Die schwere Wirtschaftskrise in Südeuropa hat polarisiert. Der Rechtspopulismus gibt dem Lebensstil der Südländer die Schuld, während Kreise, die sich als links verstehen, von einem Angriff der Finanzmärkte auf die schwächsten Länder der Eurozone sprechen. Auf der rechten Seite ist man stolz auf Deutschlands Rolle als „Exportweltmeister“, während von Gewerkschaften und linken Parteien die zu niedrigen Löhne in der deutschen Exportindustrie dafür verantwortlicht gemacht werden, dass die Industrien anderer Länder international nicht konkurrenzfähig sind. Aber was wäre wohl geschehen, wenn die Löhne in der deutschen Autoindustrie um 20 Prozent höher und die deutschen Autos entsprechend teurer wären? Dann hätten die Griechen, die in den letzten 20 Jahren sehr viele Autos gekauft haben (s. Tabelle 2), eben nicht deutsche, sondern französische oder italienische Autos gekauft, was am Defizit der griechischen Handelsbilanz nichts geändert hätte.
1. Ursachen der Krise
Die Krise in Spanien, Portugal und Griechenland offenbart grundsätzliche Fehler in der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union. Als die EWG, die Vorläuferin der EU, gegründet wurde, vereinte sie sechs Staaten mit einem ungefähr gleichen Entwicklungsstand. Mit der Aufnahme von drei Ländern, die in früheren Jahrhunderten von den wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüchen im übrigen Europa unberührt geblieben waren, änderte sich das, aber Brüssel hatte kein durchdachtes wirtschaftspolitisches Konzept für die nachholende Entwicklung dieser Länder. Im Glauben, die von einem kleinen Gebiet (Silicon Valley) in Kalifornien ausgegangene „New Economy“ könne zum Vorbild für ganz Europa werden, proklamierte der EU-Gipfel in Lissabon (2000) das Ziel, die Union zum „dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 3 Prozent zu machen. Rückblickend können wir feststellen, dass die Länder, die nach 2008 abstürzten (auch Irland), in den Jahren davor die höchsten Wachstumsraten in Europa erzielt hatten.
Im Folgenden beschränke ich mich auf Spanien und Griechenland, und ich versuche zu zeigen, dass die Krise entscheidend von den Verantwortlichen in Brüssel, Madrid und Athen verschuldet wurde, indem sie in den 20 Jahren davor eine falsch ausgerichtete Wachstumspolitik umgesetzt haben.
2. Der Bauboom
Die Wirtschaften beider Länder erreichten in den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende tatsächlich Wachstumsraten von mehr als 3 Prozent. Dieses Wachstum wurde von den Sektoren Hoch- und Tiefbau angetrieben. Infolgedessen stieg der Anteil der Beschäftigten in der Bauwirtschaft auf ungewöhnlich hohe Werte (Tabelle 1). Es wurden einerseits Häuser und Wohnungen gebaut, andererseits wurde in die verkehrstechnische Infrastruktur investiert. Verführt durch das tiefe Zinsniveau nach der Einführung des Euro haben viele Spanier sich hoch verschuldet, um sich ein Haus zu bauen. „Der Immobiliensektor war der Turbomotor des Aufschwungs. Jeder Spanier träumte vom Eigenheim. Und fast jeder Spanier bekam eine Hypothek, um sich eines zu kaufen. Die Blase wuchs, bis sie platzte.“[1] Und heute? „Über 1 Million Wohnungen im ganzen Land stehen leer“, berichtet derselbe Korrespondent aus Spanien.
Tabelle 1: Beschäftigungs-Anteil der Bauwirtschaft vor der Krise (in Prozent)
Tabelle siehe PDF!
Quelle: Encyclopaedia Britannica, World Data in Book of the Year 1993, 2001 and 2007
Die gleiche Bauwut und die Impulse der EU trieben den spanischen Staat zu überzogenen Ausgaben für die Infrastruktur: neue Strassen, Hochgeschwindigkeitsbahnen und Flughäfen entstanden überall. Heute hat Spanien fast dreimal soviel Strassen wie Deutschland, und die Zahl der Autos pro Person ist fast gleich (Tabelle 2). Nun ist es nicht immer schlecht, wenn neue Strassen und Bahnen den Transport von Gütern verbilligen und Reisezeiten verkürzen. Aber es kommt darauf an, welche Güter befördert werden sollen und wie viele Reisende einen neuen Verkehrsweg benutzen. Der Eisenbahnbau in den klassischen Industriestaaten hat immer zuerst Orte verbunden, die bereits vorher wirtschaftlich entwickelt waren oder an denen Massengüter wie Kohle, Eisenerz und Stahl produziert wurden. Ebenso wurden die ersten ICE-Strecken in der Bundesrepublik zwischen Mannheim und Stuttgart sowie zwischen Frankfurt/München und Hamburg gebaut, also zwischen bedeutenden wirtschaftlichen Brennpunkten.
Ganz anders ist man in Spanien vorgegangen. Mit der Weltausstellung 1992 in Sevilla, im wenig entwickelten spanischen Süden, wollte Spanien die Erinnerung an alte imperiale Größe wachrufen, denn Sevilla war einmal das Zentrum des spanischen Überseehandels und der Sitz der Kolonialverwaltung. Deshalb musste der erste spanische Hochgeschwindigkeitszug zwischen Madrid und Sevilla verkehren. Nostalgie, nicht wirtschaftliche Vernunft gab den Ausschlag.
Ein grotesker Fall von gigantischer Fehlinvestition war der Bau eines Flughafens bei Ciudad Real, in einer ländlichen Gegend 200 km südlich von Madrid. Dieser Flughafen, der pikanterweise auch noch den Namen Don Quijote trug, sollte, so hoffte man, von 2,5 Millionen Passagieren im Jahr benutzt und außerdem eine Drehscheibe für den internationalen Frachtverkehr werden. Nur drei Jahre nach der Einweihung wurde er wegen mangelnder Nachfrage geschlossen.[2]
Tabelle 2: Wichtige Wirtschaftsdaten von Griechenland, Spanien und Deutschland im Jahr 2007
Tabelle siehe PDF!
Quelle: Encyclopaedia Britannica, World Data in Book of the Year 1993, 2001 and 2007.
Was für Spanien die Weltausstellung in Sevilla, das war für Griechenland die Olympiade in Athen. Die griechische Wirtschaft hatte vor der Olympiade 2004 Wachstumsraten von mehr als 3 Prozent, weil sehr viel gebaut wurde: ein neuer Flughafen und eine U-Bahn für Athen, Bauten für die Olympiade, eine Brücke über die Meerenge zwischen der Peloponnes und dem westgriechischen Festland und neue Autobahnen im ganzen Land.[3] Aber die meisten dieser Bauten, die sehr teuer waren, hatten keinen langfristigen Nutzen, weil sie an die Struktur der griechischen Wirtschaft nicht angepasst waren.
3. Welche Infrastruktur braucht ein Land?
Seit dem Altertum sind die Griechen ein Volk von Seefahrern, und im 20. Jahrhundert war die griechische Handelsflotte eine der größten der Welt. Da ist es logisch, dass in Griechenland auch Schiffe gebaut werden. Aber Handelsflotte und Werften brauchen keine Autobahnen. Die größten Industriekomplexe liegen bei Athen und bei Thessaloniki, also in nächster Nähe zum Meer. Um ihre Rohstoffe zu beziehen und ihre Produkte zu exportieren, brauchen sie Häfen und keine Autobahnen. Der Straßenbau hat sicher die Verkaufszahlen von deutschen Autos in Griechenland ansteigen lassen, denn in der Zeit von 1990 bis 2007 stieg der Bestand an Personenwagen von 1,7 auf 4,8 Millionen. Das trug bei zu einem sehr großen Defizit in der Handelsbilanz. Im Jahr 2007 hat Griechenland Waren im Wert von 64 Milliarden US-Dollar importiert und nur für 21 Milliarden US-Dollar exportiert (Tabelle 2).
Soweit andere Daten erkennen lassen, hat in letzter Zeit eine massenhafte Wanderung vom Land in den Großraum Athen stattgefunden, wo heute 3 der 11 Millionen Griechinnen und Griechen leben. Wahrscheinlich sind die Zuwanderer durch gute Verdienstmöglichkeiten vor und während der Olympiade angelockt worden und nicht mehr zurückgekehrt. Auch die aufgeblähte Staatsbürokratie war ein Grund für den Drang in die Hauptstadt. Dadurch fehlt es heute auf dem Land an Arbeitskräften, und die Lücke füllt man nun mit Ausländern, die sogar aus Pakistan und Bangladesh herangeflogen werden. Dieser absurde Zustand wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als es im April 2013 zu blutigen Zusammenstössen zwischen griechischen Vorarbeitern und Lohnsklaven aus den genannten Ländern kam.[4]
Die teure Infrastruktur für die Olympiade hat Kosten verursacht, die ein kleines Land nicht aufbringen kann, und sie wird danach kaum noch gebraucht. Ein weiterer Grund der hohen Verschuldung liegt in den viel zu hohen Ausgaben für die Armee (4,1 Prozent des BIP) und für den Import von Kriegsmaterial. Griechenland kaufte in Deutschland mehr Waffen als jedes andere Land[5], und seine Armee ist größer als die von Spanien. Wenn man sich daran erinnert, dass die Vordenker der europäischen Einigung vor allem den Frieden in Europa sichern wollten, dann erscheint es absurd, dass heute ein Staat, der seit 30 Jahren der EU angehört, eine angebliche Bedrohung durch die Türkei als Vorwand benutzt, um einen großen Teil seines Budgets für seine Armee zu verschwenden. Zudem hat der griechische Staat auch das Problem, dass die Reichen fast keine Steuern zahlen. Aber das ist nicht der einzige Grund für den riesigen Schuldenberg.
Es ist nicht schwer, mit dem Bau von Brücken, Strassen und Sportstadien vorübergehend neue Jobs zu schaffen. Aber die Baukosten können sich, wenn überhaupt, erst nach vielen Jahrzehnten amortisieren. Und wenn alles fertig gebaut ist, werden die Bauarbeiter nach Hause geschickt, und was kommt dann? Bauarbeiter, die keine andere Qualifikation haben, können kaum in technisch hoch entwickelten Branchen eingesetzt werden. Deshalb ist die Hoffnung, man könne in Südeuropa nach all den Investitionen in die Infrastruktur, die bereits getätigt wurden, mit neuen Bauprojekten der gleichen Art die Wirtschaft ankurbeln, eine Illusion. Historische Beispiele zeigen, dass eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung nur vorübergehend hohe Investitionen in die Infrastruktur erfordert. Der Bau der britischen Eisenbahnen verschlang zwar im Jahrzehnt 1840-1849 annähernd 10 Prozent, aber um 1900 nur noch 2 Prozent des Volkseinkommens.[6]
Wenn die Krise dauerhaft überwunden werden soll, dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden. Die Bauindustrie muss schrumpfen. Anstatt Warenströme quer durch ganz Europa zu generieren, müssen regionale Wirtschaftskreisläufe gestärkt werden. Für Griechenland heißt das, dass es den Handel mit der Türkei und mit seinen Nachbarn auf dem Balkan ausbaut, und dass die Arbeitslosen im Großraum Athen, die in den letzten 30 Jahren zugewandert sind, auf das Land bzw. in die kleineren Städte zurückkehren. Es ist wahr, dass die europäische Zivilisation ohne das klassische Griechenland nicht entstanden wäre, aber es ist ebenso wahr, dass der Sinn der alten Griechen für Grenzen und für das rechte Maß im modernen Europa völlig verloren gegangen ist.
[1] Oliver Meiler, Ein Kaleidoskop des Düsteren, in: Der Bund, Bern, 21. 11. 2011.
[2] Ebd.
[3] Gregor Kristidis, Griechenland unter dem Diktat der Troika, in: Widerspruch 61, Zürich 2011, S. 37-48.
[4] Neue Zürcher Zeitung, 19. 4. 2013.
[5] Paul Haydon, Greece’s austerity doesn’t extend to its arms budget, in: The Guardian, 21. 3. 2012.
[6] Ph. Deane und W. A. Coale, British Economic Growth 1688-1959, Cambridge 1967, 2nd. ed., S. 239.