„Marx spricht die Arbeiter
mit einem neuen Namen an:
als Proletarier (nicht als Proletariat).“
Bertolt Brecht
Als Gesine Lötzsch, die damalige Vorsitzende der Partei ‘Die Linke’, sich vor knapp zwei Jahren auf eine Diskussion um „Wege zum Kommunismus im 21. Jahrhundert“ einließ, war die Aufregung überall in Deutschland groß. Nie wieder Kommunismus! So oder so ähnlich lautete die weit überwiegende Reaktion auf ihren Diskussionsbeitrag in der Zeitung ‘junge Welt’. Nur Wenige wagten dagegen einzuwenden, dass zwei Jahrzehnte nach dem Untergang der sich selbst als ‘realsozialistisch’[1] bezeichnenden sozio-politischen Regime in der ‘Sowjet-Union’ und in Mittel-Osteuropa eine Diskussion über den Kommunismus immer noch lohnenswert wäre. Die Tatsache, dass der Kommunismus ein uralter Menschheitstraum ist, reicht natürlich ebenso wenig aus wie etwa die Hoffnung auf ‘Wege ins Paradies’[2], um den Sinn dieser Diskussion heute zu rechtfertigen. Vielmehr müsste man zeigen können, dass die ‘konkrete Utopie’ einer Gesellschaft, in der die Menschen in produktiver Gemeinschaft frei, gleich, solidarisch und friedvoll miteinander leben, heute realistischer begründet ist als je zuvor in der Geschichte. Zumindest wäre dies ein Thema, welches auch in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts erneut aufzugreifen und zu debattieren sich lohnte[3]; zumal der real existierende Kapitalismus sich gegenwärtig weltweit in einer tiefen sozial-ökonomischen, politischen und kulturellen Krise befindet, aus der ein systemimmanenter Ausweg sich kaum abzeichnet.
„Individuum“ und „Individualismus“
Bevor jedoch sinnvoll über ‘Wege zum Kommunismus’ diskutiert werden kann, müsste ein gewisser Konsens über das Ziel[4] erreicht sein, d.h. darüber, was unter ‘Kommunismus’ zu verstehen sei. Allerdings, schon dieses eingeschränkte Thema ist ein weites Feld; und hier kann selbst davon nur ein kleiner, m. E. aber zentraler Aspekt aufgegriffen werden, der zur Klärung des Begriffs ‘Kommunismus’[5] beitragen könnte. Ich meine, dass die Vorstellung, die sich Marx und Engels[6] vom ‘Kommunismus’ machten, immer noch allzu ungenau rezipiert worden sind. Zumeist beruft man sich dabei auf einige wenige ‘Stellen’ im Werk dieser Klassiker, und lange Zeit blieben selbst diese Stellen unverstanden oder missverstanden. Man erinnere sich an das ebenso ehrenwerte wie zugleich bestürzende Bekenntnis des in der DDR hoch dekorierten Schriftstellers Stephan Hermlin, er habe das berühmte Diktum aus dem Kommunistischen Manifest, wonach der Kommunismus eine Assoziation sei, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, immer und immer wieder andersherum gelesen, dass nämlich die freie Entwicklung ‘aller’ die Bedingung für die Befreiung eines jeden Einzelnen sei – oder, grob gesagt, wie es wohl auch in der DDR zumeist verstanden wurde, dass die Entwicklung des Kollektivs Vorrang gegenüber der des Individuums genieße. Eine andere – als diese, den Wortlaut des Kommunistischen Manifests auf den Kopf stellende – Lesart galt als ’bürgerlicher Individualismus’. So hieß es etwa in dem repräsentativen ‘Philosophischen Wörterbuch’ unter dem Lemma ‘Individualismus’: „In der sozialistischen Gesellschaft, auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln, der moralisch-politischen Einheit des ganzen Volkes und der grundsätzlichen Übereinstimmung der gesellschaftlichen, kollektiven und individuellen Interessen sowie der neuen, gleichberechtigten und verantwortlichen sozialen Stellung des Individuums verliert der bürgerliche Individualismus die sozialen Grundlagen seiner Entwicklung und Wirksamkeit und wird der sozialistische Kollektivismus mehr und mehr zur bestimmenden Denk- und Verhaltensweise der Menschen. Die theoretische Überwindung des Individualismus hat der historische Materialismus vollzogen.“[7]
Bekanntlich haben Marx und Engels, vor allem in der ‘Deutschen Ideologie’, den radikal-egoistischen Individualismus Max Stirners[8] einer ausführlichen Kritik unterzogen. Tatsächlich hatte Stirner das seit Mitte des 17. Jh. praktisch und theoretisch (Theorie des Gesellschaftsvertrags von Hobbes bis Rousseau, des individuellen Nutzens bei Bentham, im Utilitarismus etc.) sich durchsetzende Prinzip des liberalen Individualismus[9] nur radikalisiert und auf eine fast absurde Spitze getrieben. Insofern ist die Behauptung, der historische Materialismus habe den abstrakten, bürgerlichen Individualismus überwunden, grundsätzlich berechtigt. Aber die These, wonach der bürgerliche Individualismus[10] im Sozialismus/Kommunismus durch einen Kollektivismus überwunden werde, ist eine Vorstellung, die Marx und Engels nach meiner Auffassung kaum weniger heftig kritisiert hätten. Denn es ging ihnen in ihren Aussagen zum Kommunismus gerade nicht darum, die Gesellschaft oder Gemeinschaft – das Kollektiv – gegen die Individuen – oder auch umgekehrt – auszuspielen, vielmehr versuchten sie, das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Kommunismus als einer gegenüber der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft höher entwickelten Formation historisch-praktisch und begrifflich neu zu bestimmen und zwar derart, dass darin der abstrakte Gegensatz beider Pole dialektisch, im Sinne von ‘aufgehoben’, überwunden wird.[11]
Marx und Engels waren in keiner Weise – weder weltanschaulich noch methodisch oder normativ[12] – Individualisten[13], schon gar keine ‘Besitzindividualisten’ wie die politischen Philosophen und Ökonomen des 17. und 18. Jh.[14] Aber sie waren ebenso wenig Kollektivisten, wie es zumeist von radikalen Gegnern des Marxismus behauptet wird. Dabei stützen letztere sich gelegentlich auch auf Äußerungen von Autoren aus den ehemaligen ‘realsozialistischen’ Ländern, u.a. auch aus der DDR, die sich bei der These vom Primat der Kollektivität im Kommunismus aber keineswegs auf Marx oder Engels berufen können.[15]
Was Marx’ Begriff des Kommunismus gegenüber diesen einseitigen, sich wechselseitig ausschließenden Interpretationen auszeichnet, ist die gleichzeitige und gleichgewichtige Verbindung von freier Assoziation und freier Individualität. Die Individuen können sich als isolierte Individuen nicht wirklich befreien, da sie als solche stets in feindlicher, konkurrierender – oder um den Philosophen verständlicher zu bleiben in ´entfremdeter´ – Abhängigkeit von einander, also im ´Krieg aller gegen Alle´ (Hobbes) und damit letztlich in Unfreiheit verbleiben. Wirklich frei werden sie demnach nur in der Assoziation, der freiwilligen Vereinigung mit anderen Individuen, in der die unterschiedlichen Individualitäten sich wechselseitig betätigen und in dieser Tätigkeit zugleich entfalten können. Dies ist das Grundthema und das Endziel von Marx Untersuchungen der Geschichte progressiver Gesellschaftsformationen.
Nicht Robinson[16] auf seiner ‘lichten Insel’ – wie bei den klassischen Ökonomen und den methodologischen Individualisten noch heute – , sondern in „Gesellschaft produzierende Individuen“[17] bilden die Voraussetzungen von Marx kritischer Untersuchung der verschiedenen Produktionsweisen und der darauf basierenden Gesellschaftsformationen. Dabei kommt es ihm aber vor allem darauf an, die historisch bestimmten Formen der Beziehungen zwischen den Individuen, und dabei wiederum zunächst und grundlegend in der Produktion (und damit auch in ihrem Verhältnis zur Natur bzw. der von ihnen bearbeiteten Natur, d.i. den Produktionsmitteln) und von dort aus aufsteigend, die übrigen Formen des gesellschaftlichen Lebens zu analysieren.
Dass diese Problematik weiterhin umstritten ist, liegt u.a. daran, dass viele Aussagen von Marx zum Kommunismus, soweit ich sehe, noch immer nicht systematisch ausgeschöpft sind[18] oder erneut zu lesen, ältere Lesarten kritisch zu rezipieren wären; auch das kann hier nicht erschöpfend versucht werden. Ich werde mich im Folgenden, nach einigen weithin bekannten Äußerungen von Marx und Engels, vor allem auf den Text der ’Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie’ (1857/58) stützen, ein Text, der in vieler Hinsicht – auch und gerade in Bezug auf den hier zu thematisierenden Aspekt im Marxschen Verständnis des Kommunismus – m. E. bisher allzu sehr vernachlässigt wurde[19], enthält er doch aufschlussreiche Formulierungen zur Dialektik von Individualität und Kollektivität in der Abfolge der historischen Gesellschaftsformationen.[20]
Ich hoffe, dabei auch wenigstens ansatzweise, denn mein Focus soll ja mit den ‘Grundrissen’ vor allem auf einem Werk aus Marx’ mittlerer Schaffensperiode liegen, zeigen zu können, dass sich seine Auffassungen – vielleicht trifft dies für Engels nicht im gleichen Maße zu (?) – in dieser spezifischen Frage von den frühesten Äußerungen in den ‘Pariser Manuskripten’ (1844) über die ‘Deutsche Ideologie’ (1845/46) und das ‘Kommunistische Manifest’ (1848) bis in das ‘Spätwerk’ hinein, bei allem Fortschritt in der wissenschaftlich begründeten Einsicht in die ‘Natur’ der gesellschaftlichen Produktionsweisen der Menschen, in der grundsätzlichen Orientierung – z.B. auch in der kritischen Haltung gegenüber einem ’rohen’ Gleichheitskommunismus – nicht oder nur wenig verändert haben.[21]
„… die volle und freie Entwicklung jedes Individuums …“
Martin Hundt hat mir den entscheidenden Hinweis geliefert, der mich dazu angeregt hat, dieser vernachlässigten Fragestellung nachzugehen. In seinem Beitrag zum Lemma ‘Sozialismus/Kommunismus’ für die ‘Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften’[22] zitiert er den Entwurf einer Antwort von Engels an den italienischen Sozialisten Giuseppe Canepa. Canepa hatte Engels gebeten, ein Motto für eine zu gründende sozialistische Zeitschrift ‘L’Era nuova’ (Neue Zeit), vorzuschlagen, in dem in kurzer Form die Grundidee der kommenden sozialistischen Epoche ausgedrückt werden sollte, im Unterschied zur alten Epoche, die von Dante einst mit den Worten, dass ‘die einen herrschen, und die andern leiden’, charakterisiert worden war.[23] Engels hatte dazu folgende Antwort entworfen – warum sie nicht abgesandt wurde, oder ob sie in einer anderen Form doch an Canepa ging, ist (mir) nicht bekannt: „Ich habe versucht, in den Werken von Marx für Sie ein Motto zu finden, … , er erscheint mir der einzige von den modernen Sozialisten zu sein, den man dem großen Florentiner zur Seite stellen kann. Ich habe jedoch nichts finden können als den folgenden Satz aus dem ‘Kommunistischen Manifest’…“[24] – und nun zitiert Engels aus der italienischen Ausgabe des KM den eingangs erwähnten Satz: „Anstelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Dass Engels damit tatsächlich den Kern der Marxschen Auffassung vom Kommunismus getroffen hat, belegt u.a. das folgende Zitat aus ‘Kapital’ Bd. 1, wo Marx „die volle und freie Entwicklung jedes Individuums“ als das Grundprinzip der der kapitalistischen Produktionsweise folgenden „höheren Gesellschaftsform“ bezeichnet.[25]
Da es hier vorrangig um dieses Grundprinzip geht, sollen die allgemeinen Merkmale einer kommunistischen Gesellschaftsformation – die also mehr oder minder auch in der sog. urkommunistischen Gesellschaft[26] vorhanden waren – nicht näher untersucht werden, so z.B. nicht die Formen des gemeinsamen Eigentums (Familien-, Stamm-, Dorfeigentum etc., später genossenschaftliches, staatliches Eigentum und verwandte Formen)[27] und der gemeinschaftlichen Arbeit, der Arbeitsteilung (etwa nach Alter und Geschlecht, die ‘indische Dorfgemeinschaft’ kennt schon die ‘berufliche’ Differenzierung!) und der Verteilung des gemeinsam erzeugten Produkts – jedenfalls sofern sie nicht als spezifisch für die ‘höhere’ Form der kommunistischen (Zukunfts)Gesellschaft gelten müssen.[28] Was hier also zunächst[29] interessiert ist vor allem das Verhältnis der Individuen zueinander in einer klassenlosen (!) Gesellschaft, die also auf dem Prinzip der Gleichheit hinsichtlich der erwähnten allgemeinen Merkmale des Kommunismus beruht. Aber die Individuen wären keine Individuen, wenn sie alle gleich wären.[30] Daraus ergibt sich die scheinbar paradoxe Schlussfolgerung, dass die kommunistische Gleichheit die individuelle Eigenart eines jeden nicht nur bestätigt, sondern mit der „vollen und freien Entwicklung jedes Individuums“ die Unterschiede der Individuen noch befördert. Insofern konnte sich Ernst Bloch mit Recht auf Marx berufen, wenn er formulierte, dass „die klassenlose Gesellschaft so individuell sein kann wie keine bisher (…) und gleichzeitig so kollektiv wie keine bisher: denn sie ist keines von beiden“.[31]
Die Auflösung dieser scheinbaren Paradoxie kann offenbar nur gelingen, wenn man Marx’ Verständnis von Individuum und Individualität in ihren sozial-historischen Entwicklungsformen und daher in ihrem Verhältnis zur jeweiligen Form der Kollektivität (Gemeinschaft) näher untersucht. Dabei erweist es sich – was hier nur angedeutet werden kann –, dass Marx anfängliche Skepsis gegenüber dem Begriff der Individualität später von einer differenzierten, und zwar vor allem historisch differenzierteren Betrachtung abgelöst, oder sagen wir besser: überwunden wird. So wie es keine gleichsam fix und fertige ahistorische Natur des Menschen (als Gattungswesen) gibt, so auch nicht die der menschlichen Individuen. Schon in den Feuerbach-Thesen hält Marx fest: „…das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“.[32] Das darf nun aber keineswegs dahingehend interpretiert werden, dass die Individuen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen identifiziert würden, vielmehr bedeutet Marx’ These, dass die Möglichkeit der Entfaltung menschlicher Individualität von den jeweils historisch sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse abhängen.[33] Lucien Sève konstatiert – unter Verweis auf Marx’ ‘Grundrisse’: „Marx ist der erste, der die entwickelte menschliche Individualität wirklich als ein Produkt der Geschichte verstanden hat …“[34] und fährt fort: „Deshalb aber haben weder Marx noch die Marxisten jemals dafür gehalten, daß die Individualität dazu bestimmt sei, mit dem Kapitalismus zu verschwinden. Dessen historisch vorübergehender Charakter kommt ganz im Gegenteil deutlich in seiner Unfähigkeit zum Ausdruck, diese voll bei allen Menschen zu entwickeln. Die modernen Produktivkräfte zwingen dazu, ‘das Teilindividuum, den bloßen Träger einer Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum (zu ersetzen)’ ...; dies setzt den Übergang zu einer kommunistischen Gesellschaft voraus, ‘der einzigen, worin die originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist’…“.[35]
„Der Mensch vereinzelt sich erst durch den historischen
Prozess“[36]
Im Vorwort zur ‘Kritik der politischen Ökonomie’ (1859) unterscheidet Marx ‘in großen Umrissen’ asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation.[37] Auffällig ist, dass die ‘Urgesellschaft’ hier nicht erwähnt wird, vermutlich, weil Marx sie nicht für eine ‘progressive’, sondern für eine statische Gesellschaftsformation hielt, worauf u.a. auch ihre vergleichsweise lange Dauer hinweist.[38] Tatsächlich war Marx die Existenz von ursprünglichen Gesellschaften (etwa in der Form von ‘Stämmen’) auf der Basis gemeinsamen Eigentums an den Produktionsmitteln (hier vor allem Grund und Boden) längst bekannt.[39] In den Vorarbeiten zur ‘Kritik’, die unter dem Titel ‘Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie’ veröffentlicht worden sind, geht Marx auf diese Form gesellschaftlicher Arbeit auf der Basis von gemeinschaftlichem Eigentum näher ein:
„In der ersten Form dieses Grundeigentums – erscheint zunächst ein naturwüchsiges Gemeinwesen als erste Voraussetzung. Familie und die im Stamm erweiterte Familie oder durch intermarriage zwischen Familien, oder Kombination von Stämmen. … Die naturwüchsige Stammgemeinschaft oder, wenn man will, das Herdenwesen ist die erste Voraussetzung – die Gemeinschaftlichkeit in Blut, Sprache, Sitten etc. – der Aneignung der objektiven Bedingungen ihres Lebens und der sich reproduzierenden und vergegenständlichenden Tätigkeit desselben (Tätigkeit als Hirten, Jäger, Ackerbauer etc.).
Die Erde ist das große Laboratorium, das Arsenal, das sowohl das Arbeitsmittel wie das Arbeitsmaterial liefert wie den Sitz, die Basis des Gemeinwesens. Sie verhalten sich naiv zu derselben als dem Eigentum des Gemeinwesens und des in der lebendigen Arbeit sich produzierenden und reproduzierenden Gemeinwesens. Jeder einzelne verhält sich nur als Glied, als member dieses Gemeinwesens als Eigentümer oder Besitzer.“[40]
Individualitätsentwicklung und Gesellschaftsformationen
Da es uns hier nicht primär um das Verhältnis der Individuen zur Natur bzw. den produzierten Produktionsmitteln geht, sondern um die Entwicklung der Individualität, d.h. vorrangig um das Verhältnis der Individuen zueinander, so ist zunächst festzuhalten, dass Marx die Individualität (d.i. die Besonderheit) des Einzelnen in dieser ursprünglichen Form von Gesellschaft als ausschließlich über das Gemeinwesen vermittelt ansieht. Um es in der hegelianisierenden Sprache, die Marx hier durchaus noch nicht ganz abgelegt hat, auszudrücken: Das Individuum ist hier nur ‘an sich’ (naturhaft im Gemeinwesen ’verwurzelt’), und noch nicht ‘für sich’, d.h. noch nicht ‘selbstbewusst’ vorhanden. Klar drückt dies Marx in der später geschriebenen ‘Einleitung’ zu den ‘Grundrissen’ aus: „Je tiefer wir in der Geschichte zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das produzierende Individuum, als unselbständig, einem größren Ganzen angehörig: erst noch in ganz natürlicher Weise in der Familie und der zum Stamm erweiterten Familie; später in dem aus dem Gegensatz und Verschmelzung der Stämme hervorgehenden Gemeinwesen in seinen verschiednen Formen.“[41]
Insofern Marx die ‘freie Entwicklung’ der Individualität in den verschiedenen Gesellschaftsformationen zum Kriterium ihrer ‘Progressivität’ macht, wird hier noch einmal deutlich, warum er die ´Urgesellschaft´ im ‘Vorwort’ von ‘Zur Kritik …’ nicht zu den vier progressiven Formationen zählt.[42] Nach dieser Interpretation müsste sich nun freilich umgekehrt zeigen lassen, dass nach Marx die dort genannten Formationen auch und gerade hinsichtlich der Entwicklung zur Individualität als progressiv angesehen werden können. Das erfordert allerdings eine dialektisch differenzierte Betrachtung der Kategorie ‘Individualität’ als ein historisches Produkt.
In weltgeschichtlicher Perspektive fasst Marx diesen Entwicklungsprozess wie folgt zusammen:
„Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit, auf sachlicher Abhängigkeit gegründet, ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse und universeller Vermögen bildet. Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe. Die zweite schafft die Bedingungen der dritten. (Hervorh. – WG) Patriarchalische, wie antike Zustände (ebenso feudale), verfallen daher ebensosehr mit der Entwicklung des Handels, des Luxus, des Geldes, des Tauschwerts, wie die moderne Gesellschaft in gleichem Schritt mit ihnen emporwächst.“[43]
Vorkapitalistische Gesellschaftsformationen
Marx belässt es in den ‘Grundrissen’ aber keineswegs bei diesem vergleichsweise grob wirkenden (dialektischen?) Schema. Vielmehr betrachtet er die einzelnen Etappen des Prozesses genauer. Die Auflösung – Marx spricht gelegentlich auch von ‘Zersetzung’ – der ursprünglichen, ‘substantiellen’[44] Gemeinschaft der Individuen erfolgte nur sehr allmählich. In der frühen ‘asiatischen Produktionsweise’ ist das Gemeinwesen als Zusammenfassung vieler kleiner (Dorf- oder Stammes-)Gemeinschaften durch einen formell einzigen und übergeordneten Eigentümer, den „Despoten als dem Vater der vielen Gemeinwesen“[45] repräsentiert. Faktisch aber existiert das „Stamm- oder Gemeindeeigentum“ weiterhin als die Grundlage des Systems. „Die gemeinschaftlichen Bedingungen der wirklichen Aneignung durch die Arbeit, Wasserleitungen, sehr wichtig bei den asiatischen Völkern, Kommunikationsmittel etc. erscheinen dann als Werk der höhren Einheit – der über den kleinen Gemeinden schwebenden despotischen Regierung.“[46] Gewissermaßen als Kompensation gehört ein Teil der gemeinsamen Arbeit der höheren Gemeinschaft, „die zuletzt als Person existiert, und diese Surplusarbeit macht sich geltend sowohl im Tribut etc. wie in gemeinsamen Arbeiten zur Verherrlichung der Einheit, teils des wirklichen Despoten, teils des gedachten Stammwesens, des Gottes.“[47] Obwohl Marx hier von nur einer Person (Despot oder Gott bzw. göttlichem Despoten) spricht, versteht es sich von selbst, dass in diesem System eingeschlossen sind eine relativ große Zahl von Helfern des Despoten (als Geometer, Baumeister und Verwalter des Bewässerungssystems, Eintreiber des Tributs, als Priester, Tänzerinnen etc.), die von unmittelbarer (körperlicher) Subsistenzarbeit befreit sind und sich z.T. kulturell ‘höheren’, geistigen (wissenschaftlichen, künstlerischen) Tätigkeiten widmen können. Wir haben es hier zunächst noch mit einer Proto-Klassengesellschaft zu tun, die freilich schon für die Individuen eines Teils der Gesellschaft nicht nur einen in der Regel höheren Anteil des materiellen Reichtums sondern auch einen höheren Freiheitsgrad zur Entfaltung ihrer individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten bietet und insofern gegenüber der Stellung der Individuen in der ‘Urgesellschaft’ einen relativen Fortschritt darstellt – zu dem, was Marx und Engels später (im Anschluss an Morgan) ‘Zivilisation’ nannten, zu deren bedeutendsten kulturellen Leistungen neben der Schrift auch der Staat, das Recht u.a. gehören.
Marx zeigt nun, was hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann, wie die Befreiung von knechtender, zumeist körperlicher Arbeit für einen – allerdings in der Regel mit dem Fortschritt der Produktivkräfte wachsenden – Teil der Gesellschaft, den ökonomisch und politisch herrschenden Klassen in der antiken und feudalen Produktionsweise, eine weitere Steigerung der individuellen Fähigkeiten für die Angehörigen dieser Klassen zur Folge hat – was beispielsweise an den großen kulturellen Leistungen der Antike feststellbar ist. Freilich waren die antike Freiheit und Individualität, die nicht zuletzt auf der Verfügung über privates Eigentum basierten – von den entsprechenden modern-bürgerlichen Formen grundsätzlich verschieden, denn sie unterstellten „auch das Gemeinwesen als erste Voraussetzung, aber nicht wie im ersten (‘urgesellschaftlichen’ – WG) Fall als Substanz, von der die Individuen bloß Akzidenzen sind“, sondern sie unterstellten „die Stadt als schon geschaffnen Sitz (Zentrum) der Landleute (Grundeigentümer). Der Acker erscheint als Territorium der Stadt“ und das private Eigentum an Grund und Boden ist vermittelt durch das „Sein“ des Eigentümers „als Staatsmitglied, durch das Sein des Staats – daher durch eine Voraussetzung, die als göttlich etc. betrachtet wird“[48] – die aber spätestens in der demokratischen Phase Athens als bewusste Assoziation von freien und gleichen Eigentümern als Staatsbürger begriffen wurde.[49]
Gleichzeitig bedeutet aber dieser Fortschritt in der antiken Gesellschaftsformation für die nach wie vor zu harter, ggf. zu härterer Arbeit verpflichteten armen und zumeist auch eigentumslosen, d.h. ‘unfreien’ Klassen einen Verlust an Individualität, insofern sie nämlich nun von der sie einschließenden Gemeinsamkeit als Staatsbürger getrennt, nicht nur ihre eigene, zumeist kümmerliche Subsistenz sichern, sondern zugleich auch die z.T. aufwendige materielle Existenz der herrschenden Klassen mit ihrer (körperlichen) Arbeit unter Preisgabe jeglicher individueller Autonomie (als Sklaven, Leibeigene etc.) gewährleisten müssen.
Bürgerliche Gesellschaft
Diese eigentümliche Dialektik des Fortschritts innerhalb von Gesellschaften, die in Klassen gespalten sind, erreicht nun nach Marx in der modern bürgerlichen Gesellschaft ihren Höhepunkt. Dabei ist zunächst einmal zu bemerken, dass die von Marx historisch-empirisch konstatierte Fortschrittsdialektik keinem einheitlichen Schema folgt[50], sondern im Übergang von der ‘Urgesellschaft’ zur ‘asiatischen’ und dann zur ‘antiken’ Produktionsweise vorzüglich die herrschenden Klassen betrifft, während der Übergang zum Feudalismus einen (begrenzten aber signifikanten) Fortschritt für die Masse der arbeitenden Unterklasse(n) bedeutet, die von einem Verlust an kulturell-zivilisatorischen Leistungen der feudalen Oberklasse im Verhältnis zur Antike begleitet ist. Ähnlich widersprüchlich verhält sich der Fortschritt in Bezug auf die Individualität beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus.
Eines der wesentlichen Merkmale der bürgerlichen Produktionsweise ist die dafür notwendige Existenz des ‘freien Lohnarbeiters’. Wie Marx festhält, ist dessen Freiheit aber doppelt bestimmt: er ist frei von allen persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, wie sie für die vorbürgerlichen Klassengesellschaften charakteristisch waren, insbesondere ist er weder Sklave noch Leibeigner[51] – auch nicht ein vom Meister abhängiger Lehrling oder Zunftgeselle[52] – und der oder besser die Lohnarbeiter erkämpfen sich im Rahmen der neuen bürgerlichen Verhältnisse eine Reihe weiterer sozialer und politischer Rechte, etwa die Begrenzung der Arbeitszeit, die Koalitionsfreiheit, das Wahlrecht usw., sowie gewisse soziale Sicherheiten, die ihre Existenz gegen Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit aus Krankheits- oder Altersgründen absichern sollen. Aber er ist auch ‘frei’ von den seine Existenz sichernden Beziehungen wie ‘naturwüchsigen’ oder patriarchalischen Bindungen an die Gemeinschaft (Familie, Stamm, Grundherr, Zunft etc.) und vor allem ‘frei’ von persönlichem Eigentum an den objektiven Verwirklichungsbedingungen seiner Arbeit, den Produktionsmitteln. Diese negative Freiheit, d.h. die spezifische ‘Eigentumslosigkeit’ des Lohnarbeiters, der nichts besitzt außer seiner Arbeitskraft, macht ihn zugleich sachlich abhängig von den wechselvollen Verhältnissen des Arbeitsmarktes, den Verwertungsbedingungen und -interessen des Kapitals.
Schon der Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verlief für die arbeitenden Klassen dramatisch. „Wenn z.B. die großen englischen Grundeigentümer ihre retainers [Dienstmannen] entließen, die mit ihnen das surplus produce des Landes aufzehrten; ferner ihre Pächter die kleinen Häusler verjagten etc., so war damit erstens eine Masse lebendiger Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt geworfen, eine Masse, die in doppeltem Sinn frei war, frei von den alten Klientel- oder Hörigkeitsverhältnissen und Dienstverhältnissen und zweitens frei von allem Hab und Gut und jeder objektiven, sachlichen Daseinsform, frei von allem Eigentum; auf den Verkauf ihres Arbeitsvermögens oder auf Bettel, Vagabundage und Raub als die einzige Erwerbsquelle angewiesen. Daß sie das letztere zuerst versuchten, von diesem Wege aber durch Galgen, Pranger, Peitsche auf den schmalen Weg zum Arbeitsmarkt getrieben wurden – wo also die Regierungen, f.i. [z.B.] Henry VII, VIII etc. als Bedingungen des historischen Auflösungsprozesses und als Hersteller der Bedingungen für die Existenz des Kapitals erscheinen – ist geschichtlich konstatiert.“[53]
Die spezifische historisch-progressive Leistung der kapitalistischen Bourgeoisie[54] besteht demnach in der beständigen technischen Entwicklung der Produktivkräfte (vgl. Komm. Manifest) bis zu dem Punkt, dass sie sich als herrschende Klasse selbst objektiv überflüssig macht. „Nur soweit der Kapitalist personifiziertes Kapital ist, hat er einen historischen Wert und jenes historische Existenzrecht, das, wie der geistreiche Lichnowski sagt, keinen Datum nicht hat. Nur soweit steckt seine eigne transitorische Notwendigkeit in der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. … Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist.“[55]
Insofern – wie Marx immer wieder betont – ‘freie Zeit’ (Muße) eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Entfaltung von Individualität darstellt, führt der kapitalistische Verwertungsfanatismus jedoch im Fortgang der kapitalistischen Akkumulation bis zu dem fast völligen Verlust an selbstbewusster Individualität, Freiheit und Autonomie auf Seiten des Lohnarbeiters.[56] Dies ist der Hauptgrund, warum Marx dem Kampf um den Arbeitstag, d.i. dem Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit des Lohnarbeiters, in seinen theoretischen Arbeiten (insbesondere im ‘Kapital’) und in seiner praktisch-politischen Arbeit (etwa in der ‘Internationalen Arbeiter-Assoziation’) einen so herausragenden Stellenwert beimisst.[57] Dazu müssen – wie Marx, die Sprache der kapitalistischen Bourgeoisie ironisierend, betont – „die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.“[58]
***
Nachbemerkung zu Teil I: Teil II dieses Beitrags erscheint in Z 97 (März 2014). Er behandelt die eingangs aufgeworfene Frage, inwiefern Marx’ Kommunismusvorstellungen unter den sozial-ökonomischen und technologischen Bedingungen des heutigen High-Tech-Kapitalismus neue Aktualität erlangen könnten. Denn: „… wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechende Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.“
Eine kritische Auseinandersetzung mit ‚postmodernen’ Kommunismuskonzeptionen ist für später geplant.
[1] Die Formel vom ‘real existierenden Sozialismus’ soll von Erich Honnecker auf der 9. Tagung des ZK der SED im Mai 1973 zum ersten Mal benutzt worden sein. Quelle: Wikipedia. Die ‘quasi-offizielle’ Bezeichnung ‘Sozialismus’ für die von Marx unterschiedene erste Phase einer „kommunistische(n) Gesellschaft … wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht“ und „also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft“, geht vermutlich auf Lenins ‘Staat und Revolution’ zurück. Vgl. LW 25, 485.
[2] Vgl. André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983. Gorz bemühte sich freilich, den spektakulären Titel mit einem gewissen (optimistischen) Realismus zu fundieren. Im Untertitel wurden „Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit“ angekündigt, die dazu dienen sollten, die Krise nicht nur zu verstehen, sondern auch „von links zu überwinden“. Das Echo auf diese frühe Reaktion auf die ‘mikrotechnische Revolution’ blieb auf längere Frist allerdings gering.
[3] Dabei denke ich zunächst weniger an das, was in den letzten Jahren als ‘postmoderner’, gelegentlich auch als ‘postmarxistischer’ Kommunismus (Badiou, Vattimo, Zizek, m.E. zählen dazu auch Hardt/Negri) bezeichnet worden ist (vgl. hierzu Lothar Peter, Postmoderner Linksradikalismus – Aufbruch zu neuen Ufern?, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 91, September 2012, S. 156-169), als vielmehr an eine kritische Rekonstruktion der Marxschen Auffassungen unter Berücksichtigung der historischen Erfahrungen des 20. und der neuartigen ökonomischen, sozialen, kulturellen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Gerade diese Aufgabe wurde auch in der ‘orthodoxen’ oder ‘parteikommunistischen’ ‘Kommunismus-Debatte’, die im Anschluss an den Beitrag von Lötzsch in der Zeitung ‘junge Welt’ ausgetragen wurde, überhaupt nicht einmal in’s Auge gefasst. Hans Heinz Holz verstieg sich dabei sogar dazu, den stalinistischen Terror mit Hegel zu rechtfertigen – von Marx’ Kommunismusauffassung, ja nicht einmal von der schon bei Marx ansatzweise vorhandenen Wege-Debatte (s. Fn 4) ist in seinem Text jedenfalls nicht die Rede. Vgl. http://www.lsa.k-p-d.org/resources/Dialektik+der+Vernunft.pdf
[4] Die Wege-Metapher impliziert, dass man sich über den (eigenen) Standort ebenso bewusst ist wie über das Ziel, das man erreichen möchte, und das Gelände, das zwischen beiden liegt; schließlich muss man sich auch über die Mittel klar werden, mit denen man die Strecke glaubt bewältigen zu können – Anforderungen, die bei einer räumlichen Expedition noch einigermaßen erfüllbar erscheinen (man denke an Columbus), die aber in zeitlicher Hinsicht, auf dem Weg in die Zukunft, ungleich schwerer zu erfüllen sind. Die ‘Existenz’ (Wirksamkeit) und Kenntnis (der Wirkungsweise) historischer Gesetze oder wenigstens Tendenzen ist dazu wiederum eine der Voraussetzungen. Hierzu haben Marx und Engels wichtige Erkenntnisse beigetragen oder wenigstens Überlegungen (Hypothesen) entwickelt, ohne deren Berücksichtigung m.E. jede Debatte über ‘Wege zum Kommunismus’ von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.
[5] Wir betrachten hier den Begriff ‘Kommunismus’ vor allem in seiner Bedeutung als Gesellschaftsform(ation). Schon bei Marx und Engels hat der Terminus K. darüber hinaus auch die Bedeutung von Idee oder einem Ideensystem und der einer sozial-politischen Bewegung, deren Ziel eine Gesellschaftsform auf der Grundlage allgemeiner Gütergemeinschaft ist.
[6] Selbstverständlich können auch diese beiden Autoren kein Monopol auf den Begriff ‘Kommunismus’ beanspruchen; aber keine ernsthafte aktuelle oder künftig denkbare Diskussion um diesen Begriff, wird um eine Auseinandersetzung mit diesen ‘Klassikern’ herumkommen. Dabei muss leider betont werden – was eigentlich selbstverständlich sein sollte – dass eine Kommunismus-Konzeption für das 21. Jahrhundert auch und gerade von einem marxistischen Standpunkt aus, nicht bei der bloßen Rekonstruktion der Auffassungen von Marx und Engels stehen bleiben kann. Ich nehme in diesem Zusammenhang die Gelegenheit wahr, auf den Text eines Autors zu verweisen, der in der DDR 1956 verhaftet und auch später mundtot gemacht worden ist und dessen Kommunismusvorstellungen (s. im später folgenden Teil II, Fn 92) ich in vieler Hinsicht nicht teile, der aber in einer außerordentlichen historischen Situation den ‘Mut zur Wahrheit’ aufbrachte und dafür büßen musste, dass er die Dogmatisierung des Marxismus bekämpfte und im Interesse der ‘für den Sozialismus kämpfenden’ Arbeiterklasse die ‘Weiterentwicklung des Marxismus’ forderte. Vgl. Wolfgang Harich, Zur Frage der Weiterentwicklung des Marxismus, 1956, erstmals 50 Jahr später abgedruckt in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 54. Jg., 2006, Heft 5, S. 759-765.
[7] Buhr/Klaus (Hg.), Philosophisches Wörterbuch, 6. Aufl., 1969, S. 514. Ähnlich das offizielle Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium: Dialektischer und Historischer Materialismus, 15. Aufl., 1988. Wo „die Auseinandersetzung zwischen Marxismus und bürgerlichem Individualismus“ als „eine Form des ideologischen Kampfes um die historische Perspektive der Menschheit“ bezeichnet wird. (A.a.O., S. 407) Der Horror vor der angeblich rein bürgerlichen Terminologie ging offenbar so weit, dass selbst in wissenschaftlichen Untersuchungen und Dokumentationen – bis in die Sachregister hinein – die Begriffe ‘Individuum’ oder ‘Individualität’ möglichst vermieden oder allenfalls als Kategorien erwähnt wurden, die in Klassengesellschaften eine Rolle spielen. Das ‘Sachregister Marx-Engels-Werke’ enthält kein Stichwort ‘Individualität’, unter ‘Individuum und Gesellschaft’ findet man den Hinweis ‘in der Klassengesellschaft’ (398f.). Die Sache selbst findet immerhin unter ‘Persönlichkeit’ eine gewisse Berücksichtigung – wie ja überhaupt viel von der Entwicklung der oder zur sozialistischen Persönlichkeit die Rede war. In dem erwähnten Sachregister (649f.) ist als erster Nachweis unter ‘Persönlichkeit – allseitig entwickelte, ist im Sozialismus neue Produktivkraft’ die Quelle MEW 2, 138 genannt. Dort ist aber das Wort ‘Persönlichkeit’ nicht zu finden – eine Terminologie, die der im römischen Recht gebildete Marx nur mit äußerster Zurückhaltung und dann zumeist kritisch verwendet; stattdessen findet man an der angegebenen Stelle folgenden Wortlaut: „Wenn der Mensch unfrei im materialistischen Sinne, d.h. frei ist, nicht durch die negative Kraft, dies und jenes zu meiden, sondern durch die positive Macht, seine wahre Individualität (Hervorh. WG) geltend zu machen, … “ Im Sachregister zu den ‘Grundrissen’ (MEW 42), in deren Text es ja von den Termini ‘Individuum’, ‘Individualität’ geradezu ‘wimmelt’, wenn mir dieser Ausdruck hier einmal gestattet ist, findet sich wiederum keines der beiden Stichwörter, aber auch nicht ‘Person’ bzw. ‘Persönlichkeit’, dafür aber ‘Mensch, Individuum, Person’, an dem dort an erster Stelle genannten Nachweis findet man allerdings wiederum nur den originalen Marxschen Terminus ‘Individuum’. Weitere Stichproben ergaben ähnliche Resultate. Bleibt vielleicht nur noch zu erwähnen, dass das Sachregister zum ‘Kapital’ (Bd. 1-3, MEW 23-25) kein ‘Individuum’ kennt, aber auch keine ‘Person’; unter ‘Mensch’ wird sein Verhältnis zur Natur, und seine eigene ‘Natur’ als ‘gesellschaftliches Wesen’ nachgewiesen. Dabei heißt es etwa im ‘Kapital’ (Bd. 1) – gleichlautend mit vielen anderen Textstellen bei Marx, die weiter unten noch ausführlich nachgewiesen werden – , dass in der kapitalistischen Produktionsweise die Menschheit rücksichtslos zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen gezwungen werde, „welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist.“ (MEW 23, 618)
[8] Max Stirner, Der Einzige und sein Eigenthum, Leipzig 1844.
[9] Der Terminus selbst soll zunächst als kritisch gegen den Liberalismus gewendet von dem nach-revolutionären Reaktionär Joseph de Maistre, bald darauf aber auch von den Saint-Simonisten verwendet worden sein, die dagegen den sozialistischen Begriff der ‘Association’ gesetzt haben. Vgl. Individualismus, in: HKWM, Bd. 6.2, Sp. 922f. Der konservativ-liberale Tocqueville hat mit historischem Sinn das Neuartige des bürgerlichen Individualismus erkannt. “Unsere Väter hatten das Wort ‘Individualismus’ nicht, das wir für unseren Gebrauch gebildet haben, weil es zu ihrer Zeit allerdings kein Individuum gab, das nicht zu einer Gruppe gehörte und sich als ganz allein stehend hätte betrachten können; aber jede der tausend kleinen Gruppen, aus denen die französische Gesellschaft bestand, dachte nur an sich selbst. Es war dies, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Art kollektiver Individualismus, der die Gemüter auf den uns bekannten eigentlichen Individualismus vorbereitete.“ A. de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, Reinbek 1969, S. 89.
[10] Wobei die Formulierung des ‘Philosophischen Wörterbuchs’ offen ließ, ob es überhaupt einen nicht-bürgerlichen Individualismus geben könne. Gramsci sieht das Problem des Individualismus jedenfalls wesentlich differenzierter: „Individualismus und Individualität (Bewußtsein der individuellen Verantwortlichkeit) oder Persönlichkeit. Man muß sehen, wieviel an der Tendenz gegen den Individualismus richtig ist und wieviel falsch und gefährlich. Notwendig widersprüchliche Haltung. Zwei Aspekte, ein negativer und ein positiver, des Individualismus. Eine Frage folglich, die historisch und nicht abstrakt, schematisch zu stellen ist. …Kampf gegen den Individualismus ist gegen einen bestimmten Individualismus, mit einem bestimmten sozialen Inhalt, nämlich gegen den ökonomischen Individualismus in einer Zeit, in der er anachronistisch und antihistorisch geworden ist (jedoch nicht vergessen, daß er historisch notwendig gewesen ist und eine Phase der progressiven Entwicklung darstellte). Daß man kämpft, um einen rückständig und hinderlich gewordenen autoritären Konformismus zu zerstören, und daß man über eine Phase der Entwicklung von Individualität und kritischer Persönlichkeit zum Menschen-Kollektiv gelangt, ist eine dialektische Auffassung, die für die schematischen und abstrakten Mentalitäten schwer zu begreifen ist.“ Antonio Gramsci, Gefängnishefte (Heft 9, § 23), Hamburg 1993, Bd. 5, S. 1099.
[11] Schon in der Deutschen Ideologie heißt es: „…erst in der Gemeinschaft wird … die persönliche Freiheit möglich.“ Die bisherigen gesellschaftlichen Formen seien bloß „Surrogate“, „illusorische Gemeinschaft“en. „In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit.“ (MEW 3, 74); dort heißt es später u.a., die kommunistische Gesellschaft sei die einzige „worin die originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist …“ A.a.O., 424.
[12] Wie es der amerikanische Sozialphilosoph und einer der wenigen ‘analytischen’ Marxisten, John Elster, behauptet. Vgl. John Elster, An Introduction to Karl Marx, Cambridge 1986, p. 27.
[13] Auch keine ‘kommunistischen Individualisten’. Vgl. Ingo Pies/Martin Leschke (Hg.), Karl Marx’ kommunistischer Individualismus, Tübingen 2005.
[14] Vgl. C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt/M. 1973.
[15] Vgl. etwa ‘Kollektiv’ im „Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie“, 2. Aufl., Berlin (DDR) 1977, S. 346-350. Eine bemerkenswerte Ausnahme hiervon bildet der unter dem Titel ‘Zivilisation am Scheideweg’ 1968 in der CSSR veröffentliche ‘Richta-Report’ (Hg. von Radovan Richta und Kollektiv). Dort heißt es: „Die Kollektivität, auf der die Vorstöße der Wissenschaft und Technik fußen, ist eine Kollektivität der gegenseitigen individuellen Entfaltung – eine wirkliche Gemeinschaft als solche sich entfaltender Individuen.“ Richta-Report, Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1971, S. 304ff., zit. S. 308f. Am Schicksal dieses in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Dokuments wird deutlich, wie verheerend sich die militärische Intervention der Sowjetunion und ihrer Verbündeten von 1968 nicht nur gegen den ‘Prager Frühling’, sondern darüber hinaus gegen eine potentiell erfolgreiche Entwicklung zum Kommunismus im Marxschen Sinne ausgewirkt hat. (Die Erinnerung an dieses Dokument verdanke ich Christoph Lieber.)
[16] „Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann. Die Produktion des vereinzelten einzelnen außerhalb der Gesellschaft – eine Rarität, die einem durch Zufall in die Wildnis verschlagnen Zivilisierten wohl vorkommen kann, der in sich dynamisch schon die Gesellschaftskräfte besitzt – ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen.“ MEW 42, 20.
[17] MEW 42, 19.
[18] Die umfangreichste mir bekannte Untersuchung aus der DDR ist Rolf Dlubek/Renate Merkel: Marx und Engels über die sozialistische und kommunistische Gesellschaft, Berlin (DDR) 1981. Darin konnten allerdings die erst später – oder noch immer nicht vorliegenden – Texte (hier insbesondere die ethnologischen Exzerpte) aus dem Nachlass von Marx (und Engels) aus der MEGA2 nicht berücksichtigt werden. Die von L. Krader in den 1970er Jahren in der BRD herausgegebenen Auszüge aus den ethnologischen Exzerptheften von Marx wurden ebenfalls nicht berücksichtigt. L. Krader (Hg.), Karl Marx, Die ethnologischen Exzerpthefte, Frankfurt/M. 1976.
[19] Zur politisch komplexen und theoretisch kontroversen Publikationsgeschichte des Textes vgl. Eric Hobsbawm, Wie man die Welt verändert. Über Marx und den Marxismus, München 2012, S. 112ff. Vgl. auch Marcello Musto, Verbreitung und Rezeption der ‘Grundrisse’ in der Welt, in: Z 84, Dezember 2010, S. 92-103.
[20] Was ich hier leisten kann ist allerdings eher eine kommentierte Materialsammlung als eine systematische Rekonstruktion der entsprechenden Marxschen Äußerungen – eine Arbeit, die sich nach meiner Auffassung freilich sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht lohnen würde.
[21] In seiner frühesten Kritik am ‘rohen Kommunismus’ richtet sich Marx nicht nur gegen die ab-strakte Form der Gleichheit, die das Privateigentum nur verallgemeinere, sondern ebenso sehr gegen dessen Negation der Individualität bzw. ‘Persönlichkeit’. Erst der entwickelte Kommunismus löse den Widerstreit zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er sei das ‘aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ Vgl. MEW 40, 534ff, 536.
[22] M. Hundt, Sozialismus/Kommunismus, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hg. von H. J. Sandkühler, Bd. 3, Hamburg 1990, S. 347ff., hier S. 352.
[23] Vgl. MEW 29, 578, Anm. 236.
[24] MEW 29, S. 194. Im Anti-Dühring stellt Engels fest: “Die Gesellschaft kann sich selbstredend nicht befreien, ohne dass jeder einzelne befreit wird.” (MEW 20, 273)
[25] MEW 23, 618. Ähnlich heißt es schon zu Beginn des Kapital (Bd. 1, im Abschnitt über den Fetischcharakter der Ware …) „Stellen wir uns … einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. …“ A.a.O., S. 92 (Hervorh. WG).
[26] Der Begriff ‘Urkommunismus’ wird von Marx nie, von Engels nur äußerst selten benuztzt, er ist in der marxistischen Literatur mit guten Gründen umstritten. Wirtschaftshistoriker bevorzugen den schon von Engels benutzten, auf Morgan (Ancient Society) zurückgehenden, dt. mit ‘Urgesellschaft’ übersetzten Begriff.„Aufgrund des Gemeineigentums an Grund und Boden, das die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, und des Fehlens ökonomisch-sozialer Klassen wird die Urgeschichte herkömmlicherweise als Geschichte der Urgesellschaft verstanden. Die Urgesellschaft wird dabei als einheitliche ökonomisch-soziale Formation aufgefasst (auch als Urgemeinschaft, Urgemeinschaftsordnung, gelegentlich urkommunistische Formation bezeichnet) und in eine vorgentile (Periode der Mensch- und Gesellschaftswerdung = Anthropo- und Soziogenese) und eine gentile Epoche (Gentilgesellschaft) untergliedert…“ Handbuch Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, Berlin (DDR) 1981, S. 265. Vgl. auch Barry Hindess/Paul Q. Hirst, Vorkapitalistische Produktionsweisen, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1981, dort: Die primitive kommunistische Produktionsweise, S. 62-105.
[27] „Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums. … Der Kommunismus nimmt keinem die Macht, sich gesellschaftliche Produkte anzueignen, er nimmt nur die Macht, sich durch diese Aneignung fremde Arbeit zu unterjochen.“ MEW 4, 445;477. Im Kapital heißt es sogar: Die Negation der kapitalistischen Produktionsweise, d.h. der Kommunismus stelle“ nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel.“ MEW Bd. 23, 791 (Hervorh. WG).
[28] Dies soll jedoch keineswegs heißen, dass die genannten Problembereiche etwa unwichtig wären – im Gegenteil! M.E. können sie aber sinnvoll nur behandelt werden, wenn das ‘Grundprinzip’ des Kommunismus hinreichend geklärt ist.
[29] Dass davon zugleich auch das Verhältnis der Menschen zur (eigenen wie außermenschlichen) Natur betroffen ist, wird am Ende dieses Beitrags wenigstens angedeutet. Vgl. zu dieser Problematik K. H. Tjaden, Mensch – Gesellschaftsformation – Biosphäre. Über die gesellschaftliche Dialektik des Verhältnisses von Mensch und Natur, Kassel 1990.
[30] „…aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) …“ MEW Bd. 19, 21. Schon 1844 hatte Marx in einem Brief an Feuerbach betont: „Die Einheit des Menschen mit den Menschen, die auf dem realen Unterschied der Menschen begründet ist, der Begriff der Menschengattung, … was ist er anders als der Begriff der Gesellschaft!“ MEW 27, 425 (Hervorh. WG).
[31] E. Bloch, Experimentum Mundi, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 15, Frankfurt am Main 1977, S. 195.
[32] MEW 3, 6.
[33] Eine subtile Auseinandersetzung mit dieser Interpretation der Feuerbach-Thesen findet sich bei L. Krader, Ethnologie und Anthropologie bei Marx, Frankfurt (Main)/Berlin/Wien 1976, S. 252 Fn 113.
[34] L. Sève, Individuum/Individualismus, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, a.a.O., Bd. 2, S. 657f.
[35] A.a.O., S. 658. Sève zitiert Marx nach MEW 23, 512 und MEW 3, 424.
[36] MEW 42, 404.
[37] Vgl. MEW 13, 9.
[38] Im ersten Briefentwurf an Vera Sassulitsch bemerkt Marx, „dass die Lebensfähigkeit der Urgemeinschaften unvergleichlich größer war als die der semitischen, griechischen, römischen etc. Gesellschaften und a fortiori als die der modernen kapitalistischen Gesellschaften.“ MEW 19, 386. Einiges spricht dafür, dass Marx die später so genannte ‘agrarische Revolution’ zunächst noch nicht als ‘progressives’, formationsbildendes Moment eingeschätzt hat. S. auch folgende Fn., wo Sesshaftigkeit und Ackerbau noch nicht als qualitative neue Stufe der Produktionsweise begriffen worden sind.
[39] In der ‘Deutschen Ideologie’ (1845) unterscheidet Marx verschiedene Entwicklungsstufen der Teilung der Arbeit und ebenso viele verschiedene Formen des Eigentums. „Die erste Form des Eigentums ist das Stammeigentum. Es entspricht der unentwickelten Stufe der Produktion, auf der ein Volk von Jagd und Fischfang, von Viehzucht oder höchsten vom Ackerbau sich nährt.“ MEW 3, 22.
[40] MEW 42, 384.
[41] MEW 42, 20.
[42] Dafür spricht auch, dass Marx später, d.h. nach seiner Morgan-Rezeption, den Begriff ‘Zivilisation’ für die Gesamtheit der post-urgesellschaftlichen Formationen übernimmt – wie dann auch Engels im ‘Ursprung …’.
[43] MEW 42, 91.
[44] Marx charakterisiert jenes ursprüngliche Gemeinwesen auch als „Substanz, von der die Individuen bloß Akzidenzen“ sind. MEW 42, 386. Ähnlich heißt es im ‘Kapital’: „Jene alten gesellschaftlichen Produktionsorganismen … beruhen entweder auf der Unreife des individuellen Menschen, der sich von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs mit andren noch nicht losgerissen hat, oder auf unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen. Sie sind bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit …“ MEW 23, 93. „… in den Kulturanfängen der Menschheit, bei Jägervölkern oder etwa in der Agrikultur indischer Gemeinwesen“, die „auf dem Gemeineigentum an den Produktionsbedingungen“ beruhen, findet man, „daß das einzelne Individuum sich von der Nabelschnur des Stammes oder des Gemeinwesens noch ebensowenig losgerissen hat wie das Bienenindividuum vom Bienenstock. “MEW 23, 353f.
[45] MEW 42, 385.
[46] MEW 42, 386.
[47] Ebd. In anderen, noch elementareren Fällen, z.B. bei slawischen und germanischen Stämmen, ist die Einheit repräsentiert durch das Haupt einer Stammfamilie.
[48] MEW 42, 387.
[49] Marx entwickelt diesen Gedanken auch weiter am Beispiel des römischen Eigentumsrechts, das stets die Zugehörigkeit (Bürgerschaftsstatus) zum römischen ‘Staat’ zur Voraussetzung hat. A.a.O., S. 388.
[50] L. Krader behauptet m.E. zu Recht, dass Marx hier – und vollends später bei seinen ethnologischen Studien – jeder idealistischen Teleologie zugunsten einer empirisch gestützten Theorie der kulturellen Evolution entgegen tritt. Vgl. Krader 1976, S. 22.
[51] Vgl. MEW 42, 376f.
[52] „Erst auf einer gewissen Stufe der Entwicklung des Kapitals wird der Austausch von Kapital und Arbeit in fact formell frei. Man kann sagen, dass die Lohnarbeit erst völlig der Form nach realisiert in England am Ende des 18. Jahrhunderts mit Aufhebung des law of apprenticeship.“ MEW 42, 661.
[53] MEW 42, 414f. Im ‘Kapital’ (Bd. 1) hat Marx dies vor allem im 8. und im 24. Kap. detaillierter ausgeführt. Vgl. MEW 23, S. 279ff.; 744ff.
[54] „Diese propagandistische (zivilisierende) Tendenz bloß dem Kapital – im Unterschied von den frühren Produktionsbedingen – eigen.“ MEW 42, 448. Im Kommunistischen Manifest (MEW 4, 464ff.) hat Marx die progressiv-zivilisatorische Leistungder Bourgeoisie auf eine Weise gewürdigt, die – nach dem Untergang des ‘Realsozialismus’ - nunmehr vielfach und mit Erstaunen auch von der kulturell interessierten Fraktion des heutigen Bürgertums (in den Feuilletons) - verständlicherweise unter Ausschluss der nachfolgenden Passagen (a.a.O. 467) - freudig begrüßt wird.
[55] MEW 23, 618.
[56] „Die entwickeltste Maschinerie zwingt den Arbeiter …, jetzt länger zu arbeiten, als der Wilde tut oder als er selbst mit den einfachsten, rohsten Werkzeugen tat.“ MEW 42, 604. „Da alle freie Zeit Zeit für die freie Entwicklung ist, usurpiert der Kapitalist die von den Arbeitern geschaffne freie Zeit für die Gesellschaft, d.h. die Zivilisation …“ Ebd., 534
[57] Vgl. MEW 23, vor allem 8. und 13. Kap. In der ‘Inauguraladresse’ bezeichnet Marx die Zehnstundenbill als „Sieg eines Prinzips. Zum ersten Mal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse … vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse. “MEW 16, 11. Im ‘Kapital’ Bd. 1, heißt es dazu: „An die Stelle des prunkvollen Katalogs der ‘unveräußerlichen Menschenrechte’ tritt die bescheidne Magna Charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstags, die ‘endlich klarmacht, wann die Zeit, die der Arbeiter verkauft, endet, und wann die ihm selbst gehörige Zeit beginnt’. Quantum mutatus ab illo!“ MEW 23, 320.
[58] Ebd.