtziger in die neunziger Jahre zeichnet, einschließlich des neuerlich erstarkenden Aufkommens eines Neofaschismus, der sich auf die versteckte faschistoide Grundsolidarität „der Mitte“ verlassen kann. Was Brandts Roman zu einem realistischen macht, ist, dass die Figuren hier als gesellschaftliche Figuren gezeichnet werden und nicht als Gefäße einer verschroben-autistischen Innerlichkeit. Zu den Erscheinungen, die für eine Rückkehr des Sozialen in die Literatur stehen mögen, zählen fraglos auch Enno Stahl (Solty 2013) und – in seinem jüngsten Buch „Johann Holtrop“ – Rainald Götz, der 1983 (ganz im Sinn der damals beliebten Happening-Kultur) von sich reden machte, als er sich während seiner Lesung zum Ingeborg-Bachmann-Preis die Stirn aufritzte und sein Manuskript mit Blut benetzte.

Die Rückkehr des Sozialen und des Politischen lässt sich – wenn auch hier vielleicht noch zaghafter – zugleich im Theater beobachten. Nicht nur in Offtheatern wie dem Freien Schauspiel-Ensemble in Frankfurt, auch in Staatstheatern (etwa in Darmstadt) wurde die Krise zum Anlass einer Wiederentdeckung von Brechts „Heiliger Johanna der Schlachthöfe“. Bereits in den nuller Jahren inszenierte die Projektgruppe Rimini-Protokoll das „Kapital“ von Marx. Im vergangenen Jahr brachte das Theater Willy Praml in Frankfurt – zugegebenermaßen ein kleines Off-Theater – mit „Marx. Engels. Hennes & Mauritz“ gleichfalls ein Projekt zur Aufführung, das die Aktualität Marxscher Kategorien im Licht neuerer sozialer Bewegungen erprobte, während sich das Theater Görlitz mit der Oper „Tod eines Bankers“ von Fabian Scheidler und Andreas Kersting unmittelbar den Folgen der Weltwirtschaftskrise zuwandte; das Nationaltheater Mannheim brachte mit seiner Inszenierung des „Ratgebers für den intelligenten Homosexuellen zu Kapitalismus und Sozialismus mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ einen der vielleicht prominentesten sozialistischen Dramatiker des amerikanischen Gegenwartstheaters, Tony Kushner, zur Aufführung. Zu verweisen wären auch auf Arbeiten René Polleschs, die – wenn auch mitunter in hermetischer Form – gleichfalls als Versuche der Repolitisierung des Theaters gedeutet werden können. Schließlich fällt zudem auf, dass – wie unbeholfen auch immer – selbst die für politisches Engagement nicht eben berühmte Kasseler Kunstaustellung dokumenta, im vergangenen Jahr einige Arbeiten vorzuweisen hatte, die sichtlich nach politischen Ausdrucksmöglichkeiten suchten.

All dies sind Einzelbeispiele, gegen die eingewandt werden kann, dass sie – zumal sie in höchst unterschiedlich ausgereifter Form auftreten – keineswegs die politisch-ästhetische Öffentlichkeit der zwanziger oder auch der siebziger Jahre erreichen. Gleichwohl deuten sie auf ein wachsendes Interesse an politischer Ästhetik von Seiten künstlerischer Produzenten hin, das nicht vorschnell als unerheblich beiseite gewischt werden sollte.

Literatur

Benjamin, Walter (1991a), Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders. Schriften I.1., Frankfurt/Main

Benjamin, Walter (1991b): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Schriften I.2., Frankfurt/Main

Claas, Herbert (1977): Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Caesar, Frankfurt/Main

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt/Main

Eisler, Hanns (1976): Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig

Lieb, Wolfgang (2007): Arm – aber frei? Zur sozialen Situation von Künstlerinnen und Künstlern, www.nachdenkseiten.de (7. 3. 2007; Zugriff am 19. 4. 2013)

Losurdo, Domenico (2008): Bonapartismus oder Demokratie, Köln

Solty, Ingar: Enno Stahl (2013) Die Tragödie des Leistungsträgers Enno Stahls Beitrag zur Literatur der Arbeitswelt im Neoliberalismus im Kontext des neuen sozialen Realismus, Manuskript, – vorauss. In Z. Nr. 101; siehe auch: ders.: Ein Mensch brennt aus – Enno Stahls Roman „Winkler, Werber“, in: junge Welt am 24. Juni 2013, S. 10/11

Ujma, Christina (2007): Die Schriftstellerin Tania Dückers und die Rolle der Politik in der jungen deutschen Literatur; in: Z 70, Juni 2007, S. 44-55

Wagner, Thomas (2010): Die Einmischer, Hamburg

Wildenhain, Christoph (2010), Politische Literatur braucht einen Resonanzraum, in: Thomas Wagner: Die Einmischer, Hamburg, S. 44-55

[1] So wäre ein Lied, das 1914 vorgebracht hätte „Soldaten sind sich alle gleich/lebendig und als Leich“ unter dem Gesichtspunkt politischer Ästhetik etwas grundsätzlich anderes als ein diesen Vers enthaltendes Lied aus der Zeit nach 1945.

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