Neue China-Studien

Chinas Entwicklung: Geschichte und Gegenwart

Anmerkungen zu Aglietta/Bai, China’s Development. Capitalism and Empire

von Helmut Peters
Dezember 2013

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Michel Aglietta, Professor an der Universität Paris-X Nanterre und wissenschaftlicher Berater am Center of International Studies and Forecasting (CEPII), und Guo Bai, PhD an der HEC Paris, weisen sich in ihrer Veröffentlichung als fundierte Kenner der chinesischen Entwicklung aus. Fokussiert auf den Faktor „substainabilty“ befassen sie sich mit der älteren und jüngeren chinesischen Geschichte, um sich über die Zukunft des Landes zu äußern. Es geht ihnen um die Spezifik chinesischer Entwicklung, die sie vor allem anhand der Wirtschafts- und Sozialgeschichte herausarbeiten. Dabei findet die Verflechtung von ökonomischen Transformationen und institutionellen Veränderungen ihr besonderes Interesse. Sie sehen hierin eine „Eigenart“ chinesischer Entwicklung. Unter diesem Gesichtspunkt wenden sie sich auch der Frage zu, welche Bedeutung der Zivilgesellschaft für die weitere Gestaltung des Kapitalismus in China unter den Bedingungen staatlicher Souveränität zukommt. Insgesamt praktizieren die Verfasser theoretisch und methodisch in meinem Verständnis eine Art von evolutionärem Reformismus. Die klassenmäßige Betrachtung der gesellschaftlichen Erscheinungen liegt ihnen nicht. Im Grunde bleiben sie dem äußeren Gesellschaftsbild verhaftet.

Kapitalismus oder Marktwirtschaft?

In ihrem Kapitalismus-Bild grenzen sich die Autoren vom Neoliberalismus („Washington Consensus“) ab. Sie halten jedoch generell am Kapitalismus fest, der für sie reformiert die weitere Perspektive Chinas darstellt. Sie unterscheiden zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft, ohne die enge Verbindung zwischen beiden zu negieren. Der Kapitalismus ist für sie ein „System von Machtbeziehungen, das eine Regulierung durch Institutionen außerhalb der Marktwirtschaft einschließt“ (2). Die kapitalistische Gesellschaft brauche, um lebensfähig zu sein, ein Netz von sozialen Institutionen. Dieses Netz habe die Funktion, den Markt zu regulieren und damit zu gewährleisten, dass die „Verzerrungen“, die durch die Akkumulation des Kapitals entstehen würden, die nationale Kohäsion nicht infrage stellen. Dies spiele nicht nur eine wichtige Rolle für die Minderung von Spannungen zwischen den ökonomischen Akteuren, sondern es würde auch dazu beitragen, den Weg zu stabilem ökonomischem und umweltverträglichem Wachstum mit steigendem Wohlstand (vor allem durch Bildung) für alle zu beschreiten.

Die acht Kapitel des Buches bilden drei Teile. Der erste Teil befasst sich zunächst mit der Frage, was das kaiserliche China (Empire) über zweitausend Jahre so stabil machte, die Entwicklung des industriellen Kapitalismus jedoch nicht einzuleiten vermochte. Dann wird den Ursachen für die gesellschaftliche Zerrüttung des Landes im Ergebnis der politischen Kämpfe des 20. Jahrhunderts nachgegangen. Dieser Abschnitt schließt auch die fast 30 Jahre Volksrepublik unter der Herrschaft Mao Zedongs ein. Im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen die erfolgreiche Entwicklung der Reformen seit 1978 und die in ihrem Gefolge aufgekommene Ungleichmäßigkeit in der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes. Letztere wird nach Einschätzung der Autoren in den nächsten Jahrzehnten dramatische Veränderungen erfordern. Im dritten Teil wird versucht, ein theoretisches Modell für eine künftige stabile Entwicklung Chinas mit steigendem Wohlstand des Volkes zu entwerfen. Die Autoren geben damit ihre Antwort auf die Frage, welcher Typ der politischen Ökonomie das Vorhaben der chinesischen Führung, eine „harmonische“ Gesellschaft zu gestalten, unterstützen könnte. Für die Beweisführung ihrer Aussagen bedienen sich die Verfasser makroökonomischer Theorien von A. Smith über Marx bis Schumpeter, zahlreicher Diagramme, Tabellen und vergleichender theoretischer Einschübe. Eine ausführliche Bibliographie und ein Index vervollständigen die Veröffentlichung.

Die Prägekraft historischer Institutionen

Die Existenz sozialer Institutionen in China geht nach Auflassung von Aglietta und Guo auf die Geschichte des zweitausendjährigen Kaiserreichs zurück. In der Kultur des Volkes verwurzelt wären sie von Generation zu Generation weiter vermittelt worden. Um das heutige China verstehen zu können, gelte es deshalb, „die Eigenheiten des historischen Weges dieses Landes, seines sozialen Systems und kollektiven Gedächtnisses zu erkennen, die sich aus seiner sehr alten Kultur ableiten, heute noch existieren und einen starken Einfluss auf das Verhalten der Bevölkerung und die Struktur seiner Gesellschaft ausüben“ (11).

Die „unverwüstlich“ erscheinende Natur des imperialen China wird auf eine Reihe von Besonderheiten in der Entwicklung des Staates zurückgeführt. Das Bild, das die Verfasser zeichnen, weist folgende Grundelemente auf: Das imperiale China hatte eine spezielle Sozialstruktur, die nur aus zwei Schichten bestand – die „gelehrten Bürokraten“ um die absolute zentrale Autorität des Kaisers herum und die große Masse der Bevölkerung, die in dem auf der Klanfamilie beruhenden umfassenden Netz sozialer Beziehungen fest eingebunden war. Das gesamte Leben jedes ihrer Mitglieder hing in allen Facetten von dem Funktionieren dieses Netzes ab. Im Unterschied zur Entwicklung der westlichen Länder gab es keine Aristokratie, keine Kirche oder Städte, die gegen den Staat opponieren konnten. Die Legitimität des Souveräns beruhte – hier deckt sich die Auffassung der Autoren mit der Doktrin von Kongzi (Konfuzius) – direkt auf der Zufriedenheit des Volkes mit dem vom Staat zu gewährleistenden allgemeinen sozialen Wohlergehen. Der Staat konnte in Wahrnehmung seiner Interessen in jede private Domäne (auch in das formal gemeinsame Eigentum der Klanfamilien – H.P.) nachhaltig eingreifen, was letztlich auch der privaten kapitalistischen Akkumulation entgegenstand. Die einzige Herausforderung für den Staat waren „kollektive Aktionen von Bauern“ (36).

Die Frage nach den Faktoren, die die Stabilität des imperialen China bewirkten, bewegt die wissenschaftliche Forschung seit langem. Die Buchautoren tragen eine neue interessante These in die Debatte. Ich gehe auf der Suche nach einer Antwort davon aus, dass das kaiserliche China eine sich selbst genügende und sich ständig selbst reproduzierende Ackerbaugesellschaft war. Wesentlich für die Stabilität dieser Gesellschaft waren die Struktur und die Vitalität ihrer Grundeinheit, der Klanfamilie mit ihrer Verhaftung im Ahnenkult. Sie vermochte sich, wie die Geschichte zeigt, nach jeder Art selbst größerer Erschütterung wieder herzustellen und zu revitalisieren. Auf die relative Stabilität dieser imperialen Gesellschaft nahm auch die konfuzianistische Gesellschaftslehre und -ethik einen wesentlichen Einfluss. Die Verfasser betonen zwar die positiven Elemente in der Gesellschaftsdoktrin, die Kongzi zu seiner Zeit vertrat. Sie lassen jedoch unbeachtet, dass die herrschende Klasse im asiatisch-feudalen China seit dem 2. Jahrhundert vor u. Z. aus dieser Doktrin eine Ideologie und gesellschaftliche Verhaltensweise formte, die ihre Untertanen in Botmäßigkeit halten sollte. Die davon beeinflusste Denk- und Handlungsweise des Volkes hatte sich tief verwurzelt und wirkt noch in die Gegenwart hinein.

Die Autoren nutzen ihre (klassenindifferenten) Kriterien für die Stabilität des kaiserlichen Imperiums auch bei der Bewertung der veränderten sozialen Verhältnisse Chinas in den nachfolgenden Zeitabschnitten. So vertreten sie die Auffassung, dass die soziale Grundstruktur der zwei Schichten des kaiserlichen Imperiums mit einer Ausnahme, der Zeit zwischen den Opiumkriegen und der Gründung der Volksrepublik, bis heute in China vorhanden sei. Aus dem Buch ergibt sich für mich der Eindruck, dass für die Verfasser auf diese traditionelle Gesellschaft mit ihrer besonderen Sozialstruktur historisch die „pluralistische Gesellschaft“ folgt, in der mit der „Zivilgesellschaft“ eine Kraft existiert, die das existierende politische System im Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft zu reformieren vermag. Da ihrer Auffassung nach bis heute in China keine „pluralistische Gesellschaft“ aufgekommen sei, existiert nach dieser Logik dort eine dem imperialen China vergleichbare Gesellschaftsstruktur.

1949: Wiederherstellung stabiler Verhältnisse

Das erklärt, weshalb sie bei der Charakterisierung der ökonomischen und politischen Veränderungen durch die „kommunistische Revolution“ von 1949 folgende wesentliche Faktoren herausstellen: die „Wiederherstellung des hierarchischen bürokratischen Regimes unabhängiger Souveränität“ mit Mao Zedong anstelle des Kaisers als „ultimative Autorität“, die Rückkehr zur Zwei-Schichten-Gesellschaft des imperialen Zeitalters durch die Eliminierung der Großgrundbesitzer und der Privatunternehmer in der „sozialistische Umgestaltung“ und die Wiederherstellung der nationalen Einheit. Damit würde das neue politische System trotz völlig anderer Ansprüche „viele Ähnlichkeiten mit dem imperialen China auf(weisen)“ (81-82). Tatsächlich war die traditionelle Ackerbaugesellschaft durch die ausländische Kolonialpolitik seit 1840 anfänglich aufgebrochen worden. Und unter Führung der KP Chinas wurde dieser Prozess in Richtung der Entwicklung einer modernen Gesellschaft gelenkt, wenn auch zunehmend durch eine voluntaristisch-nationalistische Politik untergraben. Ich meine, dass auch diese Einschätzung der Autoren einseitig ist, wonach das oberste Anliegen des politischen Regimes in der Volksrepublik immer die Erhaltung der Stabilität seiner Macht gewesen sei (z.B. 99). Fakt ist nun einmal, dass die KP China den Schwerpunkt ihrer Politik immer auf die Entwicklung gelegt hat („Die Entwicklung ist eine Muss.“). Das entspricht der Logik der dialektischen Beziehungen zwischen den beiden Faktoren Stabilität der Macht und Entwicklung des Landes. Die Stabilität erscheint als Grundlage, die Entwicklung hingegen als Bedingung für die Stabilität.

Die Autoren sehen in der 1949 erneut errichteten autoritären Macht und der wieder gewonnenen nationalen Souveränität die beiden entscheidenden Faktoren, die die Einleitung der Industrialisierung des Landes durch die „sichtbare Hand“ (Big Push-Industrialisierung) möglich machten. Nach Meinung der Verfasser konnte die Kommandowirtschaft dem Land zwar bestimmte Voraussetzungen für den nachfolgenden „dynamischen Weg der Industrialisierung“ schaffen, ihn aber noch nicht einleiten. Die Legitimierung des Führungsanspruchs führen die Verfasser wieder allein auf die Verbesserung der sozialen Wohlfahrt in den ersten zehn Jahren zurück. Die stagnierenden Einkommen der Bevölkerung in den nachfolgenden zwei Jahrzehnten hätten die Regierung der KP Chinas jedoch in große Legitimationsschwierigkeiten gebracht. Es liegt auf der Hand, auch andere Faktoren hinzuzufügen, die die Legitimation der Führungsrolle der KP Chinas objektiv begründeten bzw. infrage stellten. Im Positiven ist hier in erster Linie die nationale und soziale Befreiung des Volkes von seinen Unterdrückern zu nennen, während im Negativen vor allem die gesellschaftlichen Auswirkungen des „Großen Sprungs nach vorn“, die Geschehnisse um die „Kulturrevolution“ und die absolute internationale Isolierung Chinas gegen Ende der 1960er Jahre zu erwähnen sind, Geschehnisse, die zu grundlegenden Auseinandersetzungen in der Partei geführt hatten. Es gibt auch Passagen im Buch, bei denen der mit dem Stoff vertraute Leser auf mangelnde Objektivität der Verfasser stößt. So erscheint die einsetzende Industrialisierung der 1950er Jahre als ein Prozess, in dem China auf sich allein gestellt war, die breite Unterstützung durch die Sowjetunion bis 1959 wird nicht einmal erwähnt.

1978: Kapitalintensives Wachstum

Aus der Sicht der Autoren haben sich mit dem Übergang zur Reform- und Öffnungspolitik die Grundlagen des politischen Systems nicht verändert.

In der Einleitung eines dynamischen (extensiven) Industrialisierungsprozesses wird auch im Buch das bemerkenswerteste Ergebnis der Reformpolitik in den letzten drei Jahrzehnten gesehen. Die zwei entscheidenden Faktoren, die diesen Prozess möglich machten, sehen die Verfasser in der Änderung der Politik (3. Plenum 1978) und in der zunehmenden Einführung von Elementen des freien Marktes in die Wirtschaft. Neben den Gemeinsamkeiten stellen die Autoren auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Entwicklungsabschnitten der Reformpolitik („growth regimes“) heraus. Diese „growth regimes“ hätten sich jeweils durch einen besonderen Zusammenhang demographischer, ökonomischer, sozialer und politischer Faktoren ausgezeichnet und ihr spezielles Wachstumsmoment demonstriert. Während in der ersten Phase der Reform (1978-1992) noch bestimmte „sozialistische Institutionen“ weiter existierten und genutzt wurden, hätte sich das beim Übergang zur zweiten Phase der Reform (1993-2008) geändert. Aus ihren Untersuchungen schließen die Autoren, dass der Schwerpunkt jetzt auf die schrittweise Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft, auf die Stärkung der politischen und fiskalischen Kontrolle durch die Zentralregierung und auf die Einführung der Marktwirtschaft gelegt wurde. Auf diesem Wege wurde China vor allem seit Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur zu einer Wirtschafts-, sondern auch zu einer Finanzmacht von internationaler Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird im Buch auf die entscheidende Rolle des Exports für das schnelle Wachstum der Wirtschaft, für die makroökonomische Stabilität im Innern und für die politische Stabilität des Regimes aufmerksam gemacht (127). Im Mittelpunkt der Analyse der 2. Phase der Reform steht die Problematik der nachteiligen Position des immateriellen Kapitals gegenüber dem materiellen Kapitals. Das ist für die Autoren der „Schlüsselwiderspruch“ im Wachstumsprozess dieser Zeit, den sie folgendermaßen erklären: Aus einer Reihe von Gründen war der Preis für das immaterielle Kapital auf ein niedriges Niveau verzerrt worden. Das lud zu extensiven Investitionen von kapitalintensiven Projekten ein und verkleinerte die Rolle der Arbeit in der Produktion. Die Löhne verblieben auf einem niedrigen Niveau, das minderte wiederum die Kaufkraft der Haushalte. Die gewaltige Produktion konnte nicht durch die innere Nachfrage abgeschöpft werden und strömte auf den äußeren Markt, wo sie ein Ungleichgewicht verursachte. Zugleich blieb die innere Konsumtion träge, und das soziale Ungleichgewicht vertiefte sich (284). Das heißt, die Unausgewogenheiten im Handel Chinas mit dem Rest der Welt waren der Sache nach strukturelle Unausgewogenheiten in China selbst. Die Verteilung der Einkommen konnte so kein stabiles Wachstum der Konsumtion ohne ständig zunehmende Verschuldung garantieren. Ich halte diese Entwicklung für strategisch gewollt. China folgte damit dem Beispiel Japans, Südkoreas und Taiwans, zunächst den Export billiger Waren als Haupttriebkraft für den Einstieg in die Modernisierung der Wirtschaft zu nutzen. Typisch für dieses Vorgehen war zugleich das einseitige Streben nach einem maximalem Wachstumstempo auf Kosten der sozialen Absicherung, der Bildung und medizinischen Versorgung. Das untergrub die Stabilität und transportierte im Volke ein Gefühl zunehmender Unsicherheit.

Der Preis für diese Politik war hoch. Wie im Buch dargestellt kam es zu einer Verschärfung der strukturellen Imbalance in der sozialen Wohlfahrt des Landes. Der Anteil der Einkommen der Bevölkerung am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nahm nicht nur deutlich ab. Durch die zunehmenden Unterschiede im Einkommen der Bevölkerung (auch zugunsten des Kapitals auf Kosten der Arbeiter), zwischen Stadt und Land, zwischen den Regionen und zwischen den Branchen konnten breite Teile des Volkes nicht mehr bzw. bei weitem nicht ausreichend von den Reformen profitieren. Die Autoren sehen in der damit im Volke hochgekommenen Unzufriedenheit mit dieser sozialen Ungerechtigkeit ein Zeichen für eine zunehmende Gefährdung der politischen Macht. Die unter den Führungskadern von Partei und Regierung verbreitete Korruption wirkte sich jedoch nicht minder darauf aus. Ich gehe von drei Faktoren aus, die die chinesische Führung zwingen, einen neuen Kurs der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes einzuschlagen – die neue globale Lage nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise für die auf Export orientierte chinesische Wirtschaft, die Zuspitzung der ökonomischen und ökologischen Widersprüche im Produktionsprozess und der überaus ernste Verlust an Vertrauen zur regierenden KP China unter breiten Teilen der Bevölkerung.

Mit partizipativer Demokratie zur harmonischen Gesellschaft

In ihren Überlegungen über das Modell der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung Chinas äußern sich die Verfasser zu ökonomisch-sozialen, politisch-demokratischen und internationalen Aspekten. Das Kernproblem im ökonomisch-sozialen Bereich ist aus ihrer Sicht, ein stabiles Wachstum zu sichern. Ihre Vorschläge gehen in folgende Richtung: Als strategisches Ziel sollte die Optimierung des realen Reichtums der Nation an die Stelle der Maximierung des BIP-Wachstums treten. Die Kapitalakkumulation ist auf die sozialen und Umweltbedürfnisse auszurichten. Für die Durchsetzung dieser beiden grundsätzlichen Veränderungen halten sie Korrekturen an der fiskalischen Politik für alle Ressourcen (vor allem die Aufwertung des Humankapitals), umfassende Veränderungen auf allen administrativen Ebenen und die Einbeziehung des Volkes in die Veränderungen für vordringlich. Eine umweltfreundliche Urbanisierung ist für sie eine Triebkraft, um eine weniger ungleiche Sozialstruktur und eine postmoderne Konsumtion zu erreichen. Ob China in diesem Sinne seine Ökonomie ausgleichen und auf dieser Grundlage in die nächste Phase der Reform eintreten wird, hängt nach Meinung der Verfasser stark von der Politik des nächsten Jahrzehnts ab. Die Frage, die sich für mich daraus ergibt, lautet: Geht diese angedachte Neuorientierung der chinesischen Entwicklung überhaupt mit dem Wesen des Kapitalismus in China zusammen?

Die Verfasser meinen wohl, mit ihren politischen Vorschlägen darauf eine Antwort gefunden zu haben: Das autoritäre Regime sollte für die Verwirklichung der obigen Vorschläge „die Zivilgesellschaft sich mit politischem Ziel in jedem Bereich der sozialen Strukturen selbst organisieren zu lassen“. Die so entstehenden Distriktkomitees, Dörfer, Denkfabriken, Konferenzen der Bürger, Konsumvereinigungen, NGOs u.ä. wären dann allesamt „Strukturen des politischen Regierens, Teil und Stück der partizipatorischen Demokratie“ (289). Die Autoren geben sich optimistisch, dass China auf diese Weise zusammen mit der Entwicklung der Städte und der Angelegenheiten des Umweltschutzes „eine originelle Art des Kapitalismus entwickeln (kann)“ (295). Dem politischen Regime wird nahe gelegt, nach der „konfuzianischen Konzeption von der guten Regierung in der Einheit von Ren (in den Beziehungen zu anderen gerecht und weise handeln) und Li (die ethischen Rituale befolgen – H.P)“ zu handeln; denn „Regieren ist nicht Ausübung von Macht, sondern die Fähigkeit, die zwischenmenschlichen Beziehungen zu harmonisieren“. Die im Konflikt liegenden individuellen Interessen könnten so durch die Wirkung der politischen Ordnung in gemeinsame Interessen umgewandelt werden (290). Das wäre der Weg zur „harmonischen Gesellschaft“. Abgesehen davon, dass Kongzi mit seiner Doktrin bereits zu seiner Zeit an den Gesellschaftsverhältnissen des aufkommenden asiatischen Feudalismus scheiterte, steht dieser Entwicklung heute ein politisches Regime entgegen, das seine Macht nicht durch das Aufkommen einer „zweiten Regierung“ durch gesellschaftliche Organisationen infrage stellen lassen will. Die Verfasser vermochten auch kein Beispiel zu nennen, dass es der „Zivilgesellschaft“ in irgendeinem kapitalistischen Staat schon gelungen wäre, das Wesen des Kapitals den sozialen Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft anzupassen.

International gilt die Aufmerksamkeit der Autoren der Schaffung eines neuen politischen Modells im Kampf gegen die enormen Umweltgefahren. Die entscheidende Rolle in dieser Auseinandersetzung wird wieder der „Zivilgesellschaft“ beigemessen. Dieser „Typ von konkreter und interaktiver Demokratie“ müsse auf der Basis ethischer Prinzipien noch stärker auf die dafür erforderlichen Veränderungen im Weltkapitalismus hinwirken. Wenn China wünsche, „die Jagd nach Hegemonie zu beenden“, seine Außenpolitik unter dem „Banner einer humanen Autorität“ betreibe, die Führung beim Übergang zu einem Modell stabilen Wachstums übernehme und sich durch eigene Erfolge im Kampf gegen den Klimawandel hervortue, könnte es das Vertrauen der anderen Länder gewinnen. Harmonie „unter dem Himmel“ beruhe, wie die klassische chinesische Philosophie lehrt, nicht auf den „Regeln der Hegemonie“, sondern bedürfe der „humanen Autorität“ (302-304). Wohl vernehme ich die Botschaft, allein, mir fehlt wieder einmal der Glaube.

Die Meinungen in der wissenschaftlichen Debatte über die chinesische Entwicklung gehen weit auseinander. Das ist angesichts der Kompliziertheit des Studienobjekts nichts Außergewöhnliches. Ich hoffe, dass der Meinungsstreit, den ich hier und da mit den Autoren geführt habe, viele Leser zusätzlich anregen wird, das Buch in die Hand zu nehmen.

2 Michel Aglietta/Guo Bai, China’s Development. Capitalism and Empire. Routledge Taylor & Francis Group, London and New York 2013, 319 S., 102,77 Euro.