Marx-Engels-Forschung

Fundierte Kritik

Anmerkungen zu W. F. Haug „Das ‚Kapital’ lesen. Aber wie?"

von Klaus Müller
Dezember 2013

[1]

Warum lesen heute wieder mehr Menschen „Das Kapital“ von Karl Marx? Ist nach dem Scheitern des Staatssozialismus dessen Theorie nicht tot?

Adolf Dresen (1935-2001), „Sohn der DDR und einer der bedeutendsten deutschen Theaterregisseure des 20. Jahrhunderts“ (72), glaubt, die staatliche Planung versage, weil im Sozialismus etwas fehle, was im Kapitalismus die Konkurrenz leiste. Wolfgang F. Haug nennt das Argument stichhaltig, aber ungeeignet, um Marx zu widerlegen. „Für Marx entspringt die Konkurrenz dem ‚absoluten Bereicherungstrieb‘,… nicht dieser ihr.“ (78) Dresens Kritik der marxschen Lehre setzt voraus, dass „diese die Anweisungen für eine nachkapitalistische Gesellschaftsgestaltung enthalten müsse. Doch es ist marxistischer Kinderglaube, dies in irgendeiner Konkretheit von einem Autor des 19. Jahrhunderts, sei er noch so genial, zu erhoffen. Nur für jemanden, der diesen Glauben teilt, kann das Scheitern des europäischen Staatssozialismus die marxsche Theorie widerlegen. Das Kriterium, nach dem die Kritik der politischen Ökonomie beurteilt und weitergeführt werden muss, ist die Analyse des je(weils) aktuellen Kapitalismus.“ (80)

Dessen große Krise wirft alte Fragen neu auf: Warum nehmen Reichtum und Armut zu? Warum zerstört der Kapitalismus soziale und natürliche Lebensgrundlagen? Weshalb gibt es chronische Überproduktion, massenhafte Arbeitslosigkeit und Prekarisierung, weshalb Schulden- und Finanzkrisen, Börsenkräche, inflationäre Preissteigerungen, internationale Ungleichgewichte? Die Profitgier stößt an die Grenzen des Wachstums. Zeugen diese Erscheinungen davon, dass der Kapitalismus seine finale Phase erreicht hat?

„Das Kapital“ enthält die „unübertroffene Grundlegung der Analyse des real existierenden Kapitalismus. Dessen Analyse aber rückt desto zwingender auf die Tagesordnung, als dieser im Zeichen seiner Globalisierung dominanter als je zuvor ist. Der Gegenstand des ‚Kapitals‘ umfasst die allgemeinen Strukturen und Bewegungsformen der kapitalistischen Wirtschaft.“ (89)

Haug stellt sich der doppelten Aufgabe, „in der Kapitalismusanalyse und zugleich in der Frage nach einer praxisorientierten ‚Kapital‘-Lektüre weiterzukommen“. (201) Die Menschen spüren, „dass der Kapitalismus ihre sozialen und naturalen Lebensgrundlagen bedroht. Sie spüren es, aber sie wissen es nur ahnungsweise. Sie erfahren es, wenn sie das ‚Kapital‘ lesen und durch es hindurch ihre Welt.“ (65) Doch das Studium ist schwer. Man kann dabei irren. „Daher die Dringlichkeit, mit der sich die Frage nach dem Wie der ‚Kapital‘-Lektüre stellt.“

Wolfgang F. Haug gliedert sein Buch in drei Teile: „Fragen“ (I), „Kritiken“ (II), „Rekonstruktionen“ (III). Diese Überschriften „bezeichnen den jeweils dominierenden Aspekt, der die anderen beiden Aspekte jedoch immer mit einschließt.“ (12) Teil I besteht aus zwei, Teil II aus sechs und Teil III aus vier Kapiteln.

Im Mittelpunkt stehen methodische Fragen, vor allem die Auseinandersetzung mit der These, Marx wende im „Kapital“ allein die logische Methode an. Eine Auffassung, die „unter dem sich selbst und die Welt belügenden Schein der Abrechnung mit allem Traditionsmarxismus und vor allem mit dem Marxismus-Leninismus momentan im linken Mainstream weithin Anerkennung genießt.“ Mit diesem Problem beginnt das erste Kapitel, es zieht sich durch das ganze Buch. Im 2. Kapitel geht es um die Frage, was man unter dem „idealen Durchschnitt“ versteht. Im 3. Kapitel fragt Haug, ob das Scheitern des europäischen Staatssozialismus die marxsche Theorie widerlegt. Im 4. Kapitel geht er auf den Streit ein, ob die Darstellung im „Kapital“ mit dem Kapitalismus oder früher beginnt. Eine Kritik der monetären Werttheorie enthält das 5. Kapitel. Im 6. Kapitel beschäftigt sich der Autor mit Michael Heinrichs Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie. Im 7. Kapitel diskutiert er die monetäre Werttheorie der „neuen Kapital-Lektüre“ unter weiteren Aspekten, um dann im 8. Kapitel zu David Harvey, dem „amerikanischen Marx“, zu kommen. Im Teil III geht es ihm um Praxis und Personifikation (9. Kapitel), Wissenschaftsideologie und Wissenschaftspraxis (10. Kapitel), logische und dialektische Methode (11. Kapitel) sowie um Sein und Zeit der Dialektik (12. Kapitel).

Die Autoren der „Neuen Marx-Lektüre“ (NML) entstellen auf anspruchsvolle und daher manchem Respekt einflößende Weise Grundaussagen des marxschen Hauptwerkes, und sie legen dabei nahe, die ersten zu sein, die Marx wirklich begriffen hätten. Haug setzt sich mit diesem selbstgefälligen Anspruch und den irrigen Deutungen einiger Autoren auseinander, die behaupten, die „ultimative Kapital-Lektüre des 21. Jahrhunderts“ zu bieten. (150). Es steht viel auf dem Spiel: „nichts Geringeres als die Frage, was als realitätstaugliche marxistische Theorie gelten kann“. (111)

Die „neue Marx-Lektüre“ und der „staatssozialistische Traditionsmarxismus“

Die Absicht der NML, dem parteigelenkten „Marxismus, später Marxismus-Leninismus eins auszuwischen, ist unrealistisch und verrät einen Mangel an Selbstrelativierung“, schreibt Haug. (103). Derartige Versuche sind in der Tat nicht nur überheblich. Sie sind vor allem einseitig. Oft stellen sie reine Behauptungen dar, hanebüchene Vorwürfe zum Teil: der Marxismus-Leninismus habe die theoretische Hinterlassenschaft des Karl Marx völlig deformiert und erst nach dem Ende des real existierenden Sozialismus wäre die Zeit gekommen, den wirklichen Marx zu entdecken. Sämtlichen dieser Richtung zugehörigen Marx-Interpreten des 20. Jahrhunderts sei es nur um die Apologetik einer immer schon fertigen Politik gegangen. (206 f). Haug weist derartige Anschuldigungen zurück und fordert eine historisch-kritische Aufarbeitung, die sich nicht einfach erhaben dünkt über allen traditionellen Marxismus. An die Stelle einer unsachlichen, vernichtenden Kritik gehöre eine ‚rettende Kritik‘, die aufnimmt, was bewahrenswert, die vervollkommnet, was unvollkommen und die nicht künstlich konserviert, was sich als falsch erwies. Haugs Bemühen ist bemerkenswert, den Gescholtenen beizustehen – von denen sich kaum einer mehr selbst zur Wehr setzen kann, (und die, die es tun könnten, tun es nicht) auch dies muss gesagt werden. Gerade deshalb vermisst der Leser, dass auf Debatten eingegangen wird, die z.B. unter DDR-Ökonomen zu den zentralen Themen des Buches – Logisches, Historisches, Dialektik, Geld und Geldwerdung usw. – geführt wurden. Marxforscher wie Walter Tuchscheerer, Wolfgang Jahn, Thomas Marxhausen oder Hans Wagner u.a. hätten zumindest eine Erwähnung verdient. Vergessen werden sollte auch nicht, dass bereits in den 1970er Jahren in Berlin (DDR) und Moskau die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) gestartet wurde. Mit ihr wurde bezweckt, das zugängliche literarische Erbe von Marx und Engels vollständig zu veröffentlichen und der Forschung zu erschließen. Bis 1990 erschienen 36 Bücher, eine beachtliche Leistung.

Wie soll man in die Kapital-Lektüre hineinfinden?

Der französische Philosoph Louis Althusser (1918-1990) sagt, die ersten drei Kapitel des „Kapital“ seien so schwer, dass man gleich mit dem vierten über „Die Verwandlung von Geld in Kapital“ beginnen solle. Haug widerspricht: „Der Anfang darf nicht übersprungen werden. Wenn jemand die Form des Geldes nicht ableiten kann, dann sieht er bei der ‚Verwandlung von Geld in Kapital‘ nichts als böhmische Dörfer.“ (24 f, 93). Dies sei so, obwohl im ersten „Kapital“-Abschnitt vom Kapitalismus keine Rede sei. (153 Fn) Vom Kapitalismus keine Rede? Marx beginnt dort die Untersuchung der kapitalistischen Warenproduktion mit deren allgemeinsten Merkmalen, die auf die Warenproduktion schlechthin zutreffen. Er behandelt hier die einfache und die kapitalistische Ware, letztere aber nur im allgemeinen Sinne des Warenbegriffs wie er auch für die vorkapitalistische Warenproduktion gilt. „Diese doppelte Bestimmtheit, die ein Element entwickelter kapitalistischer Warenproduktion zugleich als seine eigne früh- oder vorkapitalistische Vorgängergestalt zeigt, ist der harmlosere Fall, auch wenn sie der ‚logischen‘ Kapital-Interpretation ein Stein des Anstoßes ist, der allen Versuchen, ihn wegzuräumen, widersteht“, schreibt Haug an anderer Stelle.[2]

Tatsächlich ist die kapitalistische Warenproduktion nur eine „spezifisch entwickelte, eigentümliche Form“ der Warenproduktion (MEW 26.2: 501). Die erste Bedingung der kapitalistischen Warenproduktion ist – so Marx –, „daß das Produkt Ware sein, sich daher als Geld darstellen … muß.“ (MEW 26.2: 502) Deshalb beginnen Analyse und Studium der kapitalistischen Produktion mit Ware und Geld, mit nichts kapitalistisch Spezifischem also, aber Notwendigem, untrennbar Dazugehörigem.

Methodenstreit: logisch, historisch, dialektisch?

Die Autoren der NML behaupten, die Darstellungsmethode im „Kapital“ sei ausschließlich logisch, habe mit der tatsächlichen Entwicklung des Kapitalismus nichts zu tun. Logische Methode ist für sie, anders als bei Engels, ein ausschließender Gegensatz zur „historischen Methode“ (247). Haug kommt immer wieder darauf zurück (Abschnitte 4.3, 7.4, 8.3, 11.1) Er setzt dagegen, es sei „doppelt irreführend, die marxsche Herangehensweise ‚logisch‘ zu nennen: Erstens ergibt die Negation von ‚historisch‘ nicht logisch, und zweitens setzt sich Marx scharf ab von einer theoretischen Produktionsweise, die Begriffe aus Begriffen entwickelt.“ (30 f) Mehr noch: „Sowenig wie eine logische gibt es eine historische Methode. Was es gibt, sind Methoden der Geschichtswissenschaften und der Geschichtsschreibung.“ (123) Ja, aber worin bestehen diese Methoden? Haug schreibt, dass Marx seine Methode „dialektisch“ nennt, auch „Entwicklungsmethode“, seltener „analytische“, „begriffliche“ oder „theoretische Methode“, nie aber „logische Methode“. „Unbestreitbar geht es bei Marx um Begriffsentwicklung, doch um eine, die der Entwicklung der Sache folgen muss, also Realentwicklung zwingend konnotiert ...“ (131). Haug betont, Anspruch müsse es sein, „die wirkliche Entwicklung zu entschlüsseln.“ (276) Er fordert, die Kritik der politischen Ökonomie von den Feuerbachthesen her zu lesen und, wo nötig, zu rekonstruieren. Der Weg der Erkenntnis führt über die Analyse der Praxis. Gemäß der achten Feuerbach-These finden alle Mysterien „ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.“ Die dialektische Methode erfordert, die empirische Entwicklung detailliert zu erforschen. Ohne Kenntnis, wie ein Gegenstand entstanden ist, sich verändert und vervollkommnet hat, ist eine Theorie über ihn nicht möglich. Die marxsche Darstellungsweise speist sich, so Haug, aus „Erkenntnisquellen, die geschichtsmaterialistisch ausgeleuchtet werden müssen“. Es gehe darum, die Logik der Sache zu entschlüsseln. „Diese Sache aber kann nichts anderes sein als das (auch naturbedingte) Verhalten der Menschen im geschichtlichen Ensemble ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (201) Schließen sich logische und historische Methode auf der einen und dialektische Methode auf der anderen Seite dabei aus? Bilden nicht Logisches und Historisches selbst eine dialektische Einheit? Wenn Haug meint, Engels‘ unglücklicher Versuch[3], die logische Methode „kompatibel zu machen mit historisch-materialistischen Annahmen“, sei nicht recht tragfähig und führe „vom Regen in die Traufe“ (106), dann erweckt er den Eindruck, als unterschätze er die Bedeutung des Logischen für die historische Analyse. Das Logische ist nicht nur das „Begriffliche“ (228); es meint die innere Schlüssigkeit, die kausale Verknüpfung der Elemente in der Realität und deren gedankliche Widerspiegelung. Wenn es eine Logik des historischen Prozesses gibt, dann ist die Methode des Karl Marx sowohl historisch als auch logisch. Zu einer dialektischen „Kapital“-Lektüre gehört auch die Dialektik von Historischem und Logischem. Klar ist, dass das „Kapital“ keine wirtschaftsgeschichtlich konkrete Beschreibung des Kapitalismus ist, „sondern nur die all diesen gemeinsamen Bewegungs-, Entwicklungs- und Ausdifferenzierungstendenzen“ (37) zeigt.

Versuche, den „historischen“ gegen den „logischen“ Marx abzugrenzen, sind genauso müßig, wie einen Gegensatz zu sehen zwischen logisch-historisch und „dialektisch“. Theoretische (logische) Analyse und Darstellung vollziehen sich nicht im Elfenbeinturm. Sie setzen die historische (empirische) Analyse voraus. Die Logik folgt der Geschichte. Sie reflektiert nicht alle Details, sondern das Hauptsächliche des Historischen, dessen Wesen. Wissenschaftliche Forschung muss zugleich logisch und historisch vorgehen. Historisches und Logisches können nicht auf ein Entweder/Oder reduziert werden. Logische und historische Elemente sind keineswegs inkommensurabel, wie Autoren der NML behaupten. Sie gehören untrennbar zusammen. Das Logische ist Mittel und Voraussetzung zur Erkenntnis des Historischen. Gemeint ist damit, dass bei der Darstellung eines Objekts, Prozesses bzw. Sachverhalts alle historischen Details, Zufälle und Abweichungen richtig eingeordnet werden können, wenn das Wesen des Gegenstandes bekannt ist. Fehlt die Wesenserkenntnis, dann werden die Einzelheiten zu einer Summe von Zufälligem – eine bloße Anhäufung von Fakten, die unerklärt bleiben. Auch wenn Marx nicht von logischer Methode spricht, was sind logische Methoden anders als Vergleichen, Analysieren, Abstrahieren, Verallgemeinern, Beweise führen, Schlüsse ziehen, Begriffe definieren, also Theorie zu machen, alle diese Verfahren des Denkens, die zu neuem Wissen durch logische Verarbeitung vorhandener Begriffe und Urteile führen? Wenn mit der „logischen Methode“ Begriffs- und Kategorienbildung, Aussagen, Schlüsse (Induktion, Deduktion), Beweisführung, die Regeln und Formen der Ableitung einer Aussage aus anderen verworfen werden, dann ist Wissenschaft nicht mehr möglich.

Gegenstand des Logischen ist nicht das Logische, sondern die Praxis, also das tatsächlich Geschehene und Gewordene. Das Historische ist die Bewegung des realen Gegenstandes und das Logische die gedanklich korrekte Widerspiegelung des Historischen. Logisches und Historisches, Denken und Praxis gehören zusammen, bilden eine dialektische Einheit. Die Dialektik erfasst „die Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn“ (MEW 19: 205), wobei die Quelle der Bewegung der Kampf der inneren Widersprüche ist.

Das „Kapital“ ist eine logisch begründete, d.h. schlüssige, systematische Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise. Marx geht nicht wie Hegel vom „reinen Denken“ aus, sondern von den „hartnäckigsten Tatsachen“ (Engels). Kann die „dialektische Methode“ daher etwas anderes sein als die Praktizierung der Einheit von Historischem und Logischem?

Haug unterscheidet zwischen Geschichte und Genese. „Die Formgenese unterscheide ich kategorial von wirtschaftsgeschichtlicher Behandlung, bestehe gleichwohl auf ihrem praktischen Realitätsbezug, nicht empiristisch zwar, sondern derart, dass die formgenetischen Begriffe etwas real Wirkendes in vielfach überdeterminierter und vielförmig wechselnden historischen Faktizitäten fassen.“ (277) So versteht man auch, dass die genetische Rekonstruktion der Geldwerdung nicht verwechselt werden darf mit der Geldgeschichte. (282) Genese ist keine rein gedankliche Entwicklung aus sich selbst heraus; das wäre Logistizismus, den Haug ablehnt. Sie sei aber auch keine Geschichte und dennoch realitätsbezogen, folglich grundsätzlich überprüfbar an historischen Fakten. Die Genese gibt im Unterschied zur Geschichte die reale Entwicklung nicht in allen konkreten Details wieder, fotografiert sie nicht ab, sondern zeigt ihren Wesensgrund, ihre inneren, notwendigen Zusammenhänge. „Das Kapital“ beruht auf der logischen und zugleich auf der historischen Untersuchungsmethode. Marx zeigt die Kategorien und Elemente nicht nur in ihren strukturellen, sondern auch in ihren realen genetischen, dynamischen Systemzusammenhängen. Haug ist hier Engels näher als er zu glauben scheint.

Wertformenanalyse und monetäre Werttheorie

Für die Autoren der NML handelt es sich bei der Wertformenanalyse, mit der Marx die Geldwerdung begründet, um eine reine Gedankenkonstruktion, die nichts mit der wirklichen Entwicklung zu tun habe (111, 130, 152, 276). Dies Marx zu unterstellen, ist kühn. Schließlich sagt Marx eindeutig, dass es die „gesellschaftliche Gewohnheit“ gewesen sei, die bewirkt habe, dass eine spezifische Warenart mit der Äquivalentform gesellschaftlich verwächst und so zur Geldware wird (MEW 23: 83 f). Haug setzt ganz im Sinne von Marx dagegen, dass die Wertformen Praxisformen sind (107, 183). Weder er, noch Michael Heinrich, Wortführer der NML, bemühen sich aber um praktische Belege für ihre entgegengesetzten Auffassungen. Dabei liefert die Wirtschaftsgeschichte viele Beispiele, die zeigen, dass Haug hier Recht hat. Die historische Praxis bestätigt die Richtigkeit der Wertformenanalyse, mit der Marx das Geld als „letztes Produkt“ des Warenaustauschs auch logisch begründet, während für Heinrich Geld das Primäre, Ursprüngliche, vor Ware und Wert Dagewesene ist. Geld mache aus Produkten Waren. Heinrich stellt mit seiner monetären Werttheorie die marxsche Wert- und Geldtheorie von den Füßen auf den Kopf. Marx ist kein „monetärer Werttheoretiker“, sondern ein „wertformanalytischer Geldtheoretiker“, korrigiert Haug. (147) Er hat gezeigt, dass die Geldform sich aus der gewöhnlichen Warenform entwickelt, „Heinrich macht daraus den Umkehr-Fehlschluss, dass die Waren- oder Wertform unzertrennlich sei von der Geldform. Auf dieser Verkehrung baut die monetäre Werttheorie auf.“ (136) Auf dieser Basis glaubt Heinrich, dass der heutige Kapitalismus einer Geldware nicht mehr bedarf. Seit Aufhebung der Golddeckung sei Papiergeld das „wirkliche Geld“. Haug hält dem entgegen, dass der „Wertanker in Gestalt der alten Geldware“, des Goldes, „beständig in der Reserve auf Momente (lauere), die sie reaktivieren.“ (137, 166 f).

Die Vertreter der NML „brechen mit Marx und schaffen diesen Bruch zugleich aus der Welt, indem sie ihre eigene Theorie als die ‚marxsche monetäre Werttheorie‘ präsentieren.“ (153)

Die Anhänger der NML beschwören zwar, allen Dogmatisierungen und Redogmatisierungen entgegenzuwirken. „Die Form aber“, so Haug, „in der ‚logische Methode‘ und ‚monetäre Werttheorie‘ dargeboten werden, erfüllt in ihrer gegen Diskussion immunisierten Weise den Tatbestand der Dogmatisierung par excellence.“ (172) Marxens Intention, seine Kritik der Politischen Ökonomie auf der Grundlage des Anspruchs der Feuerbach-Thesen zu schreiben, werde als „verfälschende Historisierung“ und platter Empirismus missverstanden.

Der „ideale Durchschnitt“

Die Anhänger der logischen Kapital-Lektüre haben den Topos des „idealen Durchschnitts“ zu einem Erkennungswort gemacht (40), obgleich Marx diesen Ausdruck nur ein einziges Mal verwende (41). „Die Rede vom ‚idealen Durchschnitt’ fungiert als einer der rhetorischen Strohhalme, an den sich diejenigen am meisten klammern, die nicht nur nicht die Antwort, sondern nicht einmal die Frage haben“, so Haug. (52)

Da Marx die Totalität der kapitalistischen Produktionsweise untersucht, diese Totalität sich aber nicht darstellen lässt, muss er bestrebt sein, das Typische der Totalität zu erfassen. Insofern hat Haug Recht, dass mit dem Durchschnitt keine „Schnittmenge“ oder irgendein mathematischer Mittelwert gemeint sein kann. (42 f) Kein Grund aber, den Topos zu verwerfen. Er hat eine pragmatische Funktion. Gemeint ist mit dem Durchschnittlichen das Typische, Wesentliche, Dominierende, das Allgemeine, wobei das Allgemeine keine Abkehr vom Konkreten, sondern gerade dessen Erkenntnis, weil nicht nur Beschreibung, ist. Der „ideale Durchschnitt“ bildet die Wirklichkeit ab, aber nicht die Gesamtheit ihrer naturalistischen Details, sondern ihre wesentlichen Beziehungen. Als ein Beispiel sei die Wertgröße genannt; ihre Bestimmung ist nach Harvey eine große, ungelöste Frage. Sie drückt die gesellschaftliche Arbeitszeit aus, die für die Produktion einer Ware im Durchschnitt unter gesellschaftlich normalen Produktionsbedingungen notwendig ist. Das ist aber nicht das arithmetische oder gewogene Mittel aller individuellen Arbeitszeiten der an der Produktion der Ware Beteiligten. Es ist vielmehr die Arbeitszeit, mit der die fortgeschrittene Masse der Produzenten das Produkt erzeugt. „Idealer'‘ Durchschnitt meint hier das Bessere, Fortgeschrittene, das zu Erwartende oder Anzustrebende.

Gesetze und ihre Durchsetzung

„Der Begriff des Tendenzgesetzes und der entgegenwirkenden Ursachen“, notiert Haug am Beispiel des Falls der Durchschnittsprofitrate, „sind unentbehrlich, sobald man sich der Analyse komplexer Sachverhalte zuwendet.“ (273) Die Komplexität ist eine Eigenschaft der ökonomischen Realität, gekennzeichnet durch das Zusammenwirken vieler Elemente auf mehreren Ebenen, die eine Streubreite von Wirkungen begründen, Wechselbeziehungen, Variabilität und Variantenreichtum, Dynamik, Offenheit, Nichtlinearität und Emergenz. In diesem „geregelten Chaos“ setzt sich das Gesetz – der innere, notwendige Zusammenhang – nie in reiner Form durch, sondern stets tendenziell. Insofern ist der Ausdruck „Tendenzgesetz“ zwar richtig, aber zugleich überflüssig. Ein jegliches Gesetz hat Tendenzcharakter, schließt die letztlich schwächeren Gegenwirkungen gegen das Dominierende in seine Aussage ein. Deshalb wird nicht, wie viele meinen, die Tendenz (z. B. des Falls der Profitrate oder des Ausgleichs der Marktpreise zum wertdeterminierten Gleichgewichtspreis) durch gegenläufige Tendenzen aufgehalten, sondern die gegenläufigen Entwicklungen sind inhärentes Element der Tendenz. Gäbe es keine Gegenkräfte, dann auch keine Tendenz, sondern eine schnurgerade Linie ohne Abweichungen, Zickzacks und Rückschläge. „Es ist überhaupt bei der ganzen kapitalistischen Produktion immer nur in einer sehr verwickelten und annähernden Weise, als nie festzustellender Durchschnitt ewiger Schwankungen, daß sich das allgemeine Gesetz als die beherrschende Tendenz durchsetzt.“ (MEW 25: 171)

Haug wählt mit der Wertformenanalyse einen zentralen Baustein der marxschen Politischen Ökonomie und kritisiert dessen Deformierung durch die Autoren der NML. Deren „Sündenregister“ ist freilich länger. Dass Marx in seiner Werttheorie geirrt habe, behaupten keinesfalls nur seine ausgemachten Gegner. In der von Bertram Schefold im Auftrag der Herausgeber der MEGA verfassten Einführung zum dritten Band des „Kapital“ bekennt der Autor zum Beispiel, ihm sei „rätselhaft, wie man an der Vorstellung, die Arbeit als abstrakte bestimme den Wert der Waren, festhalten will.“ Das Beharren auf der Wertlehre habe Marx an analytischen Fortschritten gehindert.[4]. Wer aber das arbeitswerttheoretische Fundament angreift, der will, so ist zu schlußfolgern, dass das darauf errichtete Gesamtgebäude einstürzt.

Das Haugsche Buch stellt eine fundierte Kritik der Lesart und Ansichten der NML dar. „Auch wenn der Marxismus fürs Erste nur mehr ein Schatten seiner selbst ist – die marxsche Kapitalismuskritik ist theoretisch ungeschlagen.“ (9) „Dialektik und Praxis sind“, so Haug, „Begriffe, ohne die marxistisches Denken und Handeln seinen Geist aufgibt. Ihre Rückgewinnung wird über seine Zukunftsfähigkeit mitentscheiden.“ (206) Das Buch ist wichtig, weil es hilft, das „Kapital“ und damit die kapitalistische Welt zu verstehen.

[1] Wolfgang F. Haug: Das „Kapital“ lesen. Aber wie? Materialien zur Philosophie und Epistemologie der marxschen Kapitalismuskritik, Berliner Beiträge zur kritischen Theorie, Bd. 16, Hamburg 2013, 310 S., 19,50 Euro.

[2] Wolfgang. F. Haug: Neue Vorlesungen zur Einführung ins ‚Kapital‘, Hamburg 2006, S. 42.

[3] Vgl. Friedrich Engels: Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, in: MEW 13, S. 468ff, hier: S. 474f.

[4] Vgl. Bertram Schefold, Einführung. Der dritte Band: Herkunft und Wirkung, in: MEGA II/15, Berlin 2004, S. 898 f, 910.

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