Matthias van der Minde, Die Atomwaffen nieder! Völkerrechtliche und zivilgesellschaftliche Wege der atomaren Abrüstung, VSA-Verlag, Hamburg 2010, 196 S., 16,- Euro.
Es ist sechs Minuten vor Zwölf, sechs Minuten, bis sich die Menschheit endgültig ausrottet! Zumindest wenn man der Doomsday Clock der Zeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists vertraut, dann stehen diese sechs Minuten für die begrenzte Zeit, die der Menschheit bleiben, einen drohenden Atomkrieg abzuwenden. 2010 ist diese Uhr erstmals wieder eine Minute von der drohenden Gefahr abgerückt, welches mit US-Präsident Barack Obamas Vision von einer atomwaffenfreien Welt und den damit verbundenen Gesprächen zwischen den USA und Russland zur Reduktion ihrer Arsenale begründet wird. Seit 1995 ist die Uhr aber der Zwölf beängstigend nahe gerückt, zuletzt rückten die Wissenschaftler die Uhr fünf Minuten nahe an den drohenden Krieg heran. Gründe waren die Zuspitzung der weltweiten Situation im Zuge der Atomtests Nordkoreas und der wahrscheinlichen Pläne Irans, sich Atomwaffen anzueignen. Auf dem Stand von fünf vor Zwölf, wie es in den Jahren bis 2010 der Fall war, war die Uhr seit Anfang der 1980er Jahre nicht mehr gewesen.
Aber sind wir mal ehrlich: Was wissen wir eigentlich noch über Atomwaffen? Die meisten von Ihnen werden sich an die Zeiten der Systemkonfrontation erinnern und die ständige Bedrohung eines atomaren Erstschlags der Supermächte. Doch inzwischen ist die Größe der Gruppe derjenigen, die überhaupt keine Erinnerungen mehr an die atomare Bedrohung haben kann, erheblich angestiegen. Umso notwendiger schlägt Matthias van der Mindes Botschaft ein: Die Bedrohung ist nach wie vor da.
Wer hätte gedacht, dass sich auch noch 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges mehrere tausend Nuklearwaffen in höchster Alarmbereitschaft befinden und binnen weniger Minuten einsetzbar sind? Wer weiß heute noch, dass weiterhin gefährliche Unfälle mit diesen Waffen stattfinden? Wer ist schon informiert, dass auch die verbleibenden Waffen ständig modernisiert werden? Wer kann sich vorstellen, dass neben Nordkorea auch China, Indien und Pakistan systematisch an der Entwicklung neuer Atomwaffen arbeiten. Wer ist sich schon darüber bewusst, dass keine großen naturwissenschaftlichen Kenntnisse nötig sind, eine Atomwaffe zum Einsatz zu bringen. Matthias van der Mindes Argumente für eine atomwaffenfreie Welt stützen sich genau auf diese Fakten und sein umfangreiches Hintergrundwissen rund um Atomwaffen, atomare Abrüstung und die völkerrechtlichen Verträge. Er schreckt dabei auch nicht vor naturwissenschaftlichen Hintergründen zurück.
Zudem hat er ein Bewusstsein, welches die drängenden Probleme in Bezug auf atomare Abrüstung sind: Da ist erstens der Iran, der sechs Resolutionen des UN-Sicherheitsrates zum Trotz seine Uran-Anreicherung weiter fortsetzt. Auch Nordkorea macht dem Autor Sorgen, welches sowohl 2006 als auch 2009 Atomwaffentests durchgeführt hat. Außerdem besteht das drängende Problem des Nuklearterrorismus. Gerade die Sicht auf die bestehenden völkerrechtlichen Dokumente bewirkt einen gewissen Pessimismus gegenüber der Frage nach der atomaren Abrüstung. Doch verharrt der Autor nicht in der Analyse des Ist-Zustands, sein Ziel ist die Veränderung und zwar auf völkerrechtlichem und zivilgesellschaftlichem Wege.
Van der Minde schlägt völkerrechtlich eine Enthebung der Nuklearwaffen aus dem Alarmzustand und eine „No-first-use-policy“, um Vertrauen zwischen den Nationen zu schaffen, vor. Ein weiterer Vorschlag betrifft multilaterale Übereinkünfte zur Abrüstung. Doch stellt sich hier auch die Frage der Umsetzung: Der Verfasser spricht die Kapitalinteressen der USA und Russlands an, Waffen zu exportieren, jedoch expliziert er nicht weiter, wie solchen Interessen entgegengewirkt werden kann. Hinzu kommt, dass im Zuge des Kampfes gegen Massenvernichtungswaffen auch nicht alles erlaubt werden darf. Schon vor dem Irak-Krieg sind Teile der Staatengemeinschaft dem Märchen von Massenvernichtungswaffen in Händen Saddam Husseins aufgesessen und stützten andere, zum Teil ökonomische Interessen der Vereinigten Staaten.
Des Weiteren setzt der Autor auf die Entspannung lokaler Konflikte, um eine globale Abrüstungsstrategie zu verwirklichen. Doch was ist der erste Schritt? Der Autor spricht es am Beispiel Nordkoreas an: Kein Staat würde einen Vertrag mit Nordkorea schließen, wenn es nicht sein Atomwaffenprogramm aufgibt. Könnte nicht auch der Schlüssel zur Entspannung anderer Konflikte die atomare Abrüstung sein? Gleichzeitig gibt es aber auch Krisenherde, etwa den Nahen Osten, in denen erst ein Friedensschluss überhaupt Abrüstung, etwa die von Israel, möglich macht. Matthias van der Minde weiß selbst, dass seine Vorstellung von der Befriedung regionaler Konflikte nicht heute und – so fürchte ich – auch nicht morgen verwirklicht sein wird. Dies wird vor allem dann nicht gelingen, wenn die NATO-Staaten sich weiterhin als „Weltpolizei“, welche im Zweifel auch ohne UN-Mandat tätig wird, präsentieren. Daher ist gerade sicherlich van der Mindes Vorschlag nach einer Ausweitung der Beziehungen zwischen der NATO und Russland von Bedeutung. Wobei die Frage zu stellen ist, ob nicht eine völlige Auflösung dieses Bündnisses eine bessere Öffnung zu Russland und zu mehr Legitimation bedeuten kann. Dies könnte entscheidend für ein durch die USA, Russland und China getragenes Überwachungs- und Durchsetzungsregime sein. Für einen solchen Schritt zur Auflösung der NATO ist die westliche Staatengemeinschaft aber sicherlich noch viel weniger bereit.
Wie in vielen völkerrechtlichen Bereichen fehlt auch im Falle der Atomwaffen das angesprochene effektive Überwachungs- und Durchsetzungsregime. Diese Forderung des Autors eröffnet einen ganzen Katalog von Fragen. Das Besondere an Die Atomwaffen nieder! ist dabei aber, dass diese Fragen gestellt werden: Wie soll mit Verdachtsfällen umgegangen werden? Baut ein Staat an der Bombe? Wer soll diesen Verdacht äußern dürfen? Welche Einrichtungen dürfen inspiziert werden?
Hervorzuheben ist auch, dass der Autor die wohl entscheidendste Frage in diesem Kontext stellt: Braucht diese Welt überhaupt Kernenergie? Schließlich sind zivile und militärische Nutzung dieser Technologie durch den Uran-Anreicherungsvorgang eng miteinander verknüpft. Van der Minde lehnt Kernenergie gänzlich ab, meint aber zu wissen, dass die Welt in mittelfristiger Zukunft nicht darauf verzichten wird. Kritisch zu betrachten ist eine daran anschließende Überlegung, in Europa ein kostengünstiges Anreicherungs- und Wiederaufbereitungszentrum zu etablieren, welches nationale Uran-Anreicherung, etwa im Iran, unrentabel machen könnte. Dieses wäre aber eine weitere Form westlicher Kontrolle, der die anderen Staaten wohl nur sehr schwer zustimmen würden. Die Vision einer kernenergiefreien Welt ist die noch unwahrscheinlichere Variante, wenn auch die weitaus sympathischere.
Eine Stärke des Buches ist sicherlich, dass der Autor es nicht bei den völkerrechtlichen Problemen bewenden lässt. Er will jeden einzelnen gewinnen, auch zivilgesellschaftlich etwas gegen Abrüstung zu tun, informiert zu bleiben, sich auf der Straße, in der Politik und in der Bildungsarbeit zu engagieren. Van der Minde sieht aber auch eine Verantwortung gerade der Deutschen, die er daraus ableitet, dass die allerersten Atomwaffen als Waffen gegen das Nazi-Regime entwickelt wurden. Darüber hinaus sollte man die Verantwortung Deutschlands als drittgrößtem Waffenexporteur nicht aus den Augen verlieren und auch gegen die Kapital- und Lobbyinteressen kämpfen, die einer Befriedung der Welt entgegenstehen. Van der Minde sieht dabei auch die Verantwortung der jungen Generation als den politisch Verantwortlichen von morgen. Allerdings werden solche Appelle allein nicht ausreichen. Daher sollte der Vorschlag des Autors stark gemacht werden, in Friedenserziehung und in das Erlernen friedlicher Konfliktlösungen zu investieren. Setzen wir uns dafür ein, dass solche wichtigen Elemente auch in Zeiten von Lernzeitverkürzung Element der Erziehung und damit den Grundstein für das friedliche Zusammenleben zukünftiger Generationen sind. Denn es sollte nicht vergessen werden, dass Bildung und gesellschaftliches Bewusstsein auf das Engste miteinander verzahnt sind. Die zukünftige Generation kann nur dann eine Generation von Abrüstern sein, wenn sie sich durch Bildung und auch Erziehung entsprechend emanzipieren kann.
Matthias van der Minde hat seine Verantwortung erkannt. Zwar liefert er schwerpunktmäßig keine moralphilosophische Abhandlung, warum Atomwaffen unmoralisch sind, und keine theoriegeleitete Untersuchung im Sinne einer Theorie der Internationalen Beziehungen, dafür aber detailreiches Fakten- und Orientierungswissen zu Nuklearwaffen, deren Abrüstung und völkerrechtlichem Status. Sein Buch lebt zudem auch von der persönlichen Motivation und wird durch die Überzeugung des Autors, dass eine nuklearwaffenfreie Welt wünschenswert und möglich ist, zu einem besonderen Buch. Wer Nuklearwaffen bisher nicht als Problem angesehen und es nicht für notwendig erachtet hat, etwas gegen Atomwaffen zu unternehmen: Nach der Lektüre von Die Atomwaffen nieder! wird er zumindest anders darüber denken. Nutzen wir die verbleibenden sechs Minuten im Sinne von Matthias van der Minde!
Mathias Lotz