Postmoderner Linksradikalismus
Anmerkung zu Lothar Peter, Z 91, S. 156 - 169
Lothar Peters Artikel „Postmoderner Linksradikalismus – Aufbruch zu neuen Ufern?“1 überzeugt durch die umsichtige Darstellung der theoretischen und politischen Positionen von Alain Badiou, Slavoj Žižek, Michael Hardt, Antonio Negri, John Holoway und Michel Onfray. Er vermeidet die Falle, alles als irgendwie gleich grau anzusehen und in den gleichen Topf zu werfen. Sein kürzlich gehaltener Vortrag im Frankfurter Club Voltaire „Postmoderner Linksradikalismus – eine neue revolutionäre Subjektivität?“ veranlasst mich zu einer nachträglichen Anmerkung. Unbefriedigend sind aus meiner Sicht2 die folgenden Punkte:
Erstens: Die Unterscheidung von Ontologischem und Ontischem, dem Sein und dem bloß Seienden/Daseienden, wie sie Alain Badiou vornimmt, ist problematisch, denn es ist nicht einsehbar, was diese Unterscheidung zu einer gehaltvollen Gesellschaftstheorie bzw. Gesellschaftskritik beitragen könnte und sollte. Was ein „Wahrheitsregime“, das sich programmatisch abkoppelt von gesellschaftlichen Strukturen, sozialen Ordnungen sowie ökonomischen und politischen Verhältnissen, zum Verständnis und zur Veränderung eben dieser Verhältnisse beitragen könnte, bleibt schleierhaft.
Zweitens: Mit dieser im schlechten Sinne philosophisch, d.h. neoplatonisch auf das Zeit- und Ortlose ausgerichteten Orientierung handeln sich Badiou, aber auch Hardt und Negri ein Strukturproblem ein. Sie reden und schreiben ohne nachvollziehbaren Bezug zu Erfahrung und Praxis, zu sozialen Fakten und gesellschaftlichen Prozessen. Im Grunde handelt es bei den postmodern-linksradikalen Diskursen um quasi-theologische Traktate oder um intellektuelle Scharlatanerien im Stil Peter Sloterdjiks. Gesellschaftskritisch mutet nur der Mantel an, darunter wabert theologisches Gezänk um Dinge, die nicht sichtbar, zählbar, messbar und nur schwer denkbar sind. Alles verschwindet im Ungefähren wie Badious „Ereignis“, das eigentlich „Wunder“ heißen müsste – wie während Jahrhunderten bei den Theologen.
Ich will das an den beiden Bänden „Empire“ und „Multitude“ von Hardt/Negri präzisieren. Wie das „Empire“ ist auch die „Multitude“ kein Tatbestand, sondern eine „Tendenz“. Die Autoren bewegen sich im Raum einer „Ontologie des Möglichen“, also im Rahmen geschichtsphilosophischer Spekulation.
Die Signatur des „Empire“ ist die souveräne Macht, die über Leben und Tod entscheidet, und das heißt in der Epoche der bewaffneten Globalisierung, über Krieg. Für Hardt und Negri bildet der Krieg „das Organisationsprinzip der Gesellschaft“, von dem die permanente Drohung mit „Massenvernichtung“ ausgeht. Die Autoren nennen die Herrschaft des „Empire“ deshalb ein „Regime der Biomacht.“ Biomacht ist also zunächst ein Synonym für Krieg.
Der Gegenspieler des „Empire“ ist die „Multitude“ – die Menge – für deren Charakterisierung die Autoren eine Vielzahl von Beschreibungen und Metaphern anbieten. „Multitude“ steht für „Selbstregierung“, „Widerstand“ und „lebendiges Fleisch“. Im Kern handelt es sich bei der „Multitude“ um einen theologischen Begriff, denn wie Gott wird sie nicht gemacht, sondern ist eigentlich immer schon da und umfasst Anfang, Ende und Gegenwart. Daher auch die Vorliebe der Autoren für die Rede vom „Ende“ – davon kann nur reden, wer sich, wie die Theologen, mit einem Bein schon „drüben“ wähnt.
Andererseits verdankt sich die „Multitude“ einer historischen Konstellation, nämlich dem, was die Autoren „biopolitische Produktion“ nennen. Sie meinen damit den Überschuss an immateriellen Gütern, der bei normaler Arbeit anfällt. Menschliche Arbeitskraft verwendet und erzeugt neben dem materiellen Produkt immer auch immaterielle Überschüsse in Form von Informationen, Ideen, Bildern, Beziehungen und Affekten. Besonders ausgeprägt ist dieser Überschuss in den Bereichen, in denen die modernen Informationstechnologien eine große Rolle spielen.
In diesen immateriellen Überschüssen verdichten sich für Hardt und Negri „neue Subjektivitäten und neue Formen des Lebens“, im Kern „die neue Menschheit“ – jenseits von Armut, Ausbeutung und Herrschaft, denn auf „biopolitischem Terrain“ herrschen Gleichheit und die Herrschaft aller – kurzum die „absolute Demokratie.“ Den Abgrund zwischen dieser spekulativen Behauptung und der Analyse realer gesellschaftlicher Prozesse füllen die Autoren gern mit dem Verlegenheitswort „letztlich“: So ist die biopolitische Produktion minoritär und gar nicht meßbar, aber „letztlich“ doch hegemonial.
Hardt und Negri scheuen weder Spekulation noch Pathos: „Je mehr heutzutage ... die gesellschaftliche Produktion durch immaterielle Arbeit bestimmt ist, also durch Kooperation und durch die Entwicklung von sozialen Beziehungen und Kommunikationsnetzwerken, desto stärker wird das Handeln aller in der Gesellschaft – die Armen eingeschlossen – unmittelbar produktiv.“ Die Armen bilden nicht nur „die ontologische Bedingung“ für den Widerstand, sondern auch eine „biopolitische Macht“, insofern ihr „gemeinsames Sein“, ihre Mobilität und ihre Kommunalität das „Empire“ und dessen „Biomacht“ permanent bedrohen. Befeuert wird diese Hoffnung von purem Voluntarismus: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir freie Männer und Frauen oder ob wir Sklaven sein wollen.“
In den globalisierungskritischen Protestbewegungen sehen Hardt und Negri Netzwerke des weltweiten Widerstandes gegen die Biomacht am Werk und insofern die Keimzellen einer Demokratie ganz neuen Typs. Diese kommt ohne Souveränitätsdoktrin und Verfassung aus. In der „Multitude“ behält zwar jeder seine Singularität, aber Arbeit, Leben und Kultur verschmelzen zu dem, was die beiden Autoren „das Gemeinsame“ nennen. Für sie ist das Gemeinsame „ein Fleisch, das kein Körper ist, ein Fleisch, das gemeinsame lebendige Substanz ist“. Die Frage freilich, wie diese „lebendige Substanz“ vom Status des Spekulativ-Möglichen – also kategorisch Unlebendigen – zur Wirklichkeit wird, delegieren die beiden Philosophen an die Praxis. Bei Žižek sollen die Armen aus den Slums der Welt zum sozialen Träger und Akteur der Revolution werden. Hardt/Negri warten auf die „Multitude“. Aber auch sie bieten statt Analysen nur normativ aufgeladene Glaubenssätze an wie die Theologen für den Glauben ans Jenseits. Eine „kommode Religion“, sagt Büchners Valerio, genügt dem Menschen, wenn Gott für „Makkaroni, Melonen und Feigen“ sorgt.
Rudolf Walther
Marxismus – was nun?
Fragen im Anschluss an Wolfgang Küttler, Z 93, S. 28 - 47
Mit der materialistischen Verankerung des Fortschrittssubjekts in der Arbeiterklasse durch Marx ist die Idee des Fortschritts gleichsam materialisiert und an eine historische Gesetzmäßigkeit des materiellen Gesellschaftsprozesses gebunden worden. Der Marxismus konnte so bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts seine Anziehungskraft erhalten. Seitdem geht sein Einfluss kontinuierlich zurück. Die Formulierung einer Perspektive „sozialistische Bundesrepublik Deutschland“ dürfte mittlerweile weniger für den Verfassungsschutz als für das Kabarett anstoßgebend sein.
Die Realität hat sich gegenüber der Epoche des Fordismus grundsätzlich verändert; eine neue Produktionsweise beginnt sich zu etablieren. Die historische Mission der Arbeiterklasse ist überholt, weil andere Widersprüche zur Haupttriebkraft geworden sind. Die Krise des Marxismus kann nur überwunden werden, wenn die neue gesellschaftliche Realität erkannt und angemessen auf sie reagiert wird.
Fortschritt ohne Grenzen?
Kann der alte Fortschrittsgedanke aufrechterhalten werden angesichts der globalen Gefahren, die der Kapitalismus hervorruft? Nicht der Inhalt des alten Sozialismus wird hierauf Antwort geben, sondern die Erkenntnismethodik, die uns Marx hinterlassen hat. Bei der Aufgabe der Wirklichkeitserfassung durch Theorie und Praxis des Marxismus muss zwischen dem bereits erreichten ökonomischen, sozialen und kulturellen Fortschritt auch die Frage nach dem aufzuwendenden Maß zur Reproduktion der menschlichen Gattung – unter dem Gesichtspunkt der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen – betrachtet werden.
Der Kapitalismus ist im Zustand einer permanenten Krise angekommen, in dem die konkreten zerstörerischen Nah- und Fernfolgen an Mensch und Natur darauf hindeuten, dass die Menschheit zur Lösung ihrer Überlebensprobleme nur noch einen überschaubaren Zeitraum hat. Sommerfeld stellt hierzu fest: „Die Finanz- und Wirtschaftskrise resultiert aus der Verselbständigung des von der Sphäre der materiellen Produktion inzwischen gänzlich abgekoppelten Finanz- und Währungssystems. Dem liegt das „freie“ Spiel der Finanz- und Kapitalmärkte zugrunde.“[1] Dieckmann ergänzt hierzu: „Die Tatsachen belegen, dass sich die Lage im letzten Jahrzehnt beträchtlich verändert hat. Es gilt deshalb das Wechselverhältnis aller Klassen und die Eigenart der gegenwärtigen Situation exakt zu erfassen. Denn immer, wenn gewichtige neue Fakten und Tendenzen zu Tage treten, müssen Marxisten ihr Schrittmaß den neuen Bedingungen anpassen.“[2] Es sind hiervon ausgehend konkrete Analysen der konkreten Situation notwendig. Wagner stellt fest: „Wir können … davon ausgehen, dass sich trotz der Schwäche des subjektiven Faktors … der naturhistorische Prozess … der gesellschaftlichen Evolution im Spätkapitalismus in Richtung Kommunismus mit zunehmender Geschwindigkeit fortsetzt. Es ist deshalb keine Paradoxie, heute bereits den weltweiten Übergang zum Kommunismus gedanklich vorzubereiten, ohne dabei den Boden der Wirklichkeit zu verlassen. Und deshalb gilt es, den Marxismus für das 21. Jahrhundert weiterzuentwickeln. Dies verlangt zunächst vor allem, über den Sozialismus heute nachzudenken und sich der Problematik eines Übergangsprogramms in den entwickelten kapitalistischen Ländern zu stellen, das den Ausbruch ermöglichen soll.“[3]
Arbeiterklasse noch fortschrittlich?
Letztendlich ist der Kapitalismus schlicht zu produktiv für sich selbst geworden. Dieses System stößt an seine innere Schranke der Entwicklung. Die immer schneller um sich greifende Rationalisierung und Automatisierung führt dazu, dass immer mehr Waren in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte hergestellt werden. Mikroelektronik und die Informationstechnik sind die Beschleuniger dieser Explosion der Produktivkräfte. Die neuen Technologien schaffen aber weitaus weniger Arbeitsplätze, als durch deren gesamtwirtschaftliche Anwendung wegrationalisiert werden.
Über einen bestimmten Zeitraum hinweg hatten bestimmte Industriesektoren die Rolle eines Leitsektors, bevor diese durch andere, neue Industriezweige abgelöst wurden: Seit Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert entwickelt sich ein Strukturwandel, bei dem die Textilbranche, die Schwerindustrie, die Chemiebranche, die Elektroindustrie und anschließend der Fahrzeugbau Zentren der am weitesten entwickelten Produktivkräfte bildeten. Ihr Wesensmerkmal war die massenhafte Verwertung von Lohnarbeit. Doch genau dies funktioniert nicht mehr, seitdem sich die Lohnarbeit aufgrund der Rationalisierungsschübe der mikroelektronischen Revolution innerhalb der Warenproduktion verflüchtigt.
Es entwickelt sich eine neue Produktionsweise, in der ein System entstanden ist, das aus der Sicht von Produktion und Wertschöpfung die lebendige Arbeit marginalisiert hat. Die Entwicklungstechnologie wird zur entscheidenden Produktivkraft. Mikroelektronik und Robotertechnik sind um ein vielfaches produktiver als die menschliche Arbeitskraft. Dabei besitzen die Produktivkräfte der sich gegenwärtig entwickelnden Produktionsweise eine ganz und gar neue geschichtliche Materialität. Die Stellung der Lohnarbeitenden wird auf allen Ebenen der Gesellschaft durch die Produktivitätszunahme des Faktors Arbeit revolutioniert. Bei dieser Revolution der Produktivkräfte ist die zentrale Triebkraft für die Einführung der dazu benötigten Mittel die Ersparung der Arbeitszeit.
Unter den Bedingungen der neuen Produktionsweise des Finanzmarktkapitalismus mit der Integration der Mikroelektronik als Hauptproduktivkraft in den Arbeitsprozess ist die herrschende Klasse in die Lage versetzt, durch das Antreiben der Produktivkraft Wissenschaft die unmittelbare Arbeit herabzusetzen zu einem bloßen Moment des Produktionsprozesses. Durch diesen Prozess wird aber zugleich die Produktivkraft Arbeit revolutioniert Die wissenschaftliche und entwicklungspraktische (Prototypbau) Arbeit wird nun selbst zum Geschäft. Die Wissenschaft ist durch Akkumulation des Wissens und des Geschicks in Form der Maschine zum fixen Kapital geworden. Dieses Know-how ist in dem Endprodukt, der Maschine, absorbiert, es tritt als eigentliches Produktionsmittel in den Produktionsprozess ein.
Durch das Internet sind die Rationalisierungsmöglichkeiten sprunghaft angestiegen. Die Einsparung von Arbeitszeit im Produktionsprozess ist aber der Antagonismus der kapitalistischen Produktion. Einerseits beruht ihr Reichtum auf ihr, andererseits zwingt sie zu ihrer stetigen Reduzierung. So ist ein Überschuss an Arbeitszeit entstanden. Gleichzeitig setzt die Produktivkraft Wissenschaft den Wert der lebendigen Arbeit weiter herab. Wissenschaft wird selbst zum fixen Kapital, was zur Umwälzung der gesellschaftlichen Betriebsweise führt. Die Einführung des Internets hat dabei zum Aufweichen des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses geführt. Hier liegt die mehrwertschaffende Arbeit in der Erstellung eines Softwareprogramms, auf dessen Grundlage beliebig viel Neues produziert werden kann, ohne dass dadurch weiterer Wert geschaffen wird.
Die neuen Potentiale der Rationalisierung, vor allem durch die Mikroelektronik, Robotertechnik und Verwertung der Erkenntnisse der Nanowissenschaften, haben die Grundlage des realen Wirtschaftswachstums so weit reduziert, dass nur noch ein Ausweichen in substanzlose Akkumulation von fiktiven Kapital möglich wurde. Schuldenberge, Finanzblasen und Geldschwemme sind die Folge dieses liberalisierten und deregulierten Finanzmarktirrsinns. Je mehr der Widerspruch zwischen der Schaffung frei verfügbarer Zeit durch gesteigerte Produktivität einerseits und der Schwierigkeit, diese andererseits wieder in Mehrarbeit zu verwandeln zunimmt, stellt sich heraus, dass diese Bindung - Produktivkraft/Mehrarbeit – nicht aufrecht zu halten ist. Das hat zur Folge, dass sich das Kapital als sächliche Gewalt konsolidiert und eine Eigenlogik entwickelt. Der Waren- und Profitkreislauf entwickelt eine Eigendynamik, der sich alles unterordnet. In diesem Prozess kommt es zu einer zunehmenden Verkehrung von Mensch und Sache.
Betriebswirtschaftlich betrachtet gibt es kein besseres System als den Kapitalismus. In ihm wird alles nach Effizienzkriterien durchgerechnet. Der alte Kapitalismus machte den Menschen zum Anhängsel der Maschine, „verschleuderte in ungeheurer Weise Herz und Hirn“ wie Marx es einst beschrieb. Der Finanzmarktkapitalismus macht mit dieser Verschleuderung Schluss, der Mensch, mit seinen individuellen Kompetenzen, seiner Kreativität, Entscheidungsfähigkeit und sozialen Kompetenz steht plötzlich im Mittelpunkt der Wertschöpfung. Ausbeutung wird im diesen Sinne totaler. Der Zwang, immer neue Kapitalverwertungsfelder zu generieren, führt so zur Perversion des Menschlichen. Innerhalb der Gesellschaften hat dieses künstliche Aufrechterhalten des Kapitalismus Massenarbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Prekarisierung, Verarmung, aber auch Endsolidarisierung, Risikoprivatisierung und Vereinsamung der Menschen zur Folge.
Die Auflösung des Fordismus lag eindeutig in der materiellen Produktion; die Bandarbeit wurde mehr und mehr automatisiert, der Bandarbeiter vom Automaten abgelöst. Wie die große Industrie in ihren Anfängen die Macht der handwerklich qualifizierten Arbeiter gebrochen hat, so bricht die Automation die Macht der organisierten Massenarbeiter. In diesem Entwicklungsprozess verlieren die Arbeiterklasse und ihre wichtigsten Klassenorganisationen, die Gewerkschaften, an Kampfkraft und Stärke. Die Kampfkraft der Massenarbeiter ist der Massenarbeitslosigkeit zum Opfer gefallen. Auch wenn es zeitweise gelungen ist, die Arbeitszeit zu verkürzen, blieben die entfesselten Produktivkräfte letztlich ausschlaggebend für die weitere Entwicklung. Die Spaltung der Gesellschaft nimmt dabei neue Formen an.
Produktions- und Arbeitsweise
Mit der veränderten Produktionsweise ändert sich auch die Arbeitsweise. Die Stellung der Arbeit und der Arbeitenden differenziert sich auf allen Ebenen der Gesellschaft. Gruppenarbeit hat die Bandarbeit abgelöst, die Anforderungen an kommunikative Kompetenz und eigenständiges Mitdenken sind sprunghaft angestiegen. Die Grenzen zwischen Männer- und Frauenarbeit, zwischen Fremd- und Selbststeuerung, Arbeit und Lernen, Arbeitszeit und Freizeit verwischen.
Die „freigesetzten“ Menschen sind unter den Bedingungen der neuen Produktionsweise nicht einmal mehr als „Reservearmee“ brauchbar. Der Kapitalismus verweigert weltweit einer schnell wachsenden Zahl von Menschen einen gesellschaftlichen Ort. Ausbeutung wird unter diesen Bedingungen zum Privileg. Zynisch könnte man mit Joan Robinson konstatieren: „Ausbeutung ist schlecht; Nicht-Ausbeutung ist schlechter.“ Neben der schrumpfenden Arbeiterklasse entsteht eine Klasse der Ausgeschlossenen. Diese stetig wachsende deprimierte und demotivierte Schicht wird aus der Sicht des Staates nur noch als Objekt der Justiz behandelt. Die zynische Antwort der herrschenden Klassen auf diese Entwicklung ist die Forderung nach Eigenverantwortlichkeit der marginalisierten und ausgeschlossenen Unproduktiven. Die gefühlten Belastungen eines Langzeitarbeitslosen sind die den Menschen prägenden Realitäten. Nichtanerkennung ihrer entgeltlosen individuellen Leistungen und die Abhängigkeit von fremder Hilfe prägen ihre gesellschaftliche Stellung häufig selbst noch nach einer gelungenen Reintegration in ein nicht alimentiertes Leben.
Repression
In den am meisten entwickelten Regionen der Welt wird das physische Leiden körperverzehrender Arbeit durch die psychische Qual der Moderne ersetzt. Durch die Entfaltung der rasant wachsenden wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten entstehen seelische Leiden, die es vor einem Jahrhundert in dieser Form noch nicht gegeben hat. Dabei kann die wuchernde Aneignungsmöglichkeit von Erkenntnissen, Erfahrungen und Überlieferungen durch die wachsenden kommunikativen Zugangsmöglichkeiten nicht mehr im zeitlichen Rahmen unseres Alltagslebens selektiert, verarbeitet, kommuniziert und reflektiert werden. Selektive Aneignung, also immer stärkere Spezialisierung, ist in der Gegenwart eine Überlebensnotwendigkeit – niemand ist heute mehr „auf der Höhe der Zeit“. Diese Tatsache erfordert kollektives Handeln der Menschen, abgestimmtes Tun, was ihrem historisch gewachsenen Gemeinwesen entspricht. Zugleich widerspricht es aller Leittierherdenideologie.
Mit dem für uns immer enger werdenden Ausschnitt an generell verfügbarem Wissen, an Werten und Meinungen, geht die Verbindlichkeit der alten Bindungsträger wie Familie, Schule oder Kirche verloren. Die früher geltende fraglose Gewissheit weicht einer modernen Beliebigkeit. Gemeinschaftliche Identifikationsbegriffe werden absorbiert und vermarktet; der Sinn körperlicher und geistiger Schaffenskraft verliert sich scheinbar in gesellschaftlicher Beliebigkeit. Viele Menschen fühlen sich von der Komplexität der Probleme ihres Alltagslebens überfordert. Heute sind wir zwar weitgehend von muskulärer Arbeit befreit, befinden uns aber in Verhältnissen permanenter und vielschichtiger Gleichzeitigkeiten, die wir uns aneignen müssen, um nicht in der Unübersichtlichkeit der Warenbeziehungen verloren zu gehen. Aus diesem Grund hat eine große Mehrheit nicht das Gefühl, irgendeinen Einfluss auf die Entscheidungen in Wirtschaft und Politik zu haben. Sie haben das Vertrauen in die Politik verloren. Die Erosion des Öffentlichen und die sozioökonomischen Verunsicherungen veranlassen viele Menschen deshalb zu einer fatalistischen Haltung gegenüber dem Gesellschaftlichen. In weiten Teilen der Gesellschaft haben die staatlichen Institutionen ihre Legitimität als „Diener der Volkes“ verloren.
Unsere Wünsche und Ängste angesichts der Möglichkeiten, die uns die Gegenwart eröffnet, aber auch in Anbetracht der von uns abgeforderten Entscheidungen – all diese Entscheidungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten sind die Plagegeister der Moderne, die uns den letzten Rest an innerer Ruhe rauben, die uns in Depression und in das Gefühl des Ausgebrannt-Seins treiben können. Dabei verlangt das erreichte kulturelle und ökonomische Entwicklungsniveau nicht mehr nach dem Kampf ums bloße Dasein. Der heutige Kapitalismus hat die Mangelwirtschaft überwunden. Mittlerweile wird so viel Überschuss produziert, dass allen Menschen dieser Welt mehr als eine soziale Grundsicherung garantiert werden könnte. In der Realität aber werden große Mengen dieser Überschussproduktion einfach vernichtet, um den Profit zu sichern. Anstatt den geschaffenen Reichtum gerecht zu verteilen, wird der Daseinskampf des Mangels durch die herrschende Organisation künstlich aufrechterhalten.
Revolutionäre Theorie
Die aktuelle Umwälzung der Produktivkräfte ist vom Kapitalismus ausgegangen und wurde zur Grundlage einer neuen Produktionsweise. Auf der einen Seite bewies das Kapital seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, im Vorgriff auf die damals zu erwartende wissenschaftlich-technische Revolution in der Wertschöpfungskette, seine über den Staat vermittelten beträchtlichen Regulationsfähigkeiten. Andererseits erreichte die Arbeiterbewegung keine dauerhafte Überwindung des Kapitalismus, letztlich auch infolge ihrer strukturellen und regionalen Differenzierung. Trotz oder gerade wegen der weit reichenden Erfolge der Arbeiterbewegung im Kampf um soziale Reformen in den entwickelten kapitalistischen Ländern ist die Marxsche Prognose der Überwindung des Kapitalismus durch die Arbeiterbewegung in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nicht verwirklicht worden. Sie erscheint aber auch perspektivisch infolge der tief greifenden ökonomischen und sozialstrukturellen Veränderungen in den Zentren wie in den Peripherien nunmehr als überholt.[4]
W. Küttler schreibt: „Das Kernproblem besteht folglich darin zu prüfen, wo und wie in der Marxschen Tradition emanzipatorischer gesellschaftlicher Fortschritt ohne das Junktim mit der sozialen Revolution des modernen Industrieproletariats zu denken ist.“[5] Denn ohne eine revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben.
Aus juristischer Sicht basiert das Prinzip der antagonistischen Beziehungen im Kapitalismus im Wesentlichen auf der Vertragsgleichheit und Tauschgerechtigkeit, wobei die größtmögliche und kurzfristigste Realisierung und private Aneignung von Mehrwert oberstes Ziel ist. Sobald eine bestimmte Position ausgehandelt wurde und per Vertrag fixiert ist, ist deren Befolgung nach kapitalistischen Maßstäben gerecht. Hier ist eine Unübersichtlichkeit in den Warenbeziehungen entstanden. In diesem Geflecht aus unterschiedlichen Interessengruppen heraus ist eine Analyse zu erstellen, denn hier wird die antagonistische Klassenteilung umgesetzt.
Kapital und Staat
Mein Ausgangspunkt ist die These, dass es nie die reine kapitalistische Herrschaft gab. In jeder Phase der Entwicklung des Kapitalismus hat dieser in einem Verhältnis zur bestehenden gesellschaftlichen Machtkonstellation gestanden. 500 Jahre kapitalistische Existenz, davon 200 Jahre als Herrschaftssystem, haben in den entwickelten Staaten zu unterschiedlichen Machtverhältnissen geführt. Die bestimmende Produktionsweise hat mit ihrer „Machtergreifung“ die gesellschaftlichen Produktivkräfte immer wieder gezwungen sich anzupassen. Dabei ist es, je nach Entwicklungsstand und regionalen Besonderheiten, immer wieder zu Kompromissen gekommen. Diese Kompromissmöglichkeiten des herrschenden Kapitals sind jetzt aufgebraucht. Zugleich hat der Staat durch die sich entwickelnden Klassenverschiebungen neue gesellschaftliche Aufgaben erhalten, die weit über die reine Machterhaltung der herrschenden Produktionsverhältnisse hinausgehen. Gleichzeitig hindert die Logik des Kapitals den Staat daran, diese Aufgaben zu erfüllen.
Die freie Entfaltung der Kapitalakkumulation bedarf zu seiner Sicherstellung eines Prozesses der Machtakkumulation, der nur durch die jeweiligen Bedürfnisse der Kapitalakkumulation selbst begrenzt werden darf. Diese Logik sprengt die Begrenztheit eines Staats- bzw. regionalen Rechtssystems überall dort, wo die neue Produktionsweise der Mikroelektronik zur bestimmenden Macht wird. Neue Widersprüche entstehen, die unter den Gesetzmäßigkeiten der alten Klassenverhältnisse ihre Stempel auf die jeweiligen Gesellschaften drücken.
Wertform
Der individuelle Konsum, der Schein der Entscheidungsfreiheit und das Ausgeliefert sein gegenüber dem, was an Angeboten (produziert) wird, ist die eigentliche Brisanz der Gegenwart. Die Ohnmacht gegenüber der Entscheidung, was produziert (angeboten) wird, legt die politischen Verhältnisse frei. Die freie, gleiche und geheime Wahl ist eine Verschleierung der tatsächlichen Entscheidungsebenen. Die Entscheidungsträger sitzen in den Monopolkonzernen und haben nur die Realisierung ihres Profits im Sinn. Die gesellschaftlichen Kräfte sind durch die neue Produktionsweise des Finanzmarktkapitalismus einer Verwertungsmaschinerie ausgesetzt, der sie immer hilfloser gegenüberstehen. Selbst die kommunistischen und sozialistischen Parteien, die Gewerkschaften und anderen Organisationen der Arbeiterklasse sind nicht mehr nur in das System integriert (wie teilweise schon unter dem Fordismus), sondern werden immer mehr assimiliert. Das Ausbildungs- und Produktivkraftniveau der heutigen Arbeiterklasse ist um ein vielfaches höher als vor dreißig Jahren. Sie hat heute weit mehr zu verlieren als ihre Ketten. Sie entwickelt sich zu einer privilegierten Klasse. Ihre Protagonisten sind mittlerweile in das System integriert. Was früher unsere Stärke war, ist heute unsere Fessel! Man kommt nicht umhin, mit der Tradition entschieden zu brechen. Die Kritik hat sich auf ihre eigenen Füße zu stellen. Sie muss aus eigener Machtvollkommenheit operieren. Es kommt darauf an, vom ganzen Volk ausgehend Enthüllungen zu organisieren. In den Mittelpunkt unserer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft ist die Kritik an der warenproduzierenden Wertform zu stellen.[6] Überproduktion und unverwertbare Geldschwemme haben dem System die Luft zum Atmen genommen. Mit dieser Einsicht in die Zusammenhänge stürzt alle Gläubigkeit in die Notwendigkeit der bestehenden Zustände. Denn der Geist bürgerlich-kapitalistischer Zustände ist widerlegt! Das Objekt der Kritik, das kapitalistische Warensystem, ist in den Zustand der Unwirklichkeit abgeglitten.[7]
Aufgabenstellung
Eine ausdifferenzierte Lebensweise und starke Individualisierung der Menschen gegenüber dem realen Vergesellschaftungsprozess in der Produktion ist die reale Herausforderung unserer Zeit. Um mit den Unmenschlichkeiten Schluss zu machen bedarf es der Erkenntnis über die Zusammenhänge zwischen den individuellen und gesellschaftlichen Triebkräften. Grundlage hierfür ist das Wissen vom Verhältnis der politischen, kulturellen und sozialen Produktivkräfte. Das Augenmerk ist hierbei nicht auf die Ungleichheit der Menschen untereinander, sondern auf die Ungleichheit in den Besitz- und Entscheidungsverhältnissen von Mensch und Sache zu legen.
Zum zweiten geht es um die Frage des neuen und zusätzlich entstandenen Widerspruchs zwischen entlohnter und nicht-entlohnter Arbeit. Neben dem übergreifenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit – der Wertschöpfung durch unbezahlte Mehrarbeit des Lohnarbeiters - ist durch die neue Produktionsweise ein weiterer, eben diese Produktionsweise bestimmender Widerspruch zwischen bezahlter Arbeit (Lohnarbeit) und „überschüssiger“, nicht im Wertschöpfungsprozess integrierter Arbeit entstanden – Arbeit, deren Charakter nicht durch den Vergesellschaftungsprozess gekennzeichnet ist, sondern als ehrenamtliche, häusliche, gesellschaftliche, ökologische, individualitätsstiftende, kreative, pflegerische, arbeitssuchende etc. Arbeit daherkommt.
Schlussfolgerung
So unterschiedlich die kapitalistischen Staats- und Gesellschaftsmodelle sind, so unterschiedlich sind auch die Wege heraus. Es gibt hierfür kein Modell, wir müssen das Modell beim Laufen machen, im Prozess. Eine Hegemonie im Handeln bedarf einer Hegemonie im Denken, um die Straßen und Plätze zu erobern. In der politischen Praxis und der Gestaltung des Alltagslebens steht für uns Revolutionäre, als Ausgangs- und Stützpunkte, die fortschrittliche Weiterentwicklung der der menschlichen Kultur eigenen Triebkräfte; und dies in produktiver Wechselwirkung, als gesellschaftliches Wesen und der Selbstverwirklichung. Den Revolutionären geht es um die Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus den jetzt bestehenden Voraussetzungen. Die Bewegungen „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche.“[8]
Tilman Rosenau
Debatte um Arbeitszeitverkürzung
Bemerkung zu Richard Detje/Klaus Pickshaus/Sybille Stamm, Z 95, S. 97 - 104
1. Man muss sich mehr als wundern, wenn gewerkschaftliche Linke gegen eine allgemeine (kollektive) Arbeitszeitverkürzung polemisieren und dies auch noch mit einer rein betriebswirtschaftlichen Argumentation verbinden. Der von Mohssen Massarrat und mir verfasste und von 100 ProfessorInnen, GewerkschaftlerInnen, PolitikerInnen und KirchenvertreterInnen im Februar 2013 unterschriebene „Offene Brief“1 argumentiert dagegen gesamtwirtschaftlich und -gesellschaftlich. Er bezieht nicht nur die Beschäftigten in die Betrachtung mit ein, sondern ebenso gleichberechtigt die Arbeitslosen und die Gesellschaft als Ganzes. Allein die enormen hohen fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit, die von 2001 bis 2011 bei jahresdurchschnittlich 74 Milliarden Euro lagen, kommen ebenso wie die Arbeitslosen im Artikel von Detje/Pickshaus/Stamm nicht einmal in einer marginalen Dosis vor. Zu Beginn ihres Beitrags beklagen sie zwar Arbeitslosigkeit als „Geißel“ und „schwere Hypothek der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklung“, stellen dann aber keine gesamtwirtschaftliche Kausalität her.
2. Detje/Pickshaus/Stamm beschränken sich ausschließlich auf eine Deskription von betriebswirtschaftlichen Symptomen. Ihre Klagen über eine Prekarisierung der betriebs- bzw. personalwirtschaftlichen Verhältnisse, die sich in der Tat in unbezahlter und überbeanspruchter, nicht produktivitätsorientierter bezahlter Arbeit manifestieren, werden ursächlich nicht zugeordnet bzw. deshalb in keiner Weise erklärt. Offensichtlich sind diese schlechten „Arbeitsverhältnisse“ vom Himmel gefallen. Nein: Die Ursache ist eine seit langem bestehende Massenarbeitslosigkeit, die die Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zunehmend völlig aus dem Ruder haben laufen lassen. Die Unternehmer und ihre Verbände verhandeln über den „Faktor Mensch“ nicht mehr: weder kollektiv in den Tarifverhandlungen und schon gar nicht auf individueller arbeitsvertraglicher Ebene, wo im Kapitalismus schon immer ein strukturelles Machtungleichgewicht zum Vorteil des Kapitals vorgelegen hat. Unternehmer können unter Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit ihre Interessen diktieren. Ist die besondere Ware Arbeitskraft an den Arbeitsmärkten im Überschuss vorhanden, dann verfällt nicht nur der Lohn, sondern auch die Arbeitsbedingungen werden zu Lasten der Beschäftigten massiv verschlechtert. Dies ist eigentlich nur eine ökonomische triviale Feststellung – Millionenfach empirisch verifiziert. Dies gilt auch für ein anormales Angebotsverhalten von noch Beschäftigten. Sinkt der Lohn, bieten sie nicht weniger an Arbeit an, sondern mehr. Das Ergebnis ist letztlich ein Niedriglohnsektor.
3. Auf der von Detje/Pickshaus/Stamm favorisierten Ebene einer betriebswirtschaftlichen Betrachtung, wo permanenter „Beschäftigungs- bzw. Zeitnotstand“ in den Unternehmen herrscht, wo „das abgeforderte Arbeitsvolumen (…) von den Beschäftigten ohne noch weitergehende Intensivierung und Verlängerung der Arbeitszeiten nicht erbracht werden“ könnte, sollte man dabei zumindest erwähnen, dass im Betriebsverfassungsgesetz (§ 92) eine Personalplanung gesetzlich vorgesehen ist. Mit diesem klassischen Instrument der Personalbetriebswirtschaftslehre wird darüber entschieden, wie groß der Brutto- und Nettopersonalbedarf zu sein hat. Hier fließen dann alle relevanten Größen von Personaleinsatz, Produktivität, Personalbestand und geplante Absentismuszeiten ein. Eine Personalplanung ist mitbestimmungspflichtig. Fragt man allerdings in den Unternehmen die Betriebsräte nach einer solchen Planung, dann liegt diese so gut wie nie oder nur fragmentarisch vor. Um dieses Thema sollten sich die linken Gewerkschafter einmal verstärkt bemühen, wenn sie sich schon auf die Betriebswirtschaft in Sachen Arbeitszeit beschränken (lassen).
4. Zu argumentieren, die Beschäftigten wollten überhaupt keine Arbeitszeitverkürzung (bzw. nur 9 Prozent der von der IG Metall befragten IGM-Mitglieder), und dies als Beweis gegen eine kollektive Arbeitszeitverkürzung anzuführen, hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Repräsentative Untersuchungen von anderen Einzelgewerkschaften, mit ganz anderen Problemen als denen im Metallbereich, liegen nicht vor. Auch Arbeitslose wurden nicht befragt. Und wenn Beschäftigte, die über Jahre Reallohnverluste haben hinnehmen müssen, befragt werden, ob sie Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen wollen, dann ist die gewünschte Antwort klar. Außerdem müssten die Beschäftigten bei solchen komplexen Befragungen zunächst einmal aufgeklärt werden: Die Befragten wissen in der Regel nämlich nicht, was letztlich Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich für sie im Einzelnen und für das Ganze impliziert. Die meisten verbinden mit Arbeitszeitverkürzung schlicht Entgeltverzichte und Arbeitsverdichtungen. Beides ist aber bei richtiger Umsetzung einer Arbeitszeitverkürzung nicht der Fall.
5. Dennoch, auch Detje/Pickshaus/Stamm glauben an die Wichtigkeit von Arbeitszeitverkürzung, wenn sie feststellen: „So hat sich zu Beginn der Großen Krise 2008/2009 gezeigt, dass Arbeitszeitverkürzung ein wichtiges und wirksames Mittel ist, mit dem einem Anstieg der Arbeitslosigkeit gegengesteuert und erheblicher ‚Angstrohstoff‘ aus dem betrieblichen und gesellschaftlichen Leben genommen werden kann.“ Der Unterschied zu Bontrup/Massarrat ist dagegen, dass wir eine gesamtwirtschaftlich (kollektive) Arbeitszeitverkürzung – die in der Krise auch noch von den Beschäftigten in Selbstausbeutung finanziert wurde2 – nicht nur in konjunkturellen Krisenzeiten als ein notwendiges wirtschaftspolitisches Instrument sehen, sondern um die bestehende strukturelle Massenarbeitslosigkeit abzubauen, deren Ursache in einer trendmäßigen gesamtwirtschaftlichen Produktions-Produktivitätslücke liegt, von der Detje/Pickshaus/Stamm scheinbar noch nichts gehört haben. Wer einen Artikel über „Arbeit wieder ein gesundes Maß geben. Für eine arbeitspolitische Erweiterung der Arbeitszeitdebatte“ schreibt, und nicht in einem Satz erklärt, wie er die Produktions-Produktivitätslücke beseitigen will, bzw. woher rund 6,5 Millionen fehlende Arbeitsplätze in Deutschland zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit herkommen sollen ohne Arbeitszeitverkürzung, der hat zentrale Punkte nicht in den Blick genommen. Gleichzeitig ist der ein Schelm, der jetzt nur an Wachstum denkt. Dies müsste dann nämlich, real, also preisbereinigt, in den nächsten fünf Jahren, bei einer unterstellten jährlichen Produktivitätsrate von 2 Prozent um rund 7 Prozent in jedem Jahr zulegen. Eine ökonomisch völlig unrealistische und ökologisch kontraproduktive Größenordnung. Und dann wären nicht einmal die Millionen von Unterbeschäftigten (zumeist Frauen) aus ihrer nicht gewollten Unterbeschäftigung befreit. Detje/Pickshaus/Stamm haben dies (gesamtwirtschaftlich) überhaupt nicht im Blick. Sie haben sich mit der Massenarbeitslosigkeit abgefunden, wenn sie schreiben: „Generelle Arbeitszeitverlängerung verhindern: Die vordringliche Aufgabe in den kommenden Jahren wird bleiben, eine generelle Arbeitszeitverlängerung zu verhindern. Die Maßzahl ist und bleibt die 35-Stunden-Woche. Dies kann nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, in den betrieblichen Abwehrkämpfen um Arbeitsplätze, Standorte und Tarifstandards ein höheres Maß an koordiniertem Vorgehen zu erreichen.“
6. In einem Punkt ist Detje/Pickshaus/Stamm aber Recht zu geben. „‘Kämpfe um Zeit‘ sind soziale Auseinandersetzungen, die nur in breiten Bündnisperspektiven angelegt sein können.“ Deshalb haben auch wir im „Offenen Brief“ geschrieben: „Die ‚Initiative Arbeitszeitverkürzung‘ kann nicht von den Beschäftigten und ihren Betrieben auf der einzel-wirtschaftlichen Ebene ausgehen. Es bedarf hier zur Überwindung der betriebswirtschaftlichen Rationalitätsfalle einer überbetrieblichen Initiierung durch eine konzertierte DGB-Kampagne. Daher haben nach unserer Auffassung die Gewerkschaftsspitzen eine herausragende Verantwortung zu erfüllen. Aber auch nur mit breiter Unterstützung aus Politik, Sozial- und Umweltverbänden sowie der Kirchen und der gesamten Zivilgesellschaft kann letztlich das Ende der Massenarbeitslosigkeit eingeleitet werden.“
Heinz-J. Bontrup
Über eine eingeschränkte Sicht auf gewerkschaftliches Bewusstsein und betriebliche Aktionsbereitschaft
Anmerkungen zu Richard Detje u.a., Z 95, S. 78 - 89
Die grundsätzlich verdienstvolle Befragung von Vertrauensleuten und Betriebsräten durch Detje u.a.1 bedarf der kritischen Kommentierung. Dabei sollen als Maßstab nicht die Befunde des Instituts für Demoskopie über die angebliche Wiederherstellung des Vertrauens in die Marktwirtschaft dienen, sondern umgekehrt soll der Wert der Aussagen der Befragungsgruppe selbst vor dem Hintergrund eigener langjähriger Erfahrungen des Verfassers überprüft werden.
Zunächst: Ist die Befragung von Funktionsträgern eine Befragung „von Unten“? Betriebliche Funktionsträger stellen nicht das „Unten“ der arbeitenden Klasse dar und zwar weder soziologisch noch – und darauf kommt es an – gewerkschaftspolitisch. Der Anspruch, über die Befragung von betrieblichen Interessenvertretern eine „Perspektive von Unten“ einzunehmen, beruht auf einer idealtypischen Vorstellung des oder der Interessenvertreter selbst. Wie oft hat der Verfasser in seiner mehr als 35 Jahre währenden Tätigkeit als Arbeitsrechtsanwalt erleben müssen, dass Betroffene kein hinreichendes Vertrauen in Betriebsräte oder Vertrauensleute besaßen! Wie oft mussten er oder andere individuelle Ratgeber erleben, dass die Resignation Einzelner zu einem großen Teil nicht allein auf der „Macht der Arbeitgeberseite“ beruhte, sondern auf dem Empfinden und der Erfahrung mangelhafter Solidarität betrieblicher Interessenvertreter mit den Betroffenen selbst. Der Einwand, dass dies in den Großbetrieben und etwa bei der IG Metall anders sei, trifft nur zum Teil zu. Doch selbst wenn er zuträfe: Die Mehrheit der Beschäftigten ist nicht in Großunternehmen wie bei VW beschäftigt. Die große Mehrheit arbeitet entweder in betriebsratslosen Betrieben oder in solchen, deren Betriebsräte kaum über eine organisatorische Rückendeckung durch die Gewerkschaften verfügen. Der dadurch bedingte Legitimationsverlust von Betriebsräten („die machen doch nur, was der Chef will“) ist oft so groß, dass Betroffene selbst bei ihrer individuellen Interessenwahrnehmung nicht auf Hilfe dieser Repräsentanten zurückgreifen, ja deren Einschaltung vielmehr oft vermeiden. Das ist ein Blick von Unten, der in der Untersuchung nicht auftaucht. Diese Perspektive wird auch nicht als notwendiger Gegenstand weiterer Untersuchungen in Betracht gezogen. Sie ist aber von höchst relevanter Bedeutung, wenn man – wie hier – die Ursachen für mangelnde betriebliche Konfliktbereitschaft aufspüren will.
Zunächst: Was ist in Großbetrieben grundlegend anders? Ist das unterstellte Vertrauen der Belegschaft größer als in anderen Betrieben? Sind die Vertreter überhaupt die geeigneten Adressaten einer solchen Frage? Detje u. a. selbst konstatieren, die Interessenvertreter sähen sich bisweilen „in einer Rolle von Stellvertreterpolitik“ gedrängt und verwiesen darauf, Teile der Belegschaften „seien in Passivität zurückgefallen“, ja „von unten komme wenig an Aktivität“.
Immerhin: Der Verweis der Vertreter auf die zu Vertretenden und deren Verortung im „Unten“ ist zweifellos richtig. Doch eine Konsequenz ziehen die Autoren daraus nicht. Sie stellen lediglich fest, die Ursachen für die mangelnde Aktivität von „Unten“ blieben „im Dunkeln“. Wer Betriebsräte bei ihrer „Stellvertreterpolitik“ über viele Jahre in der Praxis beobachtet hat, ist darüber nicht verwundert, denn was da schlicht als „mangelnde Aktivität“ bezeichnet wird, ist vor allem Ausdruck wachsender Distanz der Vertretenen zu ihren Vertretern und zwar aus der Sicht der Vertreter. Dass ein Betriebsrat das Ergebnis eines mäßig erfolgreichen Sozialplans anders beurteilt als die betroffene Belegschaft, ist ein typisches Phänomen. Dass ein solcher Betriebsrat innerbetriebliche Kritik dann regelmäßig zurückweist, ist eine Binsenweisheit. Während dies noch fast als gruppendynamische Logik interpretiert werden könnte, ist das, was unter der Ägide eines systematischen Co-Managements in Großbetrieben geschieht, von anderer Qualität. Dort werden – begleitet von der jeweiligen zuständigen Gewerkschaftsorganisation – bisweilen ganze Beschäftigungsgruppen dem unternehmerischen Interesse geopfert. So etwa im Bereich der Häfen, wo eine jahrelange Politik der Diversifizierung der beschäftigten Gruppen zu einer ungeheuren Spreizung der Einkommen geführt hat, und der Legitimationsverlust der Gewerkschaft ver.di zugleich die Entstehung einer neuen Gewerkschaft begünstigt hat. Ein geradezu groteskes Beispiel aus diesen Tagen hat der Betriebsrat bei VW in Wolfsburg geliefert. Dort hatte die IG Metall-Ortsverwaltung zahlreichen vom Verfasser vertretenen Testfahrern und Technikern, die im Rahmen von Werkverträgen beschäftigt wurden, die Gewährung von Rechtsschutz verwehrt. Schlimmer noch: Betriebsratschef Osterloh verkündete schlicht: „Es gibt bei uns keine Scheinwerkverträge!“
Detje u. a. unterstellen, es habe bei der Befragung „mit Sicherheit“ eine große Rolle gespielt, dass sich insbesondere ver.di und die IG Metall – also die Mehrheitsgewerkschagften im DGB – vehement für die strikte Begrenzung der Leiharbeit eingesetzt hätten. . Stimmt das? Ver.di und die IG Metall haben über die DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit die gesetzliche Anwendung des „Equal-Pay-Prinzips“ in ihren alten und neuen Tarifverträgen zur Leiharbeit verhindert. Noch bis vor kurzem machte sogar eine DGB-eigene Leiharbeitsfirma von sich Reden. Auch die Behauptung, die Beendigung prekärer Beschäftigung in 2009/2010 sei „Abbau von Leiharbeit und Werkvertragsverhältnissen“ gewesen, erscheint einigermaßen kühn. Gänzlich verfehlt aber ist die Annahme eines „Kampfes“ gegen Leiharbeit und für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Leiharbeiter. Zwar bezeichnen die Autoren dies in erster Linie als ein „Anliegen der Befragten“, doch ist unverkennbar, dass sie selbst von der wie immer gearteten Existenz eines solchen Kampfes ausgehen. Spätestens hier wird deutlich, zu welchen Fehleinschätzungen die Verwechselung einer idealtypischen Gewerkschaftspolitik mit der bescheidenen Praxis der Betriebsräte vor Ort führen muss. Statt wissenschaftlich korrekter Aussagen entstehen so Legenden oder besser: Es werden alte Legenden fortgeschrieben. Wo bitte gibt es eine „Entprekarisierungspolitik im Sinne der Begrenzung und stärkeren Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen“? Was ist überhaupt eine „Regulierung von Werkverträgen“? Der Einsatz im Rahmen von Scheinwerkverträgen (und nur um die geht es) ist verdeckte Beschäftigung. Da ist nichts „zu regulieren“. Was man verbieten könnte, ist durch die Rechtsprechung bereits verboten und was man dann noch „regeln“ würde, wäre eine Einschränkung dieser Rechtsprechung – im Interesse der Unternehmen. Allein die Forderung nach „Regulierung“ unterstellt jedoch, dass der gegenwärtigen Praxis nur mit Regeln, vor allem mit gesetzlichen Eingriffen begegnet werden könne. Mit anderen Worten, dass hier also zur Zeit nicht beizukommen ist. Es wird zwar gesetzgeberisches Handeln angemahnt, für die Betriebsräte aber wird kein Handlungsbedarf erkannt.
Um die Ursachen für eine fehlende oder beschränkte Gegenwehr in den Betrieben umfassend zu analysieren, muss auch das Verhältnis von Vertretern und Vertretenen durchleuchtet werden. Dabei wird es ohne Blessuren in einer offenen Debatte nicht gehen können. Doch ist eine solche Debatte überhaupt gewollt? In den Gewerkschaften? In der Linken? Bis zu welchem Grad lässt eine die Gewerkschaften immer wieder idealisierende Betrachtungsweise überhaupt eine solche Debatte zu? Die Praxis zeigt: Es gibt nicht nur innerhalb der Gewerkschaften sondern auch innerhalb der Linken einen gewaltigen Nachholbedarf für eine offene Debatte über die Praxis und Zukunft gewerkschaftlicher Interessenvertretung.
Ein weiterer Erklärungsansatz für die fehlende Bereitschaft zur Gegenwehr durch betriebliche Interessenvertretungen fehlt bei Detje u. a. gänzlich. Er ist aber für die Einschätzung der Effizienz und Wirksamkeit der Arbeit von Betriebsräten von zentraler Bedeutung. Wer ihn ausblendet oder vernachlässigt kann Betriebsratsarbeit nicht abschließend oder gar erschöpfend analysieren oder einschätzen. Gerade von Soziologen und Ökonomen aber wird er bisweilen bis zur Ahnungslosigkeit vernachlässigt. Es ist das Verhältnis zum Recht in der Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit.
Deutsche Betriebsräte sind wie kaum eine Interessenvertretung anderenorts eingebunden in ein System von Regeln und Vorschriften, das nicht nur die Grenzen ihrer Arbeit sondern weitgehend auch deren Inhalt und schließlich das Denken der Akteure bestimmt. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen sind Betriebsräte auf ihre bloß „intellektuelle Gegenmacht“ (Däubler) im Rahmen eines rechtlich festgelegten Verhandlungsmechanismus angewiesen. In paritätischen Einigungsstellen werden Kompromisse erzielt, die von Juristen – meist Arbeitsrichtern – entwickelt werden. Die Verletzung von Mitbestimmungsrechten oder deren Durchsetzung wird über arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren erreicht (oder auch nicht). Das Bewusstsein von diesen Grenzen bestimmt als ultima ratio letztlich jede Art von Verhandlungen mit dem Arbeitgeber und zwar auch dann, wenn der Betriebsrat kein Co-Management betreibt. Immer ist die Frage im Raum: Was ist rechtlich möglich? Was ist „durchsetzbar“? Die Frage der Durchsetzung von Forderungen im Wege kollektiver Aktionen hingegen stellt sich nur in seltenen Fällen. Sie wäre möglich, aber Betriebsräte haben sich längst mit der Rechtstatsache abgefunden, dass sie einer gesetzlichen Friedenspflicht ebenso unterliegen wie einem Arbeitskampfverbot.
Zu den ständigen Begleitern vieler Betriebsräte gehören heute Anwälte, die faktisch die gewerkschaftliche Begleitung der Betriebsratsarbeit (wie sie zu früheren Zeiten üblich war) ersetzen. Wen wundert es da noch, dass manche Betriebsräte auch deren juristische Denkweise übernehmen? Wen kann es noch wundern, dass vielfach die Frage nach dem, was politisch notwendig ist, gar nicht mehr gestellt wird? Nicht das Notwendige, sondern das rechtlich Mögliche steht im Vordergrund. Eine der nachhaltigen Folgen dieses Phänomens ist die inzwischen überall anzutreffende Praxis so genannter Zielvereinbarungen. Die Methode der „Prekarisierung der Normalarbeit“2 durch Intensivierung der Arbeit auf dem Wege der Individualisierung des Arbeitsverhältnisses wurde zunächst über Betriebsvereinbarungen eingeführt und fand später Eingang in zahlreiche Tarifverträge. So auch in die ERA-Abkommen, den TVöD usw. Dieses System war schon wegen des in ihm liegenden Prinzips eines indirekten Abbaus von Mitbestimmungsrechten von Anfang an gewerkschaftsfeindlich. Doch die Gewerkschaften unternahmen nichts gegen diese Praxis. Eine kritische Begleitung oder Beratung von Betriebsräten fand nicht statt. Technokratisch ausgerichtete Rechtsberatung fragte nur nach dem Möglichen, nicht aber nach dem, was betriebspolitisch aus gewerkschaftlicher Sicht langfristig richtig sei.
Gelernt wurde daraus bisher nicht. Alle Versuche, darüber eine Debatte auszutragen, blieben auf kleine Zirkel und theoretische Diskussionen beschränkt. Inzwischen hat sich der Einfluss der „Rechtsberater“ auf das Handeln und Denken der Betriebsräte weiter verstärkt. War vor gut 30 Jahren die Betriebsratsschulung regelmäßig noch eingebettet in ein gewerkschaftliches Bildungskonzept, so haben die Gewerkschaften heute das Feld weitgehend privaten Veranstaltern überlassen. Der Verfasser hat dies an anderer Stelle eingehend analysiert.3 Der nachhaltige Einfluss einer technokratischen Juristensicht ohne gewerkschaftspolitischen Inhalt wird durch diese – wieder überwiegend von Anwälten betriebene – Bildungsarbeit fortgesetzt. Es gibt inzwischen eine neue Generation von Betriebsratsmitgliedern, die gar keine anderen Seminare mehr kennt, als jene von W.A.F., POKO usw. Die innergewerkschaftlichen Debatten über eine an den Interessen der Beschäftigten ausgerichtete arbeitsrechtliche Bildungsarbeit in den 1970er Jahren sind längst vergessen. Die Forderung nach einer neuen Debatte ist bislang ungehört geblieben. So entsteht ein immer größerer Widerspruch zwischen dem Schein einer „aktiven Interessenvertretung“ und der Wirklichkeit einer rechtsförmig arbeitenden Betriebsratsadministration. Wer den extrem hohen Grad an Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland bei einer wie immer gearteten Analyse betrieblicher Interessenvertretungspolitik außer Acht lässt, kommt zwangsläufig zu falschen Ergebnissen. Längst begrenzen juristische Strukturen nicht nur objektiv den Handlungsspielraum der Betriebsräte, vielmehr prägt das Betriebsverfassungsgesetz auch die Arbeit der Interessenvertretungen selbst und beeinflusst zugleich die Denkweise der Akteure. Stellvertreter delegieren darüber hinaus ihre Entscheidungsgewalt an Rechtsberater. In dem sie selbst „Bildungsarbeit“ vor allem als Rechtsschulung verstehen, verstärken sie nochmals den Effekt einer Abkopplung der Betriebsratsarbeit von der eigentlichen Gewerkschaftspolitik und beschränken so auch innerhalb der Gewerkschaften objektiv vorhandene Gestaltungs- und Aktionsmöglichkeiten.
Dieser Prozess führt unter den Bedingungen eines Co-Managements dann absurder Weise dazu, dass am Ende selbst das juristisch Mögliche nicht mehr als Option gilt, sondern scheinjuristische Argumente nur noch Stillstand und Administration absichern sollen. Was juristisch „möglich“ ist, ist bekanntlich nicht immer eindeutig. Selbst wenn es eindeutig ist, so kann man doch unter Hinweis auf die „komplizierte Rechtslage“ oder auf anders lautende „Expertenaussagen“ Handlungsoptionen verneinen. Und das elegante daran ist: Man darf sogar anders wollen, weil man ja anders nicht kann. Das Ergebnis ist dann, dass die Frage, ob überhaupt etwas geschieht, abhängig ist von einer alternativen Rechtsinterpretation. Das absurde Ergebnis des Verrechtlichungsprozesses ist also, dass nicht nur die Untätigkeit, sondern auch die Aktivität selbst unter juristischem Einfluss (und sei es ein „fortschrittlicher“) steht.
Natürlich ist es richtig und wichtig, der Frage, warum betriebliche Interessenvertretungen hier zu Lande weit hinter ihren „Möglichkeiten“ zurückbleiben, zu analysieren. Auch durch Umfragen unter den Interessenvertretern. Aber:
1. In der künftigen Debatte und in künftigen Befragungen sollte jede Idealisierung des Verhältnisses von Interessenvertretern und Beschäftigten ebenso unterbleiben wie die Förderung von Legenden über gewerkschaftliche „Kämpfe“, die nicht stattfinden. Die Arbeit der Betriebsräte ist gemessen an den hohen Ansprüchen oft sehr bescheiden. Sie bleibt vor allem meist hinter den Erwartungen der Belegschaft zurück. Deshalb muss das Verhältnis der „Vertreter der Basis“ zur Basis selbst, deren Entfremdung von der Basis, zur Kenntnis genommen und untersucht werden.
2. Künftige Debatten und künftige Untersuchungen dürfen nicht länger eines der wichtigsten Phänomene deutscher Arbeitsbeziehungen ignorieren: den hohen Grad an Verrechtlichung und den zunehmenden direkten und indirekten Einfluss juristischer Denk- und Handlungsweisen auf die Arbeit der Betriebsräte. Dazu gehört auch eine Wiederbelebung der in den 1970er Jahren begonnenen Debatte über ein gewerkschaftspolitisches Konzept von Arbeitsrechtschulungen und die Zurückdrängung des Einflusses privater Seminarveranstalter auf die Fortbildung und die Arbeit von Betriebsräten.
3. In allen gewerkschaftspolitischen Debatten und Untersuchungen muss künftig der spezifischen Bedeutung des Rechts, aber auch dem Phänomen der Verrechtlichung und des Einflusses juristischen Denkens auf gewerkschaftspolitisches Handeln viel größerer Einfluss gegeben werden. Marx hat die Bedeutung des Rechts nie unterschätzt. Er hat allerdings davor gewarnt, ökonomische und politische Sachverhalte aus dem Recht zu erklären. Soweit jedoch das Recht im Überbau seine eigene Macht entfaltet, wirkt es auf das Bewusstsein der gesellschaftlichen Akteure. Und es ist dieses Bewusstsein, das geändert werden muss.
Rolf Geffken
1 Lothar Peter, Postmoderner Linksradikalismus – Aufbruch zu neuen Ufern? In: Z 91, September 2012, S. 156-169.
2 Vom Autor zuletzt erschienen: Aufgreifen, begreifen, angreifen. Historische Essays, Porträts, politischen Kommentare, Glossen, Verrisse, 3 Bände, Oktober Verlag, Münster 2011-2013.
[1] U. Sommerfeld, Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren, in: Rotfuchs, 4/13, S. 16.
[2] G. Dieckmann, Rede vom 19.10.2012 in Berlin zum 95. Jahrestag der Oktoberrevolution, in: Rotfuchs, Beilage, Berlin, April 2013.
[3] I. Wagner, Lenins „Was tun?“ aus heutiger Sicht, in: Rotfuchs 4/13 RF Extra.
[4] Wolfgang Küttler, Der Kapitalismus als transitorische Formation, in: Z 93, März 2013, S.40.
[5] Ebd., S. 43.
[6] Emmerich Nyikos, Vorschlag, die Waffen der Kritik betreffend, oder: Was ist zu tun, um den geistigen Luftraum zurückzuerobern?, in: Z 69, März 2007, S. 134 ff.
[7] Ebd., S.137
[8] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 8, S. 118
1 Offener Brief an die Vorstände der Gewerkschaften, Parteien, Sozial- und Umweltverbände und Kirchenleitungen in Deutschland, „30-Stunden-Woche fordern! Ohne Arbeitszeitverkürzung nie wieder Vollbeschäftigung!“
2 Und dies bei einer mehr als hinreichenden Eigenkapitaldecke und zusätzlich völlig überdotierten Rückstellungen in den Bilanzen der insbesondere in der Krise betroffenen exportorientierten Industrie. So wurden die Verluste auf die Beschäftigten und auf den Steuerzahler abgewälzt und die Kapitaleigner konnten sich weitgehend schadlos halten. Dabei predigen die Neoliberalen doch immer: Wer den Gewinn hat, muss auch in der Krise haften. Der Gewinn floss vor der Krise übrigens überreichlich. Ich kann mich dabei allerdings nicht erinnern, dass die Unternehmer auf die Beschäftigten zugekommen sind, um ihnen was vom Gewinn abzugeben.
1 R. Detje u.a., „Wir können uns wehren – wir tun es nicht“ – Blick von unten auf Betrieb, Gewerkschaft und Staat, in: Z 95, September 2013, S. 78 ff.
2 Prekarisierung der Normalarbeit durch Zielvereinbarungen, in: W. Rügemer (Hrg.), ArbeitsUnrecht. Anklagen und Alternativen, Münster 2009, S. 59 ff.
3 Geffken, Arbeitsrecht 1, 2, 3 – Vom Elend der Rechtsschulungen für Betriebsräte, in: Arbeiterstimme, 180/2013, S. 8 ff.