Männer und Frauen der 48er Revolution
Walter Schmidt (Hrsg.), Akteure eines Umbruchs. – Männer und Frauen der Revolution von 1848/49. Band 4. – FIDES Verlags- und Veranstaltungsgesellschaft Berlin 2013, 699 S., 59,80 Euro
Die Revolution von 1848/49 gehört sicherlich zu den am besten erforschten historischen Ereignissen. Das belegt auch der vorliegende 4. Band der „Akteure des Umbruchs“. Er ist ein Beispiel dafür, welchen Detailreichtum die Forschungen über dieses Ereignis zu Tage gefördert haben. Daraus lassen sich Umfang und Nachhaltigkeit der Veränderungs- und Erneuerungsprozesse in Europa entnehmen, die manchmal durch die Tatsache verstellt werden, dass die konkreten revolutionären Aktionen mit Niederlagen endeten.
Walter Schmidt hat als Herausgeber Autoren gewonnen, die zwölf Persönlichkeiten durch eingehende biographische Studien lebendig werden lassen. Er folgt dabei der in den drei vorangegangenen Bänden bewährten Vorgehensweise. Es werden sowohl Vertreter aus dem revolutionären als auch dem konservativen Lager vorgestellt. Wieder enthält der Band herausragende Frauengestalten und erneut werden die nationalen Grenzen durchbrochen. Zudem weist der 4. Band eine interessante Neuerung auf. Er enthält eine Sammlung von 49 Kurzbiographien preußischer Offiziere, die wegen ihrer Haltung in den revolutionären Ereignissen gemaßregelt wurden (601-664). Dieser Bestandteil des Bandes soll sicherlich die Aufmerksamkeit der Forschung auf einen Gegenstand lenken, der noch einer eingehenderen Untersuchung bedarf. So kursorisch diese Kurzbiographien aber auch im Vergleich zu den vorangehenden Studien sind, bilden sie doch ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie verbreitet und tiefgreifend der revolutionäre Umdenkungsprozess in der Gesellschaft war, so dass er sogar vor den Schranken des bislang zuverlässigsten Machtorgans Preußens nicht Halt machte. Autor dieses verdienstvollen Beitrages ist Erhard Kienbaum.
Der Band beginnt mit der Darstellung von Leben und Wirken zweier beeindruckender Frauenpersönlichkeiten. Es sind dies Mathilde Franziska Anneke (13-60) und Louise Franziska Aston (61-118). Beide haben mit bewundernswerter Energie und Phantasie ihr Leben in den Dienst der revolutionären Sache gestellt. Für sie ist der Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen integrierender Bestandteil des allgemeinen Ringens um Menschenwürde und politische Freiheit, ein Standpunkt, der durchaus nicht bei allen männlichen Kampfgefährten auf Zustimmung stieß. Mathilde Franziska Anneke hat zudem nach der Niederlage der Revolution in Deutschland und Europa einen herausragenden Beitrag im Kampf um die Rechte der Frauen in den USA und damit international geleistet. Die Autoren dieser Biographien, Marion Freund, Jenny Warnecke und Walter Wehner, haben mit ihrer großen Sorgfalt und Einfühlsamkeit ein sehr differenziertes Bild der beiden Frauen gezeichnet, dass sowohl einfache Glorifizierung wie auch besserwisserischen Tadel vermeidet.
Martin Hundt hat mit Theodor Echtermeyer einer Persönlichkeit eine verdiente Würdigung zuteilwerden lassen, die immer etwas im Schatten von Arnold Ruge und anderen gestanden hat, deren Verdienst um den Aufbruch des gesellschaftlichen Denkens im Vormärz jedoch, wie der Autor nachweist, außerordentlich ist (211-264)
Das revolutionäre Lager repräsentieren in diesem Band die Beiträge von Olaf Briese über den umtriebigen Journalisten Heinrich Bettziech/Beta, von Kurt Wernicke über den unermüdlichen revolutionären Streiter Edmund Monecke, von Ulrike Fäuster und François Melis über den Verfechter direkter Demokratie und späteren Sozialdemokraten Moritz Rittinghausen, von Walter Schmidt über den schlesischen Revolutionär Robert Schlehan und von Rudolf Zewell über den führenden Repräsentanten der Wiener Revolutionäre Anton Schütte. Die europäische, wenn nicht sogar weltweite Dimension, findet ihre Verkörperung in Giuseppe Garibaldi, verfasst von Christine Ujma, und seinem zeitweiligen Kampfgefährten Gustav von Hoffstetter aus der Feder von Rotraut Fischer und Christine Ujma, wobei Letztere mit Recht in ihrem Beitrag die Gelegenheit nutzt, um sich mit der missbräuchlichen Inanspruchnahme Garibaldis durch den italienischen Faschismus auseinanderzusetzen, ein Problem, dass auch für die deutsche Geschichte von Bedeutung ist.
Als konterrevolutionäre Repräsentanten erscheinen in diesem Band der Berliner Polizeidirektor Friedrich Wilhelm August Duncker (163-210) und der Abgeordnete der Rechten im Frankfurter Parlament und schlesischen Magnaten Fürst Felix Maria Lichnowski (357-406). Man muss den Autoren Heinz Warnecke und Martin Herzig bescheinigen, sich bei ihrer Darstellung trotz kritischer Distanz um strenge Sachlichkeit bemüht zu haben. Das findet seinen Niederschlag darin, auch kleinste Nuancen der Anpassung an veränderte Umstände gewürdigt zu haben, die gleichzeitig für die Wirkungsmacht des Faktischen in Krisen- und Umbruchzeiten sprechen.
Die vorgestellten Persönlichkeiten sind nicht alle gleichermaßen bekannt. So werden Heinrich Bettziech/Beta, Eduard Monecke, Robert Schlehan und Anton Schütte wohl kaum über den Kreis der Spezialisten hinaus bekannt sein. Aber das ist gerade ein Verdienst solcher Veröffentlichungen, auch weniger im Zentrum stehende Akteure ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Das gibt Gelegenheit, sichtbar zu machen, wie vielfältig die Beweggründe des Handelns in brisanten historischen Situationen sein können. Das gilt auch dafür, wie verschiedenartig Niederlagen verarbeitet werden können, welche Rolle objektive Zwänge dabei spielen und wie man sich den gewandelten Umständen gegenüber verhält. Mit den Erfahrungen der Wandlungen am Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts im Hinterkopf ist der vorliegende Band besonders anregend. Da die vorgestellten Persönlichkeiten, ausgenommen Theodor Echtermeyer, alle die nachachtundvierziger Jahre erlebt haben, findet sich bei ihnen das ganze Spektrum der Auseinandersetzung mit den nachrevolutionären Verhältnissen. Einige sahen keine Möglichkeit mehr, in Deutschland ihren Überzeugungen gemäß leben und wirken zu können und verließen die Heimat, wie Gustav von Hofstetter, der in die Schweiz emigrierte, oder Mathilda Franziska Anneke und Anton Schütte, die beide in die USA gingen und dort ihren Anschauungen gemäß wirksam wurden. M. F. Anneke, wie schon erwähnt, als Vorkämpferin für die Gleichberechtigung der Frauen, A. Schütte als Gegner der Sklaverei und Teilnehmer des Sezessionskrieges. Die im Lande Verbliebenen hatten erschwerte Bedingungen, ihre Existenz zu sichern. Manche taten das durch den Rückzug ins Private, wo sie sich ihre einstmals vertretenen Positionen zu bewahren versuchten.
Andere nutzten die folgende Zeit, die Ursachen des Scheiterns der Revolution aufzudecken, wobei sowohl Schuld bei sich oder anderen gesucht wurde. Natürlich erfolgte auch eine schrittweise Anpassung an die neuen Verhältnisse, sowohl unter Wahrung eigener Überzeugungen als auch unter Aufgabe einst vertretener Grundsätze. Und schließlich gibt es das Arrangement mit der siegreichen Konterrevolution. In der Öffentlichkeit schlägt sich das in dem bekannten Streit um Schuld und Schuldige nieder, wobei man schnell mit dem Vorwurf der „Wendehalsigkeit“ oder, noch schlimmer, des Verrats bei der Hand ist. Auf den Band bezogen, erlitten das besonders Heinrich Bettziech/Beta und Moritz Rittinghausen. So ist der Band auch eine eindringliche Warnung davor, sich vorschneller Schuldzuweisungen und Abstempelungen zu enthalten, vielmehr wieder und wieder nach den Bedingungen zu fragen, unter denen Menschen nach einer Niederlage der von ihnen verfochtenen Sache, sich das Überleben und die Existenz zu sichern genötigt sind. Da ist Besserwisserei und Selbstüberhebung fehl am Platze. Heinrich Bettziech/Beta ist wahrscheinlich ein lebendiges Beispiel für die krampfhafte Suche nach Orientierung und einer Plattform, die geeignet war, eigene Erfahrungen und Aussichten auf Veränderung der Lage miteinander zu vereinbaren, nachdem die Welle revolutionärer Erneuerung abgeebbt war. Selbstverständlich werden in einer solche Situation hektische Fehlentscheidungen getroffen, seltsame Irrwege und Sackgassen eingeschlagen, falsche Hoffnungen gefasst oder in Ausweglosigkeit versunken, worüber sich im Nachhinein trefflich streiten lässt. Die Autoren haben sich darauf nicht eingelassen, so dass der Leser herausgefordert ist, sich seine eigenen Gedanken zu machen und ein eigenes Urteil zu bilden.
Nach Lektüre des Bandes hat man das lebhafte Bedürfnis, von den behandelten Persönlichkeiten eine bildliche Vorstellung zu bekommen. Das umso mehr, als einige von ihnen bislang nicht im Mittelpunkt von Darstellungen über die 48er Revolution standen. Wünschenswert wäre es, wenn die Hinweise von einigen Autoren auf noch ungenügend untersuchte Seiten des Lebens und Wirkens der vorgestellten Persönlichkeiten Resonanz fänden.
Helmut Meier
Wilhelm-Liebknecht-Studien
Wolfgang Schröder, Wilhelm Liebknecht. Soldat der Revolution, Parteiführer, Parlamentarier. Ein Fragment. Herausgegeben von Renate Dreßler-Schröder und Klaus Kinner. Karl Dietz Verlag Berlin. 478 Seiten, 34,90 Euro
1982 legte Raymond H. Dominick III die Biographie „Wilhelm Liebknecht and the Founding of the German Social Democratic Party“ vor, die auf breite Archivstudien gestützt ist. Eine russische Biografie von Vadim Tschubinski wurde 1973 ins Deutsche übersetzt.
Für Wolfgang Schröder (1935-– 2010) war Wilhelm Liebknecht ein Lebensthema, er hat sich jahrzehntelang mit ihm beschäftigt. Seine Freunde und Kollegen haben sich eine abschließende Biografie dieses Mitgründers der deutschen Sozialdemokratie von ihm gewünscht. „Mein Hauptanliegen ist eine Biographie Wilhelm Liebknechts“, dies schrieb er mir im Dezember 1981. Dass er sie nicht mehr vorlegen konnte, hatte viele Gründe. Die gleichsam „offiziellen“ Projekte seiner beruflichen Tätigkeit (seit 1958 am Institut für Geschichte der Deutschen Akademie zu Berlin, Außenstelle Leipzig) hatten notgedrungen Vorrang, so seine Forschungen und auch für ein breites Publikum bestimmten Darstellungen innerhalb großer Projekte zur Organisations-, insbesondere Gewerkschaftsgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Wilhelm Liebknecht wurde anders als sein Sohn Karl und als Bebel von der Planung der DDR-Geschichtswissenschaft nicht in die erste Reihe gestellt, sodass die Darstellung seiner Lebensgeschichte dann wohl als Liebhaberei des Autors angesehen worden sein mag. Nach der Abwicklung seines bisherigen Arbeitsplatzes (1991) fand Wolfgang Schröder (wie einem biografischen Anhang des hier zu besprechenden Buches zu entnehmen ist) 1992 – 1994 zunächst Beschäftigung in einem „Wissenschaftler-Integrationsprogramm“ und untersuchte dabei u. a. ein sächsisches Dorf (Beucha). 1994 bis 1996 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn und hier befasst mit dem sächsischen Parlamentarismus zwischen 1866/68 und 1918. Danach arbeitete er über seinen Wohnort Taucha, seine väterliche Genealogie, den Leipziger Arbeiterbildungsverein 1861 – 1878 und immer wieder über Wilhelm Liebknecht. Viele Jahre kämpfte er gegen seine Krebserkrankung. Eine geschlossene Liebknecht-Biografie gelang ihm unter diesen Umständen nicht mehr. Dennoch hat er ein umfangreiches Werk über diesen Politiker hinterlassen: zerstreut in Aufsätzen, aus denen das veröffentlichte Buch eine Auswahl bietet. Seine Witwe Renate Dreßler-Schröder und Klaus Kinner nennen ihre Edition im Untertitel „Ein Fragment“. Dieses Fragment besteht in gewisser Weise selbst wieder aus Fragmenten, genauer: aus Einzelstücken, teils bereits in Aufsatzform veröffentlicht, teils im Nachlass aufgefunden.
Wolfgang Schröder standen nicht nur die Quellen zur Verfügung, auf die auch Raymond H. Dominick sich stützen könnte, er hat viele weitere aufgefunden, so durch die Nutzung des umfangreichen Liebknecht-Bestandes in Moskau und lokaler bzw. regionaler Archive vor allem in Sachsen.
Das „Fragment“ ist von der Herausgeberin und dem Herausgeber chronologisch angeordnet. Für die „Lehrjahre: 1826 bis 1850“ schöpft Schröder aus Liebknechts Selbstzeugnissen, u. a. aus seinen „Erinnerungen eines Soldaten der Revolution“. Er lässt ihn ausführlich selbst zu Wort kommen, sodass wir den frischen Schreibstil jenes Mannes kennen lernen, der – aus einer hessischen Beamten- und Professorenfamilie stammend – zwar ein Intellektueller gewesen ist, aber kein Stubenhocker: ohne Studienabschluss, dafür mit einer Lehre als Zimmermann und Büchsenmacher, auf den Universitäten Gießen, Marburg und Berlin nicht nur in den Hörsälen anzutreffen, sondern auch als (relegierter) Rädelsführer, Nutznießer des studentischen Jagdprivilegs in Marburg, rauchend und kneipend und auf langen Fußmärschen, schließlich mit der – vielleicht selbst gefertigten Flinte – jenseits allen akademischen Milieus in der badischen Revolution. Sehr lebendig ist die Schilderung seines ersten Zusammentreffens mit Marx und Engels zu Beginn seiner hungerreichen Emigration in England. Dieser 130 Seiten starke biografische Abriss endet leider schon 1851 mit der editorischen Notiz „Wolfgang Schröder wollte hier weiter schreiben.“ Zwei kleine lokalgeschichtliche Schnitzer seien für eine spätere Auflage angemerkt: In Marburg war nicht Treitschke Professor (35), sondern Heinrich von Sybel. Das berühmteste Bauwerk der Stadt heißt nicht „Elisabether Kirche“ (40), sondern Elisabeth-Kirche.
Die Lücke endet 1865. Jetzt wird Liebknechts Wirken in Sachsen geschildert, vor allem in Leipzig. Das Kapitel beginnt wie eine Art Lokalstudie. Für das Haus Braustraße 15, in dem Liebknecht lebte, wird in einer Tabelle die Sozialstruktur der Bewohner dargelegt. Schröder schildert das Quartier einschließlich seiner damaligen Baulücken, man kann sich vorstellen, dass er hier wie eine Art Stadtführer unterwegs gewesen ist. Da Leipzig zugleich – wie er zutreffend feststellt – die Wiege der deutschen Arbeiterbewegung gewesen ist, geht die Lokalstudie bald in Organisations- und Parlamentsgeschichte über: Liebknecht wurde nicht nur Reichstags-, sondern auch sächsischer Landtagsabgeordneter. Ein weiterer Aufsatz schildert seine Rolle im Vereinigungsprozess der deutschen Sozialdemokratie und auf dem Kongress von Gotha 1875. Der Autor erstellt Liebknechts Itinerar in diesen Monaten und kann so auch die Verbindungen, die er zu den anderen Akteuren aufnahm, rekonstruieren. Den Vorwurf, dass er Bebel, der in Haft war, mit Absicht nicht in Einzelheiten einweihte, hält Schröder nicht für stichhaltig. „Vielleicht sind auch unscheinbare Dinge, wie z.B. die zeitaufwendige Entschärfung lokaler Streitigkeiten wie in Meerane oder auch einfach die verlockend günstige Abfahrtszeit eines Zuges nach Leipzig mit in Rechnung zu stellen. Keineswegs wohl wollte Liebknecht Bebel bewußt brüskieren.“ (243) Daneben Privates: die Enttäuschung der zweiten Ehefrau, Natalie, über das Leben an der Seite eines Mannes, der selten da war.
Stark lokalgeschichtlichen Charakter hat wieder die Darstellung der Zeit, die Bebel und Liebknecht als Ausgewiesene 1881 – 1884 in Borsdorf bei Leipzig verbringen mussten. Es sind zugleich Studien zu einer Gemeindechronik mit Untersuchung der Lokalpolitik, biographischen Notizen zu einzelnen Ortsansässigen, Aushebungen aus Kirchenbüchern und Überwachungsberichten der Polizei, außerdem Darlegungen zur sächsischen Kommunalverfassung. Ein Exkurs behandelt Liebknechts Verhältnis zu Johann Most und die Wandlung von Gefährten- zu Gegnerschaft, ein zweiter die Beziehungen zu Friedrich Engels. Die waren nicht unkompliziert. Engels’ Peer-Group waren die alten Achtundvierziger. Sie zerfielen in Renegaten wie Johannes Miquel und Getreue wie Johann Philipp Becker. Liebknecht gehörte einerseits zur zweiten Gruppe, andererseits war Engels fast permanent unzufrieden mit ihm. Was er für Liebknechts Unzuverlässigkeit in taktischen Fragen hielt – vor allem angeblich zu große Nachgiebigkeit in Verhandlungen mit anderen Fraktionen der Arbeiterbewegung –, ist in Wirklichkeit Selbständigkeit gewesen. Liebknecht parierte nicht, denn er verfolgte vor Ort seinen eigenen Kurs, und Engels hätte sich mit Frau Natalie wohl in der Klage darüber treffen können, dass der Genosse oder der Gatte sich im gegebenen Moment gerade einmal an einem anderen Ort – räumlich oder der Sache nach – befand als dort, wo man ihn gerade haben wollte. Stattdessen tat er auf von ihm selbst gewählten Wegen mit seinen eigenen Mitteln Wichtiges für die Arbeiterbewegung, so wie er es verstand. Seinen Fleiß und die Flexibilität in Tagesfragen hielt Engels offenbar für eine andere Art von Faulheit und Unbeweglichkeit: er argwöhnte, es fehle die Beflissenheit, das „Kapital“ gründlich genug zu studieren, und außerdem schien Liebknecht nach 1866 und 1871 der Abschied von den alten großdeutsch-demokratischen Hoffnungen schwer zu fallen. Auch Bebel, der auf andere Weise durchaus ebenfalls Selbständigkeit gegenüber Engels geltend zu machen wusste, wurde manchmal ungeduldig mit Liebknecht, der früher eine Art Lehrer für ihn gewesen war, dessen Schule er aber längst entwachsen war. Intrigant wirkte Kautsky, der in die Rolle des künftigen Ersten Theoretikers der Partei drängte und dessen Klagen Engels nur zu gern Gehör gab. Bei der Behandlung dieser Konflikte ergreift Schröder mit guten Argumenten Partei für Liebknecht gegen die Rüffel aus London.
Ein Bericht über Liebknechts Agitationsreise in die USA 1886 schließt den Band ab. Das letzte Lebensjahrzehnt, in dem der innerparteiliche Einfluss eines Mannes, den manche wohl gern aufs Altenteil abgeschoben hätten, abnahm, wird nicht mehr behandelt. Schlussbetrachtungen beleuchten die Gebiete, auf denen seine besonderen Verdienste lagen: für die Gewerkschaftsbewegung, die Arbeiterpresse, die Parlamentstaktik und die Parteigestaltung.
Detaillierter Nah-Blick statt Faltenwurf: das ist die Stärke der Arbeitsweise von Wolfgang Schröder, ständige Neugier nicht nur für die Person, sondern auch für ihr Umfeld, die Bereitschaft, unterschiedlichste Aspekte einzubeziehen und sich scheinbar auch einmal in ihnen zu verlieren, während in Wirklichkeit dadurch nicht nur ein Akteur lebendig wird, sondern eine Art politischer Landschaft mit ihrem Personal. Dadurch hat Wolfgang Schröder zur Liebknecht-Forschung das beigetragen, was nur er konnte und niemand sonst. Das bedeutet auch, dass leider so bald kein Zweiter kommen wird, der die verbliebenen Leerstellen mit den Voraussetzungen und Fähigkeiten, über die allein dieser Bahnbrecher verfügte, füllen könnte.
Georg Fülberth
Ein Leben im 20. Jahrhundert
Mario Kessler, Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895-1961) (= Zeithistorische Studien. Hrsg. vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Bd. 51), Böhlau Verlag, Köln u.a. 2013, 759 S. , 59,90 Euro
Mit fast 800 Seiten, zudem relativ klein bedruckt, liegt hier nicht nur ein gewichtiges, sondern von seinem Inhalt her ein außerordentlich achtunggebietendes Buch vor. Wer zu ihm greift, darf vermuten, es handele sich um eine reine bzw. um eine politische Biografie. Nun, dies trifft unzweifelhaft zu, und doch handelt es sich zugleich um die Darstellung eines Lebensweges, der wie kaum ein anderer sowohl ein Pro als auch ein Kontra in sich vereint. Ein Lebensweg, der wie kaum ein anderer das 20. Jahrhundert in all seiner Ereignisfülle und Kompliziertheit widerspiegelt, einen Zeitraum, der sowohl durch umfassende Weltkriege als auch von gesellschaftlichen Umbrüchen und Gegensätzen gekennzeichnet war. In diesem Sinne bezeichnet der Autor sein Werk als eine „Biografie der Epoche“ (16). Man könnte ebenso von einer Doppel-Biografie sprechen, da neben der titelgebenden Gestalt auch der Lebensweg von Ruth Fischers langjährigem Partner Arkadij Maslow vorgestellt wird. Darüber hinaus sieht sich nahezu jede weitere im Buch auftauchende Person mit aufschlussreichen biografischen Angaben versehen
Im Vordergrund steht aber Ruth Fischer: Ihr Name ist selbstverständlich Historikern bekannt, aber darüber hinaus heute wohl kaum jemandem geläufig. Allenfalls im Zusammenhang mit ihren beiden Brüdern Hanns und Gerhart Eisler taucht Ruth Fischer aus dem Dunkel der Vergangenheit auf
Was jedoch den Blick auf Leben und Wirken Ruth Fischers ebenso interessant wie brisant erscheinen lässt, hängt vor allem mit ihrer Rolle als ultralinker Führerin der Kommunistischen Partei Deutschlands in den Jahren 1924/25 sowie mit der als einer Kronzeugin US-amerikanischer Kommunistenjäger zusammen. Das eine wie das andere darzustellen und zu erklären, gehört zum insgesamt erfolgreich verwirklichten Anliegen des Autors.
Das erste der insgesamt neun Kapitel schildert familiäre Hintergründe, die den Beginn des Lebensweges von Elfriede Eisler zunächst in Leipzig, dann in Wien prägten. Sozialismus—das bedeutete für sie entschiedene Opposition zum Krieg und führte die Studentin in die Reihen der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei Österreichs. Mehr und mehr wollte sie aber nicht allein mit der als erledigt angesehenen bürgerlichen Gesellschaft brechen, sondern auch mit deren sozialdemokratischen „Nachläufern“. Sie gehörte am 3. November 1918 zu den Gründern der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, die nichts anderes erstrebte, als das, was die Sozialdemokratie „in ihrer Jugend“ gewollt habe. An der Spitze der neuen Partei stehend gab sie den „Weckruf“, das Organ der Partei, heraus und veröffentlichte eine viel diskutierte Broschüre mit dem Titel „Die Sexualethik des Kommunismus“. Kessler bezeichnet dieses Werk als einen anarcho-kommunistisch getönten Aufschrei der Generation, die den Weltkrieg als Zäsur zwischen der alten, scheinbar vernichteten und einer neuen, noch nicht erstandenen Welt erlebt habe. Generell schlussfolgert der Autor, darin sein generelles Anliegen erkennen lassend: „Die intellektuellen Wortführer dieser Generation verstanden sich nicht nur als Akteure eines radikalen Neubeginns, sie dachten auch fast nur im Begriffspaar des Entweder-Oder. Sie gaben dem frühen Kommunismus, aber auch den jeweiligen Varianten eines radikalen bürgerlichen Nationalismus, schließlich dem Faschismus das Gepräge. Ihre rigorose Ablehnung überkommener Konventionen ging nur allzu oft mit dem Bestreben einher, den politischen Opponenten zum Todfeind zu erklären. Dieses Bestreben überdauerte die politischen Stellungswechsel der Akteure. Es sollte bei vielen zur Manie werden und den Kommunismus wie auch den Antikommunismus des 20. Jahrhundert unheilvoll prägen – nicht zuletzt unter tatkräftiger Mithilfe der Exkommunisten.“ (54)
Enttäuscht von der Niederlage der ungarischen Räterepublik, von den Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen und auch von ihrem Ehemann Paul Friedländer verließ Elfriede Eisler im Spätsommer 1919 Österreich. In Deutschland traf sie Clara Zetkin, Willi Münzenberg und Paul Levi. Sie trat der KPD bei, arbeitete als Übersetzerin im Westeuropäischen Sekretariat der Kommunistischen Internationale und nahm den Namen Ruth Fischer an. In dieser Zeit kreuzte sich ihr Weg mit Maslow, der zum bestimmenden Mann in Ruth Fischers Leben werden sollte. Beide zeigten sich persönlich einander eng verbunden, auch in ihrer Radikalität, in ihren Träumen, in ihrer der Realität sich entfremdenden Hoffnung, auf putschistischem Wege gestellte Ziele erreichen zu können. Zumindest gelang es ihnen, Paul Levi zu verdrängen, ein ursprünglich demokratisch-kommunistisches Parteikonzept beiseite zu schieben und der KPD einen folgenreichen linksradikalen Kurs aufzuzwingen. Dieser führte zu Aufstandsversuchen, so im März 1921 im mitteldeutschen Industrierevier.
Ausführlich verfolgt Kessler die Auseinandersetzungen, die sich gleich einem Dreh- und Angelpunkt um die Begriffe „Einheitsfront“ und „Arbeiterregierung“ rankten und zu unterschiedlichem Verhalten gegenüber der Sozialdemokratie sowie zu Positionen einer Ablehnung der notwendigen Verteidigung der Weimarer Republik gegen ihre rechten Feinde führten. Was den Leser gewiss aktuelle Parallelen ziehen lässt, auch wenn er von zeitweiligen Kompromissen erfährt, von einem Hin und Her, das nicht zuletzt den innen- und außenpolitischen Erwägungen russischer Kommunisten geschuldet war. Es gelingt dem Autor hervorragend, sowohl die Revolutionsrhetorik der Parteilinken als auch das Schlingern des Parteikurses zwischen „Einheitsfront und Putschismus“ darzustellen, insbesondere in jenen Teilen, die sich mit dem Krisenjahr 1923 und dem Scheitern des „Deutschen Oktobers“ befassen.
Umfangreich gerät die Darstellung des kometenhaften Aufstiegs Ruth Fischers an die Spitze der KPD und des abrupten Endes ihrer Karriere in dieser Partei. Seit sie am 23. Mai 1924 den Vorsitz des Politsekretariats und damit das entscheidende Führungsamt der KPD übernahm, war ihr Name eng mit jener Kampagne verbunden, mit der die „Bolschewisierung“ der Partei durchgesetzt und die Basis für ihr späteres stalinistisches Erscheinungsbild geschaffen worden ist. Im Grunde legt Kessler hier eine nahezu vollständige Geschichte der Suche deutscher und russischer Kommunisten nach einem Ausweg aus den Folgen des gescheiterten „Deutschen Oktobers“ vor. Die Auseinandersetzungen beherrschten die Partei in einem Ausmaß, der in eine Selbstisolation der KPD und folgerichtig zu einem Rückgang von Mitgliederzahlen und Wählerstimmen in den Jahren 1924/25 führte. Verbalradikalismus, revolutionäre Phraseologie versetzten die Partei in einen ultralinken Fieberzustand. Jede innerparteiliche Willensbildung wurde folgenreich lahmgelegt. Das alles wird anhand klug analysierter Dokumente der Parteiführung, aus veröffentlichten und unveröffentlichten Materialien einzelner Akteure sowie aus Beobachtungen anderer Zeitgenossen dargestellt. Seine Arbeit an den Quellen verbindet der Autor mit kritischem Blick auf bisherige Wertungen in geschichtswissenschaftlichen und publizistischen Darstellungen. Sicher würde jeder Leser gern mehr darüber erfahren, welche Motive Ruth Fischer dazu veranlassten, sich unmittelbar vor ihrem Sturz als Kritikerin ultralinker Positionen zu gerieren, zumal sie auch später mancherlei Wende vollzog. Hingegen ist den subtilen Überlegungen zu folgen, die den Ursachen des erfolgreichen Weges von Ernst Thälmann an die Spitze der Partei gelten.
Mitunter wagt Kessler sich hier – immer den Blick auf die KPD gerichtet – auch in Bereiche vor, die allgemeinere und geschichtstheoretische Fragen betreffen: das Verwechseln von Wünschen und Realitäten, Sprache als Mittel politischer Auseinandersetzungen, Bindekräfte politischer Bewegungen, Verhältnis von Intellektuellen und Basis, Rolle von Frauen sowie von Herrschaftsapparaten in Parteien u.ä.m.
Ähnlich dicht, materialreich und sorgfältig durchdacht bieten sich die folgenden Kapitel dar. In ihnen behandelt Kessler den zehnmonatigen Aufenthalt Ruth Fischers im Moskauer Hotel Lux, dann ihr Auftreten als Außenseiterin in der KPD, ihr kurzzeitiges Wirken im Leninbund, ihre den Unterhalt sichernde Tätigkeit als Sozialfürsorgerin, ihre Sicht auf das Anwachsen und die Aktionen der Nazipartei, vor allem aber die kritischen Auffassungen zu KPD und dem Stalinschen Kurs der Kommunistischen Internationale. Gemeinsam mit Maslow flüchtete sie am 9. März 1933 aus Deutschland. Es begann ein Leben, das sich im Zeichen von „ausgestoßen und gejagt“ zu sein bewegte. Sie wurde sowohl von Hitler als auch von Stalin verfolgt und lebte mehr schlecht als recht in Paris und Lissabon. Hin- und hergerissen sah sie sich zwischen den zahlreichen Kleingruppen des antifaschistischen Exils, näherte sich Trotzki an und entwickelte gleichzeitig eine kritische Sicht auf ihn. Sie lehnte die Bemühungen um eine Volksfront in Frankreich als „Schwindelei“ ab und litt an ihrer Isolation unter den antifaschistischen Intellektuellen. Letztere bestünden, so urteilte Fischer apodiktisch, „zu neunzig Prozent aus Stalinisten und fellow travellers“.
Nachvollziehbar stellt der Verfasser die verheerenden Wirkungen der Moskauer Prozesse dar, die Ruth Fischer erkennen ließen, dass alle Hoffnungen, die innerparteiliche Opposition möge sich stärker als Stalin erweisen und könne die Partei von Grund auf reformieren, auf Sand gebaut waren. Ihre Schlussfolgerung: Nur über die Zerschlagung der kommunistischen Partei und der Komintern werde der Stalinismus überwunden werden können. Zugleich befasste sie sich in zahlreichen Publikationen mit der Frage: Warum Stalin? Mehr aber noch mit Anschuldigungen an andere Exilanten, die sie des Mordes an Maslow zieh und einer aus Russland gesteuerten Verschwörungsbereitschaft gegen die USA bezichtigte. Es fällt schwer, ohne Empörung zu lesen, wie sie in den letzten Jahren des Krieges und unmittelbar danach zugunsten US-amerikanischer Sicherheits- und Verfolgungsapparate hasserfüllt und wider besseres Wissen falsche Behauptungen in die Welt setzte, um anderen Antifaschisten zu schaden – darunter ihren Brüdern Hanns und Gerhart, ferner Bertolt Brecht (tituliert als „Minnesänger“ des sowjetischen Geheimdienstes), Carl Zuckmayer, Oskar Maria Graf, Hermann Duncker, Albert Schreiner, Alfred Kantorowicz, Jakob Walcher, um nur einige zu nennen. An einer Stelle (400) spricht Kessler von ihrer fatalen Neigung, ungeprüft Namen aneinanderzureihen, deren Träger sie in der einen oder anderen Weise mit prostalinistischer Gesinnung assoziierte und damit regelrecht einer „Hexenjagd“ (so das Urteil von Arthur Miller) aussetzte. Einen ganzen Abschnitt widmet er später der Frage, weshalb Ruth Fischer log und wer welche Antworten dazu fand.
Ein weiteres Kapitel widmet Kessler dem Buch „Stalin and German Communism“, das Ruth Fischer 1948 veröffentlichte und das zwei Jahre später in deutscher Übersetzung erschien. Er schildert, wie es entstand, mit welchen Geldmitteln seine Erarbeitung unterstützt worden ist und wie es der im Kalten Krieg aufkommenden Totalitarismustheorie entsprach. Mit Recht wirft er der Autorin vor, ihren eigenen Beitrag zur „Bolschewisierung“ der KPD nicht thematisiert zu haben. Vor allem habe sie die vernunftgemäße Auseinandersetzung mit dem Kommunismus durch eine Verschwörungstheorie ersetzt, was sie auch dazu brachte, im „Dickicht von Geheimdiensten“ zu wirken sowie selbst mit rechtsradikalen Kräften und deutschen Altnazis zusammenzuarbeiten. Damit sei sie „zur Sprecherin einer undifferenzierten, demokratische Werte infrage stellenden Kommunistenfeindschaft (geworden), die über eine rationale Kommunismuskritik weit hinausging.“ (491)
Die letzten fünf Lebensjahre – Ruth Fischer starb am 13. März 1961 – sieht Kessler als eine Zeit, in der sie sich mit ihrer Sicht auf die neuen Entwicklungen in der Welt „zurück zum Kommunismus“ bewegt habe. Das lesenswerte Buch beschließt er mit den Worten: „Am Ende gelangte sie zu mancher Einsicht. Als demokratische Sozialistin entsagte sie den Verschwörungstheorien. Sie kehrte, wenn auch spät, zur Humanität zurück, die sie 1914 gezeigt hatte, als die Umwelt dem Kriegstaumel verfiel. Ihre schweren Irrtümer wie der ernsthafte Versuch, sie zu korrigieren, sollten nicht vergessen werden, denn viele Widersprüche, mit denen sie rang, sind noch immer ungelöst. Sie zu lösen, bedarf anderer Wege als jener, denen Ruth Fischer allzu lange folgte.“ (618)
Der unter anderem auch von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Band sollte trotz seines Umfangs viele Leser finden, zumal die Darstellung klar und logisch strukturiert erscheint. Der Text liest sich spannend, anregend sicher auch für jeden, der manche Deutung des Geschehens durch den Verfasser zu teilen nicht bereit ist.
Manfred Weißbecker
Außenpolitik Polens 1918-1939
Holger Michael, Zwischen den Kriegen. Die Außenpolitik Polens 1918-1939, Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2013, 366 S., 24,90 Euro
Bis zur Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR 1991 arbeitete Holger Michael (Jg. 1949) an deren Institut für allgemeine Geschichte. Seine dortigen Forschungen zur Geschichte Polens und Osteuropas im 20. Jahrhunderts bilden die Grundlage für ein halbes Dutzend Monographien, die er zwischen 2007 und 2013 zu diesem Gegenstand veröffentlicht hat, darunter über die Geschichte der polnischen Juden im XX. Jahrhundert (2007), über die katholische Kirche Polens im selben Jahrhundert (2009) und eine Biographie Jósef Piłsudskis (2010). Sein Abriß der Außenpolitik des 1918 wiederbegründeten polnischen Staates bis zu dessen kriegerischer Zerschlagung 1939 ist in deutscher Sprache die einzige derartige Arbeit zum Gegenstand. Das Buch ist in mehreren Dimensionen strukturiert:
Der Autor kennzeichnet und verfolgt die beiden gegensätzlichen Linien der Außenpolitik des wiedererstandenen Polen, die 1918 bei der Staatsgründung, 1919 auf der Pariser Friedenskonferenz und bis 1922 bei den Kriegen um die Grenzen des neuen Staates um die Vormacht bei der Gestaltung rangen. Roman Dmowski, der politische Kopf der Nationaldemokraten (Endecja), der nationalistischen Partei vorrangig der polnischen Industriellen, trat für ein Polen als Nationalstaat (möglichst ohne größere Minderheiten) ein, der sich im Gegensatz zu Deutschland sah und in Anlehnung an ein (nichtrevolutionäres) Rußland, in der piastischen Tradition Polens. Józef Piłsudski, ehemals Sozialist, dann Agent des österreichischen Militärgeheimdienstes, 1918 erster Chef des neuen Staates, präferierte mehr die jagiełłonische Tradition und wollte die osteuropäischen Nachbarvölker wie im Polen vor 1770 entweder direkt in die polnische Staatlichkeit oder wenigstens unter deren Hegemonieschirm zwingen.
Voll verwirklicht wurde keine der beiden Konzeptionen. Bei der Pariser Friedenskonferenz hatte Dmowski die von den Alliierten anerkannte polnische Delegation geleitet. Während die Endecja mit den Aufständen in Großpolen und in Oberschlesien ihre Ziele durchsetzen wollte, ist die Initiative für die Aggressionen gegen die Sowjetunion, die erst nach dem Abflauen der Interventionskriege begannen, Piłsudskis Politik gegenüber den osteuropäischen Nachbarvölkern zuzuschreiben. Mit Litauen befand sich der polnische Staat ob seiner Aggression gegen das Wilna-Gebiet im Dauerkriegszustand. Das schließlich in den Grenzen von 1923 bestehende polnische Staatsgebilde hatte während der ganzen Zwischenkriegszeit mit den Nachteilen beider außenpolitischer Konzeptionen zu ringen, ohne die jeweils erhofften Vorteile zu erlangen. Die inneren Auseinandersetzungen um die Außenpolitik zwischen den Anhängern beider Konzeptionen wurden nie beendet. Polens Grenzen mit allen seinen Nachbarn waren Ergebnisse konfliktreicher, meist militärischer Auseinandersetzungen, von den Nachbarn ungewollt und angefochten. Polen war kein Nationalstaat, sondern hatte zu einem Drittel nationale Minderheiten, versuchte aber in Gesetzgebung und Innenpolitik nationalstaatliche Normative durchzusetzen und behandelte die Versailler Minderheitenschutzbestimmungen als ihm aufgezwungen. Soziale und nationale Proteste der Minderheiten wurden schließlich durch militärische Strafexpeditionen gegen die Ukrainer geahndet.
Das neue Polen war ein Eckpfeiler des Versailler Vertragssystems, dennoch befand sich Polen mit mehreren Ländern dieses Systems in Konflikt. Dieses System bildet eine zweite strukturelle Dimension seiner Außenpolitik. Polens politischer und militärischer Hauptbündnispartner war Frankreich. Doch dieses Bündnis erodierte bald und blieb bis 1939 entleert. Als sich Polen 1938 an Hitlers Politik und Aggression gegen die Tschechoslowakei beteiligte, bewerteten Frankreich und England dies als Verrat an ihrer Politik und stuften Polen als faktischen Verbündeten Hitlers ein.
Eine dritte, und für die laufende Außenpolitik stets gewärtige Dimension war das angestrebte Gleichgewichtsverhältnis zu Polens angeblich ungleichen Feinden, also sein Verhältnis zu Deutschland und Rußland bzw. der Sowjetunion. Die proklamierte Maxime des gleichen Abstands wurde mit der Zeit zunehmend weniger eingehalten, der Antisowjetismus überwog zunehmend, die Blindheit gegenüber Hitlers Politik nahm verheerende Ausmaße an.
Eine vierte Dimension der Außenpolitik Polens unter Außenminister Józef Beck war der Versuch, ein „Drittes Europa“ von Finnland über die baltischen Staaten bis zu Ungarn und Rumänien als antisowjetischen „cordon sanitaire“ aufzubauen und mit dessen Hilfe Polen zu einem Großmachtstatus zu verhelfen. Diese Politik Außenminister Becks erfolgte in Anlehnung an Hitlerdeutschland und ahmte dessen Aggressionen nach. Sie beeinträchtigte gravierend die Vertragstreue gegenüber dem Versailler System, ihre feindliche Spitze richtete sich außer gegen die UdSSR auch gegen die Tschechoslowakei und Litauen.
Die entscheidende Ebene, auf welcher Holger Michael die einzelnen Schritte und Phasen der polnischen Außenpolitik untersucht, ist das Streben nach nationaler Unabhängigkeit bzw. deren uneingeschränkter Bewahrung. Dieses Ziel wird vom Autor gewürdigt und als Maßstab seiner Bewertungen gehandhabt. Die drei entscheidenden Linien, auf denen auf dieser Ebene die polnische Außenpolitik durchgeführt wurde, waren Polen-Rußland, Polen-Frankreich und Polen-Deutschland. Der Autor analysiert dies vor allem an den Verhandlungen mit Ribbentrop und Hitler 1938/39 und anhand der Verweigerung der von Frankreich, Großbritannien und der UdSSR bei ihren Verhandlungen im Sommer 1939 in Moskau von Polen geforderten Durchmarschrechte für die Rote Armee zum Kampf gegen Nazideutschland.
Von diesen Dimensionen strukturiert, rekonstruiert Michael die Geschichte der polnischen Außenpolitik wesentlich chronologisch, wobei die Gründungsphase mit ihren Konflikten und Kriegen um die Grenzen sowie die Vorbereitung und die Anfangsphase des zweiten Weltkrieges detailliert dargestellt und analysiert sind und ein nicht immer gerechtfertigtes Übergewicht erhalten. Der Autor selbst spricht zwar von einer populärwissenschaftlichen Synthese, faktisch handelt es sich aber um eine professionelle historiographische Arbeit; „populär“ steht hier vielleicht für einen manchmal unpräzisen Sprachgebrauch und einen reduzierten wissenschaftlichen Apparat. Verdienstvollerweise bezieht der Autor stets die polnische Historiographie zu den behandelten Fragen kritisch mit ein und wendet sich gegen zeitgeistkonforme, angepaßte Erklärungen.
Verständlicherweise können in einem Band über Außenpolitik nicht auch die Innen- und die Wirtschaftspolitik explizit Gegenstand sein. Michael bemüht sich, deren Zusammenhänge mit der Außenpolitik dennoch deutlich zu machen und die Interessen jener Klassen zu benennen, die mit ihr durchgesetzt werden sollten, sei es bei den Kriegen um die Grenzen, bei den Bündnisbeziehungen oder den Feindschaften des Landes. Dennoch ist zu bedauern, daß einigen Zusammenhängen nicht intensiver nachgegangen wurde, so der untersuchten Außenpolitik etwa mit dem deutsch-polnischen Wirtschaftskrieg, so dem Widerspruch zwischen dem Kapitalmangel der polnischen Bourgeoisie, der Dominanz ausländischen Kapitals und der polnischen Außenpolitik, oder dem Mißverhältnis zwischen der gering entwickelten, agrarisch dominierten Wirtschaft und dem Großmachtanspruch eines „Dritten Europa“, oder die unzureichende wirtschaftliche wie militärische Basis der Außenpolitik Becks. Instruktiv ist der Nachweis, aus welchen sozialen Gruppen sich die allermeisten polnischen Diplomaten rekrutierten und wie gravierend sich ihre Standesvorurteile und Vorstellungen in der Praxis auswirkten. Sie waren meist Söhne adliger polnischer Grundbesitzer aus Ostpolen. Hier wäre ein Vergleich mit der sozialen Rekrutierung des die Wirtschaftsbasis überlastenden, überdimensionierten und dennoch uneffektiven Militärapparats, der wie das diplomatische Korps weitgehend sozial homogen war, nützlich gewesen.
Ausgangspunkt seiner kritischen Darstellung ist die kultische, aber einseitige und verfälschende Verherrlichung jener Außenpolitik Polens 1918-1939, die zum Untergang des Landes führte, in der Historiographie und Publizistik des heutigen Polen. Der gegenwärtige fanatische, ja zoologische Antirussismus nicht nur der chauvinistischen polnischen Rechten versucht, sich als legitimer Erbe der polnischen Außenpolitik der Zwischenkriegszeit auszugeben, was ohne einseitige, alle Widersprüche und Differenzierungen eliminierende Verfälschung nicht abgeht. Noch einseitiger, vorurteilsbeladener, geschichtsblinder und gröblich verfälschender als der Kult der Politik des 1918 wiedererstandenen Polen ist allerdings deren Gegenteil, die Verteufelung der Staatspolitik der polnischen Linken seit 1944, die dem Land erstmals historisch stabile Grenzen und die Errungenschaft eines Halbjahrhunderts des Friedens, der Industrialisierung und des sozialen Aufstiegs der Arbeiterklasse brachten, durch dieselbe Historiographie und Publizistik.
Demgegenüber wird Michaels Darstellung den historisch komplizierten und widersprüchlichen Zusammenhängen des Kampfes um die staatliche Unabhängigkeit, um Staatsgrenzen und die Bündnisbeziehungen gerecht, lotet ihre Handlungsspielräume aus und bewertet kritisch ihre Manöver. Er nimmt dabei den am Ziel der Sicherung der Unabhängigkeit festgemachten polnischen Patriotismus als Beurteilungsmaßstab. Die gebotene Zurückhaltung des Analytikers leidet allerdings dort, wo er dem florierenden Piłsudski-Mythos Zugeständnisse macht und den Marschall als Maßstab eigener Bewertung figurieren läßt.
Der flüssig geschriebene, gut lesbare Band ist mit sechs z.T. farbigen Karten ausgestattet, die dem Leser auch die territoriale Orientierung in den Auseinandersetzungen um Polens Grenzen nach 1918 erleichtern.
Werner Röhr
Der Rechts- und Sozialstaat in der Klassengesellschaft
Andreas Fischer-Lescano/Joachim Perels/Thilo Scholle (Hrsg.), Der Staat der Klassengesellschaft. Rechts- und Sozialstaatlichkeit bei Wolfgang Abendroth, Nomos, Baden-Baden 2012, 275 S., Euro 29,00
Der hier vorzustellende Sammelband (betrüblicherweise ohne Personen- und Sachregister) mit seinen durchgehend aus den jeweiligen Originalquellen erarbeiteten und die Sekundärliteratur verarbeitenden Beiträgen von 15 Autoren erweitert, vertieft und verallgemeinert den bisherigen Erkenntnisstand.1 Er ist, als Band 51, ein Glanzstück innerhalb der von Rüdiger Voigt herausgegebenen Reihe Staatsverständnisse, in der die Ideen von Staatsdenkern – etwa von Aristoteles, Fichte, Hegel, Hobbes, Kant, Kelsen, Luxemburg, Locke, Machiavelli, Marx, Montesquieu, Nietzsche, Platon, Pufendorf, Radbruch, Thukydides – in der Annahme ihrer ungebrochenen Aktualität als Möglichkeit einer „Wiederaneignung der Klassiker“, vorgestellt werden. Interessierten wurde zusätzlich ein Diskussionsforum unter www.staatswissenschaft.de eröffnet, um sich mit eigenen Beiträgen an der Staatsdiskussion zu beteiligen.
Dass Abendroth, so Frank Deppe (83), einen „singulären Typus“ unter den deutschen Intellektuellen des vorigen Jahrhunderts verkörpert, ist unbestreitbar. Über welchen anderen könnte man schon berechtigt sagen, dass jedes seiner Worte identisch mit ihm selbst sei (so aber über ihn Hans Heinz Holz, in: Topos, Nr. 26, 2006, S. 11)? Während die beiden wichtigsten deutschen Juristen-Lexika der Gegenwart (von Kleinheyer/Schröder, 1996, und von Stolleis, 2001) ausgerechnet Abendroth ignorieren – ich vermute: aus politischen Erwägungen! –, bietet das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (Bd. 1, 1996, S. 21-29) ein eigenes Lemma über die „Abendroth-Schule“, in dem Heinz Jung sogar über mehrere Generationen von Abendroth-Schülern berichtet, und in einem Sammelband über: Streitbare Juristen (Baden-Baden 1988, S. 476) wird Abendroth von Dieter Sterzel als Verfassungsjurist der Arbeiterbewegung schlechthin charakterisiert.
Um von vornherein Pflöcke zu setzen: Die Überzeugungskraft des Wissenschaftlers und Politikers Abendroth erklärt sich auch aus seinem Lebenslauf (hierzu vor allem Kritidis, S. 16 ff.): Bereits im Sommer 1920 hatte er sich als Vierzehnjähriger in Frankfurt der „Freien Sozialistischen Jugend“ angeschlossen, die sich noch im gleichen Jahr in „Kommunistischer Jugendverband Deutschlands“ umbenannte und in die KPD eingliederte. Aus ihr wurde er, der seit 1924 an den Juristenfakultäten in Tübingen, Münster und vor allem Frankfurt studierte, wegen seiner Kritik an der berüchtigten, gegen die SPD gerichteten Sozialfaschismustheorie seiner Partei im November 1928 ausgeschlossen. Anschließend Mitarbeit in der Roten Hilfe und in der von Brandler und Thalheimer initiierten KPO.2 Ab 1930 Referendariat und Promotionsplanung mit einer Arbeit über das Betriebsrätegesetz von 1920, vermutlich auch angeregt vom Arbeitsrecht für Betriebsräte von Karl Korsch, Jena 1922. Am 1. April 1933 kurzzeitige Verhaftung mit seinem Doktorvater, dem Sozialdemokraten Hugo Sinzheimer. Im gleichen Jahr Rauswurf aus dem Justizdienst und Berufsverbot. Promotion mit einer völkerrechtlichen Dissertation an der Universität Bern, die 1936 in Breslau publiziert, doch aus politischen Gründen bald makuliert wurde. Illegale Tätigkeit in einer sozialistischen, mit Kommunisten zusammenarbeitenden Widerstandsgruppe. Es folgten 1937 Verhaftung und Folterung durch die Gestapo, Verurteilung wegen Hochverrats zu einer vierjährigen Zuchthausstrafe, die er im Zuchthaus Luckau verbüßte, mit sich anschließendem Zwangs-Kriegsdienst im 999iger Strafbataillon, aus dem er 1944 zu den griechischen Partisanen der EAM und ELAS desertierte. Während der britischen Kriegsgefangenschaft trat er noch in England 1946 der SPD bei.
Nach seiner Übersiedlung in die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands wurde er 1947 Regierungsrat im Justizministerium der Mark Brandenburg, danach Professor an den Juristenfakultäten in Leipzig, Halle und Jena, von wo er nach Westdeutschland flüchtete, um einer sich andeutenden (ihm von einem Kommunisten „verratenen“) Verhaftung zu entgehen, und weil er es, wie er von Bremen aus am 29. Dezember 1948 der Volksbildungsministerin des Landes Thüringen (mit einem Durchschlag an Hilde Benjamin) schrieb, mit seinem Gewissen nicht verantworten könne, Öffentliches Recht in der SBZ zu lehren und die Studenten in Gewissenskonflikte zu verwickeln; dies sei, so beteuerte er, „keine Ablehnung der Grundgedanken der Oktoberrevolution und des Sozialismus“.3 Über den sich anschließenden Balanceakt Abendroths zwischen tagespolitischer Kritik und historischer Erklärung wird historisierend berichtet und schließlich behauptet, dass er in einer Apologie der „realen Sozialismen“ endete: seine einschlägigen Arbeiten seien seit 1968 von dem Versuch geprägt, „noch jede der terroristischen Entartungen des sowjetisch geprägten Weges in einen Erklärungszusammenhang des Unvermeidlichen zu bringen und dadurch vielfach auch zu rechtfertigen“ (Schöler, 61). Scharfer Tobak. Sollte es sich etwa darum handeln, den charakterstärksten Wissenschaftler deutscher Zunge innerhalb des linken Flügels der real existierenden Arbeiterbewegung zu sozialdemokratisieren? Ausgerechnet denjenigen, der jeden Versuch, innerhalb der bestehenden Gesellschaft die Klassen zu versöhnen, für ein Verbrechen an der Menschheit hielt, und der vor einer allzu praktischen Zusammenarbeit seiner Partei mit der Bourgeoisie warnte, denn das Proletariat habe die Unterwerfung seiner Interessen unter die des „Volkes“ immer teuer bezahlen müssen, auch wenn „einzelne seiner Klassengenossen dadurch Landräte oder gar Minister werden“.4 Als wäre so ein Satz nicht 1929 geschrieben worden, sondern 2013.
Ab 1949 erhielt Abendroth eine Professur an der grade gegründeten Reformhochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven; seit 1951 forschte und lehrte er als Ordinarius für wissenschaftliche Politik an der Philosophischen Fakultät in Marburg bis zu seiner Emeritierung 1972; vorübergehend war er Mitglied des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen. Gegen seine Berufung in das Juristische Prüfungsamt beim Oberlandesgericht in Frankfurt protestierte die Marburger Juristenfakultät, an der altgediente Naziprofessoren das Sagen hatten. Zwar akzeptierte ihn die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, das Elitekorps der Öffentlichrechtler unter den Juristenprofessoren, als Mitglied, verweigerte ihm aber das Korreferat zum Referat über „Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates“, das demjenigen übertragen worden war, der im Tausendjährigen Reich in Frankfurt, Hamburg, Königsberg, Wien und Heidelberg dem liberalen den totalen Staat entgegengesetzt hatte (Thurn, 123), und der nun dem „sozialen Rechtsstaat“ den Charakter eines Rechtsbegriffs aberkannte, da er die strukturelle Verfassungsform der Bundesrepublik überhaupt nicht tangiere (Perels, 145).5
Nachdem im Sommer 1958 die Diskussion um den ersten Entwurf des Godesberger Programms der SPD begonnen hatte, veröffentlichte Abendroth einen Alternativentwurf über die „Aufgaben und Ziele der deutschen Sozialdemokratie“ und kandidierte in Marburg als Delegierter zum Godesberger Parteitag, unterlag aber knapp dem ebenfalls kandidierenden Oberbürgermeister der Stadt. Wegen seiner marxistischen Kritik am Godesberger SPD-Programm und seiner Mitgliedschaft in der „Fördergesellschaft für den SDS“ wurde er Ende 1960 aus der SPD ausgeschlossen; als nunmehr Parteiloser spielte er dennoch Ende der sechziger Jahre eine richtungweisende Rolle bei einer marxistischen Orientierung eines Teiles der Studenten- und der Gewerkschaftsbewegung. Dabei wird zwischen einer politökonomischen und einer demokratiepolitischen Gewerkschaftskonzeption Abendroths unterschieden (Urban, 178), aus der sich auch unterschiedliche Anforderungen an die Gewerkschaftsbewegung ergeben: kämpferische Interessenvertretung gegen das Kapital einerseits und andererseits Mitwirkung an der politischen Willensbildung staatlicher Institutionen. In seinem letzten Lebensjahrzehnt war er „zum verehrten Lehrer einer Generation von jüngeren GewerkschaftsfunktionärInnen“ geworden (Deppe, 95, Urban, 194), die von ihrem charismatischen Lehrer gelernt hatten, die Gewerkschaften als Hüter der Demokratie zu verstehen (Eberl/Salomon, 206). Allerdings habe der auf den Klassenkampf fixierte Abendroth die Strukturkategorie Geschlecht ebenso wie die spezifischen Diskriminierungen gegenüber Frauen weitgehend vernachlässigt, und deshalb werde es Zeit, mit der maskulinen Dominanz in der Abendroth-Rezeption zu brechen (Kreck, 100, 117).
Exponiert wie kein anderer hat Abendroth aus seiner Verantwortung als Rechtswissenschaftler in seinen auf Öffentlichkeit zielenden Stellungnahmen gegen die Verdrängung der Ursachen und Folgen der Nazi-Diktatur aus dem Gedächtnis seiner Zeitgenossen, gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, gegen das KPD-Verbot, gegen die Berufsverbote, gegen die Notstandsgesetze, gegen den Radikalenerlass, gegen den Abtreibungsparagraphen 218 des StGB argumentiert, aber auch nicht weniger vehement den Stalinismus (Römer, 161), den Marx- und Lenin-Dogmatismus, bei dem nicht Beweis gegen Beweis, sondern Zitat gegen Zitat gewogen werde, oder den Einmarsch der UdSSR in die CSSR attackiert (Kritidis, 37). Er war aber auch der einzige deutsche Völkerrechtsprofessor, der am Russell-Tribunal über die Kriegsverbrechen der USA in Vietnam teilnahm.
Als bekennender Marxist, der auf der weltgeschichtlichen Bedeutung der Oktoberrevolution beharrte (es sei die Schuld des westeuropäischen und vor allem des deutschen Proletariats gewesen, die den Weg der russischen Revolution verlassen und ihr damit den Weg zum Thermidor aufgezwungen habe, wird er auf S. 40 zitiert), war er derjenige unter den Juristen seiner Zeit und seines Landes, der am Überzeugendsten der Machtausübung von Oben die Rechtswahrnehmung von Unten entgegensetzte. Das Demokratiegebot des Grundgesetzes radikalisierend unterschied er scharf zwischen einerseits dem Staatsapparat und andererseits der Verfassungsordnung. In seinen letzten Lebensjahrzehnten war er die wichtigste Leit- und Integrationsfigur der außerparlamentarischen Opposition in Deutschland, dessen sozialistische Parteitheorie zudem für die Gegenwartsüberlegungen zu einer programmatisch statt pragmatisch begründeten Zusammenführung linker Parteien in unserem Land wertvolle Orientierungshilfen denjenigen bietet, die über den Tellerrand ihrer temporären Personalinteressen hinauszublicken Charakter und Mut haben.6
Abendroths zukunftsträchtigste Leistung als Rechtswissenschaftler dürfte darin bestehen, dass er als Allererster die gegenwärtig von den Neoliberalen aller Parteien in Misskredit geredete Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes (Art. 20 I, 23 I, 28 I, 79 III) als die normierte Negation eines machtgesicherten Glaubens an die immanente Gerechtigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung begriff und daraus die Forderung ableitete, die für die ganze Gesellschaft notwendigen Planungen der privaten Disposition durch diejenigen zu entziehen, „die über die entscheidenden ökonomischen Machtpositionen verfügen können“, und sie der „gemeinsamen Kontrolle aller am gemeinschaftlichen Produktionsprozess beteiligten Glieder der Gesellschaft“ zu unterstellen (Römer, 166, Bieling, 220).7 Das geltende Grundgesetz ermögliche jedenfalls den Sozialisten – so auch zwanzig Jahre später noch sein kategorisches Urteil – „sozialistische Vorstellungen zu vertreten, zu verteidigen und zu realisieren, wenn wir nämlich die Macht haben“.8 Wie in jüngster Zeit vor allem Joachim Perels und Frank Deppe herausgearbeitet haben,9 hatte Abendroth damit (und in Verbindung mit den Grundgesetz-Artikeln 14 und 15) den Weg dafür freigedacht, dass die bundesdeutsche Demokratie zwar nicht verpflichtet, jedenfalls aber berechtigt sei, Produktionsmittel zu vergesellschaften. Denjenigen „Linken“ sei’s ins Stammbuch geschrieben, die sich, ohne rot zu werden, an den Privatisierungsorgien beteiligen, die uns gegenwärtig beschert werden. Allerdings lassen sich aus Abendroths bewundernswerter Fundamentalposition schwerlich Analogieschlüsse für die Rechtslage bei den Vereinten Nationen (hierzu: Fischer-Lescano/Stuby, 237 ff.) oder bei der Europäischen Union (hierzu: Bieling, 217 ff.) ziehen, in deren Vertragswerk (Artikel 10) sogar die Repräsentations-Demokratie mit ihren Illusionskonsequenzen festgeschrieben ist. Leider, wie der Rezensent meint.
Hermann Klenner
Das Ende der DDR-Geschichtswissenschaft
Werner Röhr, Abwicklung. Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR. Band 2. Analyse ausgewählter Forschungen. Übersichten – Register. Edition Organon, Berlin 2012, 636 Seiten, 34,-- Euro
Schon im ersten Band seiner Studie über das Ende der DDR-Geschichtswissenschaft1 hatte sich Werner Röhr neben dem eigentlichen Prozess der „Abwicklung“ dieser Wissenschaft durch Politik, „Wissenschafts“-Bürokratie und Historikerzunft der BRD auch mit den zentralen historischen Einrichtungen, Forschungsfeldern- und Ergebnissen sowie übergeordneten Leitungsgremien der DDR-Historiographie beschäftigt. Im zweiten Band seines Werks, der auch ein umfangreiches Register sowie Struktur- und Personalübersichten zu den im ersten Band behandelten Instituten enthält, stellt Röhr nun sechs ausgewählte Gegenstandskomplexe der in Band 1 genannten Forschungen sowie eine historische Debatte ausführlicher dar und unterzieht sie einer kritischen Analyse.
Kapitel 6 (die Kapitelnummerierung schließt an den ersten Band an) „Faschismus, Weltkrieg, Widerstand“ analysiert Forschungen der DDR-Historiker zum deutschen Faschismus und zum Widerstand gegen ihn und zum Zweiten Weltkrieg.
In Kapitel 7 „Die deutsche frühbürgerliche Revolution. Forschungsansatz und Kritik“ wird die Konzeption der frühbürgerlichen Revolution in Deutschland vorgestellt und ihre Realisierung in der nachfolgenden Forschung untersucht.
Kapitel 8 „Weltgeschichte im Revolutionsquadrat. Vergleichende Untersuchungen zu den bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit in Europa“ analysiert anhand ausgewählter Probleme die vergleichenden Forschungen insbesondere der Leipziger Universalhistoriker zum Thema. Die Verflechtung der deutschen Geschichte mit der Universalgeschichte in der Forschung wird in diesem Kapital anhand der europäischen Revolution von 1848/49 untersucht.
Kapitel 9 „Agrargeschichte und Alltagsgeschichte der Landbevölkerung“ informiert über beispielhafte Leistungen von DDR-Historikern auf dem Gebiet der Agrargeschichte, insbesondere über die Geschichte der landwirtschaftlichen Produktivkräfte und der bürgerlichen Umwälzung in der deutschen Agrarwirtschaft. De von DDR-Historikern besonders gut erforschte komplexe Alltagsgeschichte der ländlichen Bevölkerung wird am Beispiel der Magdeburger Börde dargestellt.
Die Kapitel 10 „Pauperes Christi. Sozialreligiöse Bewegungen beim Übergang zum Hochmittelalter“ und 11 „Die deutsche Stadt im Mittelalter“ widmen sich ausgewählten Forschungsleistungen von Mediävisten in der DDR. Geht es in Kapitel 10 um die Kirchenreform als Trias von Papstreform, Klosterreform und sozialreligiösen Massenbewegungen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Strukturveränderungen beim Übergang vom Früh- zum Hochmittelalter, so handelt Kapitel 11 von der Sozialgeschichte der mittelalterlichen deutschen Stadt.
Anders als die vorangegangenen Kapitel zeichnet schließlich Kapitel 12 („Eine Debatte über Genesis und Wesen des okzidentalen Feudalismus“) eine über mehrere Jahre geführte wissenschaftliche Kontroverse nach. Die Argumentationen der Streitenden werden systematisch analysiert und bewertet.
Vom Umfang her gut die Hälfte des zweiten Bandes nimmt der rund 340 Seiten starke Anhang ein. Er enthält in drei großen Teilen die Register für beide Bände. Das sind zum einen die Übersichten zu den Kapiteln 1, 5 und 11, in der Mehrzahl Struktur- und Personalübersichten zu den behandelten Instituten und ihrer Abwicklung. Der Anhang umfasst zweitens ein Literatur- und Quellenverzeichnis und drittens ein Personenregister. Schließlich enthält Band 2 ein (gegenüber Band 1) erweitertes Abkürzungsverzeichnis.
Die Kapitel 6 bis 12 stellen jeweils selbständige geschichtswissenschaftliche Arbeiten dar, die weder aufeinander aufbauen noch Glieder eines Systems bilden. „Eine jede erfüllt für sich den Zweck, Originalität, Tragfähigkeit und Produktivität des jeweils von den Forschern gewählten bzw. erarbeiteten Ansatzes einer materialistisch verstandenen Geschichtswissenschaft vorzustellen, zu analysieren und zu kritisieren.“ (V) Obwohl die verschiedenen Kapitel heterogene Gegenstände behandeln, haben sie mit Ausnahme von Kapitel 12 alle eine gleiche oder ähnliche Struktur und sind vergleichbar angelegt. In der Darstellung stützt sich der Autor auf die jeweils einschlägigen Arbeiten der DDR-Historiker, vor allem auf zusammenfassende Darstellungen.
Werner Röhr betont, dass er die von ihm analysierten Leistungen nicht nach ihrer politischen Bedeutung für die Gesellschaftsentwicklung der DDR oder ihrem politischen Gebrauchswert für die Staatspartei SED ausgewählt habe, sondern vor allem wegen ihrer politischen und wissenschaftlichen Bedeutung.
Konkret nennt er die folgenden Auswahlkriterien:
1. Forschungen, die innovativ, gediegen und bahnbrechend waren und zu den besten Leistungen von DDR-Historikern gehörten.
2. Forschungsleistungen von Historikern, die von einer marxistischen Geschichtsposition ausgingen und diese als Grundlage und Arbeitsinstrument in eigene Konzeptionen umzusetzen suchten.
3. Forschungsgegenstände, die entweder selbst zum Arbeitsfeld des Verfassers gehören (Kapitel 6) oder an denen er über Jahrzehnte ein intensives Fachinteresse nahm.
4. Arbeiten, die heute von der bundesdeutschen Historiographie meist verschwiegen werden, selbst wenn es sich um weltbekannte Standardwerke handelt (Kapitel 6-11).
Hier können nur stellvertretend zwei Themenfelder ausführlicher vorgestellt werden. Nicht ohne Grund steht das „Faschismus, Weltkrieg und Widerstand“ gewidmete Kapitel 6 am Anfang des zweiten Bandes. Neben Kapitel 8 „Weltgeschichte im Revolutionsquadrat“ ist es zugleich das umfangreichste. Eine Erklärung für diese herausgehobene Position liefert der Autor gleich eingangs: „Dokumentationen und Darstellungen zur Geschichte von Faschismus und Zweitem Weltkrieg zählen zu den bedeutenden Leistungen von Historikern der DDR. Ihr Beitrag zur internationalen Geschichtsschreibung über Krieg und Faschismus ist eigenständig und unverwechselbar. […] Die Ergebnisse behalten ihre wissenschaftliche Gültigkeit, ihre politische Bedeutung für den Kampf gegen Krieg und Faschismus in der Gegenwart wächst.“
Herausragende Bedeutung kommt nach Röhr u.a. der umfassenden Analyse und Darstellung der deutschen Kriegswirtschaft durch Dietrich Eichholtz zu, an der sich „anschaulich die Kontinuität der Herrschaft des deutschen Großkapitals vorführen“ lasse. Das 1969 bis 1996 in drei Bänden erschienene Werk wurde 1999 in einer fünfbändigen Ausgabe von Saur in München nachgedruckt. „Es gibt kein vergleichbares deutschsprachiges Werk zu diesem Gegenstand. […] Eichholtz‘ Anliegen, nämlich die materiellen Grundlagen gen der deutschen Kriegführung zu untersuchen und die Gesamtheit jener ökonomischen Kräfte und Interessen aufzuzeigen, die dem imperialistischen Drang nach Expansion, Eroberung, und Krieg zugrunde lagen, ist erfüllt. Er hat die zum Kriege treibenden und am Kriege interessierten Kräfte beweiskräftig herausgearbeitet.“ (552)
Ein wichtiges Verdienst von Faschismusforschern der DDR besteht laut Röhr darin, „den historischen Zusammenhang von imperialistischem Eroberungskrieg um die Vorherrschaft und dem Völkermord an den Juden konkret untersucht zu haben.“ (555) Dabei zeichne die Arbeiten der DDR-Historiker insbesondere aus, „Tendenzen der Mystifizierung des Antisemitismus und des Judenmords und seiner ideologischen Voraussetzungen nicht nachgegeben zu haben, sondern in rationaler Weise historische Prozesse recherchiert, analysiert, rekonstruiert und nach jeweiligen Gründen und Determinanten befragt zu haben. Der millionenfache Mord an den Juden wurde als eines der schwersten Verbrechen dargestellt, begrifflich als Völkermord gefaßt, ohne ihm indes inhaltlich oder terminologisch eine religiöse oder quasireligiöse Bedeutung beizumessen.“ (556)
Dagegen beklagt der Autor, dass es der „antifaschistische Staat DDR“ im Unterschied zu Ländern wie Polen, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Israel nicht vermocht habe, „eine institutionelle Grundlage“ für eine „vornehmlich mit der Dokumentation und Erforschung der Geschichte des deutschen Faschismus und des Widerstandes gegen ihn“ zu schaffen. Entscheidende Vertreter der SED „hielten lange Zeit Forschungen zum Faschismus gegenüber der Widerstandsforschung für nachrangig oder gar für überflüssig.“ (507f.) Insgesamt, so Röhr, blieben die Forschungen zum deutschen Faschismus „zersplittert, auch die archivalischen Quellen blieben verstreut.“ Zwar wurde an allen universitären und fast allen außeruniversitären historischen Instituten auch dazu geforscht, nur in wenigen Instituten aber „waren Faschismus und zweiter Weltkrieg ein tragender oder profilbestimmender Gegenstand, dem sich Projekt- bzw. Forschungsgruppen ausschließlich oder vorrangig widmeten“. Ferner habe die über mehr als zwei Jahrzehnte praktizierte Konzentration auf die Erforschung des Zweiten Weltkriegs, gruppiert um die Erarbeitung des sechsbändigen Werkes „Deutschland im zweiten Weltkrieg“2, zur Folge gehabt, „daß wichtige andere Teilgegenstände völlig außer Betracht oder doch randständig blieben, oder nur insofern einbezogen wurden, wie sie sich dem großen Komplex zuordnen ließen“. Eine Folge davon war, schreibt Röhr, „daß das für die deutsche Geschichte vorrangige Erfordernis, nämlich aufzuklären, wie diese faschistische Diktatur zustande kam und warum sie eine so starke Massenunterstützung bis Kriegsende mobilisieren konnte, völlig unzureichend bearbeitet blieb.“ (548)
Kritik übt Röhr an „Theoriescheu“ der DDR-Historiker. „Arbeiten zu Begriff und Theorie des Faschismus wurden in der DDR so gut wie keine unternommen, die Forschungen konzentrierten sich auf diesem Felde mehr oder weniger auf die historische Rekonstruktion und Analyse früherer Ansätze, vor allem in der Arbeiterbewegung, wobei aber Ansätze wie der von Thalheimer ignoriert wurden“ (566).
Das Themenfeld „Weltgeschichte im Revolutionsquadrat. Vergleichende Untersuchungen zu den bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit in Europa“ (Kapitel 8), war Forschungsschwerpunkt vor allem von Forschern der Leipziger Universität. Hier hatten 1969 Walter Markov und Manfred Kossok eine Forschungsgruppe zur vergleichenden Revolutionsgeschichte der Neuzeit gegründet, aus der 1976 das Interdisziplinäre Zentrum für Vergleichende Revolutionsforschung (IZR) hervorging. Dessen Arbeitsfeld umfasste vor allem Untersuchungen zu den bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit in Europa, daneben vergleichende Forschungen zu den bürgerlichen Revolutionen in Lateinamerika, zu den sozialistischen Revolutionen seit 1917 sowie zu den antiimperialistischen und nationalen Befreiungsrevolutionen seit den 1960er Jahren.3
Röhr nennt drei charakteristische Besonderheiten für die vergleichende Revolutionsforschung in Leipzig: „Erstens wurde jede Revolution als einzelnes, konkretes Ereignis unter Fragestellungen untersucht, die Vergleiche ermöglichten. Zweitens wurden die explizit komparativen Fragestellungen mit den Arbeiten über einzelne Revolutionen jeweils so verknüpft, daß bestimmte allgemeine Fragen vorzugsweise am Beispiel einer einzelnen Revolution veranschaulicht und konkret erörtert wurden, z. B. die Rolle der Volksmassen am Beispiel der französischen Revolution von 1789-95, die der nationalen Frage am Beispiel Deutschlands und Italiens 1848, die des nationalen Befreiungskrieges am Beispiel der Niederlande oder die der Rolle der Bauern an den Beispielen Frankreichs 1789 und 1848 und Preußens 1848.“ (625f.) „Die größte Stärke der vergleichenden Revolutionsforschung“, schreibt Röhr, „bildete auch ihre Achillesferse. Eine Geschichte, die allein auf die revolutionären Höhepunkte der bürgerlichen Umwälzung zugreift und diese analysiert, läuft Gefahr, die Zusammenhänge mit der komplexeren gesellschaftlichen Gesamtentwicklung zu zerschneiden.“ Insgesamt zu gering und zu wenig konkret seien dabei „die wirtschaftsgeschichtlichen, insbesondere der weltwirtschaftlichen Zusammenhänge und zwar nicht nur der kurzfristigen am Vorabend der Revolution und in ihr, sondern auch der langfristigen und zyklischen“ behandelt worden. Zu wenig erforscht habe man auch das komplexe Feld der Ursachen und Mechanismen „des Umschlagens der revolutionären Krise in eine tatsächliche Revolution.“ (688) Ungeachtet ihrer Desiderate bildeten die vergleichenden Forschungen zu den europäischen bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit „ein vorzügliches Forschungsfeld für eine materialistische Geschichtswissenschaft. An diesem Gegenstand bewiesen die Historiker die Produktivität und Leistungsfähigkeit ihrer Wissenschaft und deren Eignung für eine auf Deutschland oder Europa beschränkte oder zentrierte weltgeschichtliche Forschung.“ (688f.)
Abgesehen von der Erkenntnisqualität ihrer Ergebnisse seien diese Forschungen für die Gegenwart vor allem unter zwei Gesichtspunkten relevant: „Wichtiger als ein zeitgeistkonformer Revolutionsnihilismus ist dessen scheinbares Gegenteil, die imperialistische Inszenierung eines ,regime change‘ unter der Flagge der ,Revolution‘“ insbesondere seit dem Herbst 1989 in der Ukraine, in Serbien oder Georgien. Diese fremdgesteuerten, medial inszenierten Massenaktionen simulierten und pervertierten Namen und Wesen einer Revolution. Die aufgebotenen Massen seien – „gleichgültig welche Illusionen sie selbst darüber haben“ – „lediglich Manövriermasse imperialistischer Geld- und Auftraggeber, in deren Interesse ein Sturz der jeweiligen Regierung und ein Regimewechsel liegt, um eine mit den außenpolitischen Zielen der USA konform gehende Politik der jeweils an die Macht geschobenen Regierung zu gewährleisten.“ Hierbei handle es sich, so Röhr, weder um authentische Revolution noch um authentische Konterrevolutionen, auch wenn diese international die Funktion letzterer erfüllten. „Für die historische Revolutionsforschung wirft diese imperialistische Praxis zwangsläufig neue Fragen auf, so nach der Rolle innerer und äußerer Widersprüche, der Spontaneität und Inszenierung von Massenbewegungen und ihren Aktionen und vor allem der Rolle der Massenmedien dabei, weiterhin nach den Möglichkeiten und Chancen einer Volksbewegung und ihrer revolutionären Potenzen angesichts der Übermacht des weltweiten Imperialismus als Hauptkraft der internationalen Konterrevolution und ihrer präventiven Praxis und schließlich nach dem Verhältnis von innerer und äußerer Konterrevolution in den einzelnen Ländern. (690)
Unter der Heterogenität der behandelten Themen und der Vielzahl sowohl der Fragestellungen als auch der vom Autor vorgestellten Einzelwerke leidet nicht nur die Stringenz der Darstellung. Sie erschwert im Vergleich zum ersten Band auch die Lesbarkeit des zweiten Bandes. So referiert der Autor seitenweise aus von ihm als zentral erachteten Werken, um dann beinahe nahtlos zur Analyse von Detailfragen überzugehen. Dabei spart er, bei allem Respekt vor den Leistungen der DDR-Historiographie, nicht mit Kritik und leuchtet Stärken und Schwächen bis in kleinste Details unbeirrt aus. Eine zentrale These, die das Werk zusammenhält, liefert der zweite Band nicht, sie wurde bereits in Band 1 erarbeitet und dargestellt. So bildet der zweite Band denn auch keine Einheit für sich, sondern einen inhaltlichen Anhang zum ersten, der die dort dargelegte Analyse über das Ende der DDR-Historiographie vertieft und ergänzt.
Alexander Bahar
Der freiheitlichste Staat, den es nie auf deutschem Boden gab
Karl Unger, Der Weg nach oben. Geschichte Westdeutschlands und der Bonner Republik, PapyRossa Verlag, Köln 2013, 292 S., 16,90 Euro
„Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Diktatur beschritt ein Teil Deutschlands, flankiert von seiner wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einbindung in ein Bündnis freier Staaten, den Weg der Demokratie auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. Ein anderer, namentlich der östliche Teil, bis 1990 unerlöst, verharrte unter russischer Knute in diktatorischen Verhältnissen – allerdings nicht mehr unter braunen, sondern roten Vorzeichen. Durch die freiheitlich-demokratische Opposition gegen den Kommunismus konnte die Einheit des deutschen Volkes in Freiheit schließlich 1989/90 hergestellt werden. Die Überlegenheit des Gesellschaftsmodells des freiheitlichsten Staates, den es je auf deutschem Boden gab, wurde so endgültig erwiesen. Die Entwicklungsgeschichte Westdeutschlands, geprägt von großen Staatsmännern wie Adenauer und Kohl, ist, ungeachtet der Rolle die ehemalige Nazis zum Teil spielen konnten, eine Erfolgsstory wirtschaftlichen Wohlstands, bis dahin ungekannten Mitbestimmungsmöglichkeiten und hohen gesellschaftlichen Zusammenhalts.“ So oder so ähnlich lässt sich, zugegebenermaßen überspitzt, die Basiserzählung1 der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf das eigene Selbstverständnis und die Wahrnehmung der Folgen der Nachkriegsordnung – inzwischen, denn der Verweis auf die NS-Vergangenheit hochrangiger Funktionäre in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Westdeutschlands galt im Kalten Krieg in der Regel als Propaganda „von drüben“ – zusammenfassen. Sie wirkt bis heute als Legitimationsgrundlage des Staates. Liest man das Buch des in Wien lebenden Sozialwissenschaftlers Karl Unger, bekommt das Fundament dieser märchenhaften Basiserzählung verdientermaßen deutliche Risse.
Quellentechnisch stützt sich Unger hierbei nahezu ausschließlich auf Literatur, die in Westdeutschland, Westberlin oder nach 1990 im „wiedervereinigten“ Deutschland publiziert wurde. Hierbei reicht die inhaltliche Spannweite der zitierten Literatur von Büchern des weit rechts stehenden Historikers, Juristen und Talkshow-Lieblings Arnulf Baring über den Populärhistoriker und Docutainment-Profi Guido Knopp bis zu den beachtenswerten Forschungen der Vertreter der Marburger Schule der Politikwissenschaft. Der Vorwurf der Reproduktion von Propaganda „von drüben“, der politische Verlautbarungen aus der DDR beziehungsweise die inhaltliche Übereinstimmung mit ihnen betraf und zudem die Geringschätzung und Ignorierung der Ergebnisse der ostdeutschen Wissenschaften mit sich brachte, kann Ungers Buch also nicht treffen. Der einzige in Ostberlin verlegte Titel im Literaturverzeichnis ist das „Braunbuch“ über Kriegs- und Naziverbrecher in der BRD und Westberlin von 1965, dessen Authentizität heute inzwischen sogar von Historikern wie Götz Aly, der sich nicht gerade als Freund der politischen Linken hervorgetan hat, bestätigt wird.
Auf der Grundlage einer kritischen Auswertung der Primär- und Sekundärliteratur zeichnet der Autor ein Sittengemälde der alten BRD vor 1989/90, das sich auf die verschiedenen Teilaspekte der Sozial-, Wirtschafts-, Kultur- und Politikgeschichte bezieht und diese organisch miteinander verbindet. Roter Faden sind in der Darstellung der Entwicklung der deutschen „Kanzlerdemokratie“ selbstverständlich die verschiedenen Bundesregierungen und die ihnen jeweils vorstehenden Akteure. Der Autor erzählt allerdings keine Geschichte großer Männer, sondern die der Genese einer im Nachhinein zuweilen provinziell wirkenden Gesellschaft, die sich auf einem (politisch-moralisch trügerischen, jedoch außenwirtschaftlich sehr reellen) „Weg nach oben“ befand. Der Schwerpunkt liegt insbesondere auf der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Ende der 1960er Jahre, die auf der Ebene der Systemkonkurrenz den Übergang von der Politik des Kalten Krieges zur „neuen Ostpolitik“ markierten. Diese nachvollziehbare Fokussierung führt zu der bedauerlichen Tatsache, dass die interessanten 1980er Jahre, an deren Endpunkt der vermeintliche Sieg des Gesellschaftsmodells „BRD“ stand, Westdeutschland also endgültig „oben“ angelangt zu sein schien, in einer verhältnismäßig kurzen Spanne von ungefähr 20 Seiten abgehandelt werden. Insgesamt steht für Unger die Lage der arbeitenden Klasse in Westdeutschland im Mittelpunkt. Von der unmittelbaren Last der Folgen des Krieges und seinen Zerstörungen sowie der Nachwirkung der blutigen Enthauptung der deutschen Arbeiterbewegung durch den Faschismus über die ideologische und organisatorische Entwicklung ihrer beiden Hauptparteien, die im Falle des parteiförmigen Kommunismus zu Isolation und massiver staatlicher Verfolgung und bei der Sozialdemokratie zur Aufgabe aller oppositionellen Potenzen führte, bis hin zur relativen Verbesserung des materiellen Wohlstandes, die Unger allerdings in den Kontext einer im Verhältnis stets zurückbleibenden Versorgung der Werktätigen stellt und so dem Mythos eines gleichberechtigten Anteils aller Gesellschaftsmitglieder an der Verteilung des nationalen Reichtums entgegenwirkt, werden unterschiedliche relevante Facetten beleuchtet.
Neben der Arbeiterbewegung werden auch andere soziale Bewegungen behandelt. Insbesondere Ungers kritisches Urteil zur Studentenbewegung der späten 1960er Jahre fällt ins Auge, da er in den Aktionsformen und dem Habitus dieser Gruppe – die nahezu als einzige in den gängigen Kanon der bundesrepublikanischen Gesellschaftsgeschichte Einzug gehalten hat, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass ein Teil ihres Personals auf die Seite des vormals verhassten „Establishments“ gewechselt ist – eine Grundlage „für den Triumph von Individualismus und Liberalismus in den folgenden Jahrzehnten“ sieht (204). Als inhaltliches Sinnbild für die westdeutsche Entwicklung kann indes das Grundgesetz betrachtet werden. Kann Unger in einem frühen Stadium noch Wolfgang Abendroth zitieren, der den Kompromisscharakter des Grundgesetzes hervorhebt, der „einige Grundsatzentscheidungen zugunsten des demokratisch-sozialen Denkens“ (75) ermöglicht habe, schließt er mit der Feststellung, dass mit dem Beitritt der ehemals der DDR angehörenden Länder zur BRD das Grundgesetz als „rechtliche[r] und institutionelle[r] Rahmen […] der kapitalistischen Sozial- und Wirtschaftsordnung“ (273) erhalten geblieben sei. Ob Karl Unger plant, seiner Darstellung zur „Bonner Republik“ auch eine solche zur „Berliner Republik“ seit 1990 folgen zu lassen, ist dem Verfasser dieser Zeilen nicht bekannt. Wünschenswert wäre es, ließe sich hiermit doch die Kontinuität und die Folgerichtigkeit zahlreicher Politiken in Deutschland nachweisen und insbesondere der Durchbruch der im Buch bereits angedeuteten „Neuvermessung des Sozialen“ (268) aufzeigen.
Wie dem auch sei: In Zeiten, wo gerade unter den Anhängern fortschrittlicher Politik in diesem Land allerorts geradezu eine Verklärung der Verhältnisse in der alten Bundesrepublik zu finden ist, Teile der Linkspartei von der Zielstellung her eher eine „Initiative Alte Soziale Marktwirtschaft“2 sind und dort sogar der vermeintliche Wohlstandskanzler Ludwig Erhard fröhliche Urstände feiert, ist Ungers Buch ein wirksames Gegengift. Insbesondere für Angehörige der Generation, deren politische Sozialisation nach der Herstellung der staatlichen Einheit begann und deren Vorstellungswelt geprägt ist von den herrschenden Diskursen, die alles politische Übel in das per definitionem als „Unrechtsstaat“ dargestellte Jenseits der deutsch-deutschen Grenze verschoben haben, dürfte das Buch einige Überraschungen bereithalten.
Phillip Becher
Europäische Währungs-
union am Ende?
Lucas Zeise, Euroland wird abgebrannt. Profiteure, Opfer, Alternativen. PapyRossa Verlag 2012, 142 S., 11,90 Euro
Die Diskussion um das Ende der Europäischen Währungsunion wird seit längerem in Deutschland offen geführt. So hat zuletzt u.a. der langjährige Direktor des Max-Planck- Instituts Wolfgang Streeck in seinem vieldiskutierten Buch „Gekaufte Zeit“ und einer darauffolgenden Kontroverse mit Jürgen Habermas für eine Rückkehr zu nationalen Währungen plädiert.
Näheren Einblick in die Hintergründe der Euro-Krise gibt das Buch von Lucas Zeise. Zwei Thesen stehen im Mittelpunkt des Buchs: Die erste lautet – dem Titel entsprechend –, dass die gegenwärtigen Krisenstrategien in Europa die Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise weiter verschärfen werden. Weiter geht der Autor davon aus, dass die Währungsunion – zumindest mittelfristig – zerfallen wird (1, 135ff.).
Die Eurokrise begreift Zeise als Teil einer „fälligen“ weltweiten Überproduktionskrise, deren Ausbruch durch die Revolution der Informationstechnologie, die Erschließung neuer Märkte in China und den ehemaligen „Ostblockstaaten“ sowie die Absorption von nach Anlage suchendem Kapital im Finanzsektor verzögert worden sei (19f.). Mit den Bankenrettungsmaßnahmen, die 2008 infolge der Rezession in den USA nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers eingeleitet wurden, habe sich die Finanzkrise in Europa zur Staatsschuldenkrise ausgeweitet (8 f.).
Das Buch enthält neben einem Kapitel zur Vormachtstellung des Finanzsektors und zur Aktualität der Theorie Rudolf Hilferdings (43ff.) aufschlussreiche Ausführungen zur Konstruktion der Europäischen Währungsunion. Als entscheidenden Fehler sieht Zeise es an, dass der Euro „neoliberal“ und „staatsarm“ verfasst sei und im Gegensatz zur Währungsunion mit der DDR nicht von bedeutenden staatlichen Transferleistungen in Defizitregionen flankiert sei (69). So sei die divergierende wirtschaftliche Entwicklung der EU-Länder absehbar gewesen. Mit der Einführung des Euro sei schwächeren Ländern die Möglichkeit genommen worden, durch eine Währungsabwertung die einheimischen Märkte zu schützen, was die exportorientierte Industrie in den sog. Kernländern begünstigt habe. Insbesondere deutsche Unternehmen hätten sich im Wettbewerb – unterstützt durch eine Politik der Senkung der Unternehmenssteuern und Lohnkosten im eigenen Land – Marktvorteile verschafft. Einen weiteren „Selbstzerstörungsmechanismus“ sieht Zeise in der Autonomie der außerhalb politisch-demokratischer Kontrolle stehenden Europäischen Zentralbank (EZB) und dem im Maastricht-Vertrag festgeschriebenen Staatsfinanzierungsverbot. Letzteres verbietet den Ländern der Eurozone, Schulden in eigener Währung aufzunehmen und hat dem Autor zufolge dazu geführt, dass Länder wie Griechenland, Spanien oder Portugal am internationalen Kapitalmarkt mittlerweile höhere Zinsen für Kredite zahlen müssen als die übrigen EU-Staaten (105).
Möglichkeiten einer Rettung des Euro werden im letzten Teil des Buchs behandelt. Keinen Ausweg bietet nach Zeise die am Beispiel Griechenland vorgeführte „koloniale Lösung“ (108). Maßnahmen wie der von Sparauflagen begleitete Rettungsfonds ESM (European Stabilty Mechanism) oder der Fiskalpakt, der die Austeritätspolitik im europäischen Primärrecht festschreibt, würden die Rezession nur vertiefen. Die Chance, die Konkurrenz der Staaten um die Gunst der Finanzmärkte durch eine gemeinsame Vermarktung der Schulden (Eurobonds) zu beenden, sei mittlerweile verspielt (123).
Lediglich zwei Wege seien denkbar, um die Währungsunion zu erhalten: eine Vertiefung der europäischen Integration mit einheitlichen Steuer- und Sozialversicherungssystemen oder ein gemeinsamer Schuldenschnitt der europäischen Staaten mit einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten (131f.). Beiden Optionen traut der Autor angesichts der entgegenstehenden Interessenlagen keine Realisierungschancen zu (136).
Am wahrscheinlichsten ist ihm zufolge vielmehr ein „geordneter Rückzug“ der Länder mit Zahlungsbilanzschwierigkeiten aus der Eurozone und ein zurückbleibendes „Rumpf-Eurogebiet“, welches sich auf Deutschland, Frankreich und die angrenzenden Staaten erstreckt (141).
Das Buch liefert einen informativen Überblick über die Geschichte der Währungsunion und die vielschichtigen Interessenlagen, die zur Einführung des Euro geführt haben. Die Schlussfolgerungen des Autors im letzten Teil geben Anstoß zu weiteren Diskussionen.
Sonja Mangold
Europa: Nationalismus, Ausgrenzung und Krise
Sebastian Friedrich/Patrick Schreiner (Hg.), Nation – Ausgrenzung – Krise. Kritische Perspektive auf Europa, edition assemblage, Münster 2013, 240 S., 18,- Euro
Wer im Zusammenhang mit der Eurokrise an Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus denkt, dem wird als erstes die Situation in Griechenland in den Sinn kommen. Dort sitzt die neofaschistische Partei „Goldene Morgenröte“ mit 21 Abgeordneten im Parlament – bei der Parlamentswahl im Mai 2012 hatte sie 7 Prozent der Stimmen erhalten, Umfragen sahen sie danach zwischenzeitlich bei 15 Prozent. Zahlreiche Gewalttaten der Goldenen Morgenröte dokumentiert der entsprechende Artikel des Online-Lexikons Wikipedia. Internationales Aufsehen erregte im September 2013 die Ermordung des linken Aktivisten und Musikers Pavols Fyssas durch ein Parteimitglied der Goldenen Morgenröte.
Sebastian Friedrich, Mitarbeiter am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, und Patrick Schreiner, beim DGB in Niedersachsen zuständig für Wirtschafts- und Europapolitik, haben einen Sammelband herausgegeben, der sich umfassend – und nicht nur mit Blick auf Griechenland – mit der Wechselbeziehung von Nationalismus, Ausgrenzung und Krise auseinandersetzt.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Die Aufsätze im ersten Teil nehmen länderübergreifende und zum Teil theoretische Perspektiven ein: So setzt sich im ersten Beitrag Christoph Butterwegge mit dem Verhältnis von neoliberaler Standortlogik auf der einen und Nationalismus und rassistischer Ausgrenzung auf der anderen Seite auseinander. Die Legitimationsprobleme des Euro-Kapitalismus und die Auswirkungen der Krise auf das europäische Grenzregime sind weitere Themen, die von Ingo Schmidt und Bernd Kasparek/Vassilis S. Tsianos behandelt werden. Zwar finden sich in fast allen Aufsätzen des ersten Teils krisentheoretische Ausführungen, die in der Tradition der Marxschen Theorie und insbesondere der Regulationsschule stehen. Eine grundlegende ökonomische Analyse der Euro-Krise, die als Teil der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu interpretieren ist, fehlt allerdings. Ein entsprechender Text hätte den ersten Teil abgerundet.
Im umfangreicheren zweiten Teil des Buchs werden dann in 13 sehr informativen Länderstudien aktuelle Formen von Nationalismus und Ausgrenzung in den Fokus genommen. Bewusst haben sich Herausgeber, wie sie in der Einleitung schreiben, dabei nicht auf jene Staaten beschränkt, „die in Politik, Medien und Wissenschaft im Zusammenhang mit der Krise ohnehin immer wieder thematisiert werden.“ (10) So wird neben Ländern wie Deutschland oder Griechenland die Lage in Ländern wie Weißrussland, der Türkei oder den Niederlanden dargestellt, über die in den deutschen Medien so gut wie nicht berichtet wird. Ein kleines Manko ist, dass die Situation in Portugal und Frankreich nur sehr knapp in dem abschließenden Überblicksaufsatz abgehandelt wird. Vermutlich haben die Herausgeber für diese Länder keine kompetenten AutorInnen gefunden – was schade ist, da Portugal zu den südeuropäischen Krisenländern gehört und in Frankreich die extreme Rechte in Gestalt des Front National bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr 18 Prozent der Wählerstimmen erhielt.
Trotz der genannten Kritikpunkte ist der Sammelband mehr als gelungen und dürfte die erste umfangreiche, systematische und kritische Analyse der zunehmenden Ausgrenzung und Entsolidarisierung infolge der Eurokrise darstellen. Wer sich mit der Eurokrise und ihren Folgen befasst, sollte das Buch gelesen haben.
Kai Eicker-Wolf
Rechtspopulisten auf dem Vormarsch
Phillip Becher, Rechtspopulismus. Papyrossa Verlag, Köln 2013, 123 S., 9,90 Euro
Wir haben eine Bundestagswahl hinter uns, bei der die deutschen Rechtspopulisten aus dem Stand ein Ergebnis von 4,7 Prozent erreicht haben. Es deutet sich an, dass sie mit ihren nationalistischen und ethnopluralistischen Positionen noch erfolgreicher bei den Europa-Parlamentswahlen im Frühjahr abschneiden werden. Es scheint sich eine für das Bürgertum wählbare rechte Alternative zu etablieren, die sich selbst als „bürgerlich-liberale“ Partei versteht. Aber nicht nur in Deutschland ist ein „als Renaissance bezeichneter Wideraufschwung“ (6) des Rechtspopulismus zu verzeichnen. Becher spricht noch von einem Entwicklungsland und zeigt Tendenzen auf. Die Entwicklungen der vergangenen Monate bestätigen seine Analyse und zeigen, dass sich in Form der AfD eine „ernstzunehmende“ rechtspopulistische Formation auf den Weg gemacht hat.
Das Einführungsbändchen erscheint insofern zur rechten Zeit. Wieso ist Deutschland eigentlich ein rechtspopulistisches Entwicklungsland? Wo hat Rechtspopulismus historisch seine Vorgänger und Wurzeln? Wie groß sind mögliche Gefahren für die Demokratie? Diesen und anderen Fragen geht der Autor kenntnisreich nach. Er begnügt sich aber nicht nur damit, die Phänomene des Rechtspopulismus deskriptiv zu erfassen, sondern vollzieht eine ideologiekritische Analyse, die Rechtspopulismus innerhalb der politischen Rechten erfasst. In den Fokus geraten „verschiedene Gruppierungen der politischen Rechten, unter ihnen einige mit offen neofaschistischem Charakter“, daneben aber auch „solche, die als ‚rechtspopulistisch‘ bezeichnet werden“ (6f.). und Becher zeigt wichtige inhaltliche Verbindungen auf. Rechtspopulismus definiert er „als eine sich in das Kontinuum des Rechtsextremismus einfügende und in Wechselwirkung mit anderen rechten Strömungen stehende Bewegung“ (25), „die eine Massenbasis für administrativ-autoritäre Politik sammelt“ (104). Er macht seine eigenen theoretischen Prämissen deutlich, arbeitet sich an vorhandenen Definitionen ab, problematisiert den Begriff „Populismus“ und zeigt ideengeschichtliche Hintergründe auf. Seiner Analyse liegt ein Verständnis von Ideologie als „theoretisches oder praktisches Vehikel zum Ausfechten gesellschaftlicher Konflikte“ (9) im Sinne Lukács’ zugrunde. Im Zentrum steht eine Programmanalyse, die auf den „ideologischen Kernbestand“ (10) der rechtspopulistischen Formationen abzielt.
In Geschichte und Gegenwart werden profilartig rechtspopulistische Formationen in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Europas und Nordamerikas (USA) analysiert. Becher gelingt es überzeugend nach den Kriterien seiner Theoriebildung, die Phänomene in einzelnen Ländern einzuschätzen. Er arbeitet historisch, beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Faschismus und Rechtspopulismus1 und deckt über protorechtspopulistische Erscheinungen historische Kontinuitätslinien auf, die bürgerlichen Erklärungsansätzen (vor allem der Extremismustheorie) das argumentative Fundament entziehen (15ff.). Er kommt zu dem Ergebnis, dass Rechtspopulismus kein „isoliertes Problem ‚extremistischer‘ Einstellungen oder rechter Parteien“2 ist, sondern eng mit gesellschaftlichen Ursachen in Verbindung steht. Seine Forschungsperspektive fußt auf einem „pragmatischen Begriff der extremen Rechten“ (Kaindl) (11), der gesellschaftliche Kämpfe erfassen kann, da er eine „konfliktorientierte Dimension“ (ebd.) abbildet.
Leider fehlt ein Kapitel über Rechtspopulismus und die Europäische Union. Hier hätte systematisch der neoliberale Umbau in Ost- und Südeuropa (Ende der Diktaturen) im Spannungsfeld von Neoliberalismus, gesellschaftlichen Veränderungen und Rechtspopulismus thematisiert werden können. Die Akzeptanz der Europäischen Union in den Bevölkerungen der europäischen Staaten ist dramatisch zurückgegangen. Im Zuge der wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise ist eine „Wiederkehr des Verdrängten“ (Wacquant; gemeint ist die soziale Frage) zu konstatieren. Mangelnde Demokratie- und Transparenzfähigkeit der Europäischen Union haben auch zur Renaissance des Rechtspopulismus beigetragen. Durch die Transnationalisierung des Staates kommt der europäischen Ebene eine größere Bedeutung zu, hier finden viele gesellschaftliche Kämpfe statt. Auch eine Thematisierung des in der Politikwissenschaft umstrittenen Begriffs des Linkspopulismus als Werkzeug bürgerlicher Ideologie fehlt. Vor allem die Regierungen einiger lateinamerikanischer Länder, die oftmals oberflächlich als „populistisch“ in der bürgerlichen Presse „dämonisiert“ werden, verfolgen eine ernsthafte antineoliberale Politik, die sie vereint und die von großen Teilen der Bevölkerungen getragen wird.
Insgesamt hat Phillip Becher ein sehr gelungenes Einführungsbuch geschrieben. Mit einem verständlichen Theorieteil, einer konsequenten Analyse ‚des‘ Rechtspopulismus, einer ideologiekritischen Auseinandersetzung und einer umfangreichen Bibliographie ist das Buch auf jeden Fall zu empfehlen. Zugleich kann es als ein Appell verstanden werden, ambivalente Haltungen im Rechtspopulismus – wie die widersprüchliche Haltung zu neoliberalen Umstrukturierungen (101) – offenzulegen. Der Verfasser plädiert für Aufklärungsarbeit und betreibt eben solche, indem er die gängige bürgerliche „Geschichtsschreibung“ sachlich widerlegt.
Patrick Ölkrug
Kommunale Dienste: skandinavisches Modell
Cornelia Heintze, Die Straße des Erfolgs: Rahmenbedingungen, Umfang und Finanzierung kommunaler Dienste im deutsch-skandinavischen Vergleich, 594 Seiten, Marburg 2013, metropolis, 38,00 Euro
Mit Blick auf die Zuwächse bei Armut, Ungleichverteilung sowie der „Auseinanderentwicklung bei Bildung und Gesundheit“, die in Deutschland besonders stark ausfallen, beansprucht Heintze, „die soziale Frage“ zu stellen (5). Die Ursache sieht sie in „tektonischen Verschiebungen“ in den letzten 20 Jahren (17), vor allem aber in der Agenda-Politik von SPD und Grünen (34). Damit sei der Versuch unternommen worden, die Arbeitslosigkeit durch mehr Beschäftigung bei Dienstleistungen zu bekämpfen, vor allem im sozialen, aber auch kulturellen Bereich. Erreicht werden sollte dies mit mehr Markt: Durch den Abbau von 770.000 öffentlich finanzierten Arbeitsplätzen zwischen 1997 und 2005, den Rückbau öffentlicher Leistungen, durch Privatisierungen und den Abbau öffentlicher Trägerschaft sollten eine Reihe von Dienstleistungssegmenten der „Landnahme durch renditeorientierte private Träger“ geöffnet und durch die Niedriglohnstrategie attraktiv gemacht werden. Unterfinanzierung und das Geringhalten von Qualitäts- und Arbeitsstandards bedingten aber gerade das „Festhalten an der Familialisierung“ (42): Fehlende und nicht bedarfsgerecht geöffneten Kitas oder zu geringe ambulante Unterstützung für pflegebedürftige Angehörige erzwingen die familiäre Erbringung oder Ergänzung entsprechender Leistungen.
Der von SPD und Grünen eingeschlagene Weg war bekanntermaßen alles andere als erfolgreich: Die erklärten Beschäftigungsziele wurden verfehlt – der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist auf die Umwandlung von Vollzeitstellen in (meist unfreiwillige) Teilzeit und Minijobs zurückzuführen (19). Neben diesen sozialen „Makro“-Problemen sind auf der „Meso-Ebene“ Arbeitsmarktbereiche entstanden, in denen auf „Lohnsenkungen, Arbeitsverdichtung und die Spaltung der Belegschaft in unterschiedlich gut integrierte Gruppen“ gesetzt wird (46). Große und wachsende Defizite bestehen auf Grund der ausgezehrten Haushalte – vor allem im kommunalen Bereich – hinsichtlich der Bewältigung diverser zukünftiger Herausforderungen, u.a.: Betreuung und Pflege älterer Menschen, Integration von BürgerInnen mit Migrationshintergrund, Energiewende, Erhalt und Erneuerung der baulich-technischen Infrastruktur (13f.).
Angesichts dessen plädiert Heintze für den Blick auf das Gesellschaftsmodell der nordischen Länder Schweden, Dänemark, Finnland, Norwegen und Island (53). Mit ihm sollen „skandinavische Erfahrungen für Veränderungen am eigenen Entwicklungspfad fruchtbar“ gemacht werden (550). Der Verweis auf ihr seit vielen Jahren erfolgreicheres Modell kann mit den üblichen Totschlagargumenten (nicht finanzierbar, treibt die Unternehmen aus dem Land etc.) nicht leicht vom Tisch gewischt werden (548).
Dem Einwand, die Annäherung an das nordische Modell sei auf Grund der generell pfadabhängigen Entwicklung illusorisch (75), kontert Heintze mit dem Hinweis, dass gerade die von SPD und Grünen vorgenommenen Arbeitsmarktreformen und Steuersenkungen eine Pfadverschiebung vorgenommen hätten – allerdings in Richtung des US-amerikanischen Kapitalismusmodells (57, 76). Sie konzediert aber, dass eine Pfadverschiebung in Richtung des nordischen Modell nicht voraussetzungslos sei.
Während hierzulande die öffentlichen Aufgaben an die durch die rot-grünen Steuersenkungen für Spitzenverdiener und Unternehmen geschrumpften Haushaltsspielräume angepasst werden, folgt im nordischen Modell die Planung der staatlichen, vor allem der kommunalen Einnahmen dem Bedarf (540). Liegt der Anteil des kommunalen Sektors am BIP in der BRD unter 5 Prozent, sind es in Skandinavien ca. 20 Prozent (75). Finanziert werden damit u.a. beschäftigungsintensive Dienstleistungen, bspw. in Kultur (Bibliotheken, Museen, Theater), Kinder- und Jugendhilfe, primär aber bei der Unterstützung älterer Menschen und der frühkindlichen Bildung/in Kitas. Durch den großen Umfang dieser öffentlichen Dienstleistungen werden vor allem Frauen von diesen vormals privat-familiär erbrachten Sorgearbeiten entlastet. Das verbessert die Bedingungen einer eigenständigen beruflichen Existenz – auch in Skandinavien wird das Berufsfeld der sozialen Dienstleistungen nach wie vor verstärkt von Frauen gewählt wird.
Aber nicht allein der Umfang dieses Dienstleistungsangebots macht den Unterschied. In Deutschland sind Kitas/frühkindliche Betreuung und Bildung sowie Pflege reine Niedriglohnbereiche. Sie stellen damit eine nicht zuletzt politisch verantwortete dauerhafte Verletzung des grundgesetzlichen Gleichstellungsgebotes dar (35).
Während in Deutschland ca. 80-90 Prozent dieser Dienstleistungen von freien, also gemeinnützigen oder gewinnorientierten Einrichtungen erbracht werden und nur 10-20 Prozent in direkter kommunaler Trägerschaft, ist es in Skandinavien genau umgekehrt (370). Das setzt den Staat in Form der Kommunen in die Lage, für eine hohe Qualität bei den Dienstleistungen und bei Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu sorgen.
Ähnliches gilt für Energie, Verkehr, Bankwesen, Kommunikation und Post, den Immobilienbereich sowie Kliniken. Zwar werden deren Dienstleistungen nicht kostenlos zur Verfügung gestellt, aber in diesen Schlüsselbereichen wurde in Skandinavien nicht oder nur wenig privatisiert (48, 489). Und auch hier wird der sich dadurch öffnende Spielraum genutzt zur Gestaltung guter Arbeitsbedingungen (z.B. Ausschluss prekärer Arbeitsbedingungen, Zugang zu Weiterbildung, Integration Benachteiligter) sowie für wirksame Frauenförderung – u.a. durch Frauenquoten und familienfreundliche Arbeitszeiten.
Insgesamt kann der staatlich-öffentliche Bereich auf Grund seiner Dimension, seiner qualitativen Ausgestaltung bei den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung auch für die private Wirtschaft als Vorbild fungieren (248). Reicht das nicht aus, wird u.U. juristisch nachgeholfen. So verordnete das norwegische Parlament 2003 denjenigen der 500 größten Aktiengesellschaften den Entzug der Börsennotierung, die bis 2008 in den „Boards of Directors“ keine 40prozentige Frauenquote eingeführt hatten. Die Einführung der Quote gelang bis auf wenige Ausnahmen auch deshalb, weil der öffentliche Bereich mit gutem Beispiel vorangegangen war (81).
Damit sind nach Ansicht der Autorin wichtige Bedingungen für eine zielorientiert-gestaltende Politik – etwa im Sinne einer Pfadverschiebung Richtung nordisches Modell – benennbar: Die staatlichen Akteure müssten erstens in relevantem Umfang „Mitspieler“ sein, dies sorge für Kooperationsbereitschaft bei den nicht-staatlichen Akteuren; der öffentliche Sektor müsse zweitens als Rollenmodell fungieren können; drittens müsse die Gesetzgebung ggf. den Mut zu scharfen Sanktionen aufbringen. Auf dieser Basis sei auch in Deutschland eine Pfadverschiebung Richtung nordisches Modell und damit zu weniger Armut und Ungleichheit möglich (82).
Eine Verklärung der nordischen Länder liegt Heintze gleichwohl fern. Mehr als ein Dutzend Mal wird darauf hingewiesen, dass auch dort Outsourcing betrieben wurde, Privatisierungen zu Beschäftigungsabbau geführt und sich die soziale Ungleichheit verstärkt hat – „aber auf einem deutlich geringeren Level“ und ohne die in Deutschland nachgewiesenen „Einrasteffekte“ (einmal arm, immer arm, 31). Und während mit der „doppelten Umverteilung von unten nach oben und vom Staats- in den Privatsektor“ (22) in vielen anderen Ländern die Voraussetzungen der Finanzkrise verschärft wurden, waren die nordischen Länder mit Ausnahme Islands von der Finanzkrise nicht ganz so stark wie die meisten anderen OECD-Länder betroffen.
Heintzes Resümee: Das skandinavische Modell „mag Schrammen haben, aber es funktioniert.“ (77) Allerdings: „Kritisch dürfte es werden, wenn die Finanzierungsbasis schwindet.“ (ebd.) Daher bleibt die weitere Entwicklung der nordischen Länder zu beobachten.
Olaf Gerlach
Der Kongo – ein Bild der Welt von morgen?
David van Reybrouck, Kongo. Eine Geschichte, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 783 S., 29,95 Euro; Taschenbuchausgabe 14 Euro
Der Belgier David van Reybrouck hat keine Geschichte des Kongo geschrieben. Wie er selbst feststellt, ist diese – wie überall – mehrere tausend Jahre alt (30). Er behandelt nur die Periode vom Beginn des „Kongo-Freistaats“ bis heute, wobei er einerseits weniger, andererseits aber auch mehr als eine chronologisch geordnete Ereignisgeschichte liefert. Der durch die Berliner Konferenz von 1884/85 international ‚legitimierte’ Freistaat als Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. – die Konferenz sollte den „Freihandel“ in Afrika verankern und die Prinzipien festlegen, nach denen die Kolonialmächte ihren afrikanischen Besitz gegeneinander abgrenzten – war ein einzigartiges Gebilde. Diese Einzigartigkeit wurde vor allem 1890 deutlich, als Leopold (der ‚sein’ Land niemals betreten hat) allen Boden, der nicht gerade bewohnt oder bearbeitet wurde, zum Eigentum des Freistaats und damit zu seinem Privateigentum erklärte. „Er verpflanzte schlichtweg das westeuropäische Konzept des Privateigentums in die Tropen …“ (103) Dies ist ein Problem, das bis heute in fast allen Ländern und Regionen des subsaharischen Afrika für Konflikte sorgt. Dazu gehört auch der Tribalismus, der im Kongo-Freistaat mit begründet wurde: Scharen von Ethnographen fielen ein und erstellten eine umfangreiche rassisch-kulturelle „encyclopédie des races noires“ (139). Damit wurde ein existentes, aber sehr flexibles Konzept von Zugehörigkeiten in ein starres Raster gepresst. Der „Stamm“ wurde zur einzigen, unveränderlichen gesellschaftlichen und politischen Kategorie: „Der Geist des Tribalismus war aus der Flasche.“(140) Ein weiteres, für die meisten afrikanischen ‚Länder’ bis heute nachwirkendes fatales Element wurde ebenfalls im Kongo vorexerziert: Der Gegensatz zwischen den ‚traditionellen’ Hierarchien und den neuen, durch die Kolonialmacht geförderten Bildungseliten, im Kongo „evolués“ genannt. Als der Kongo 1960 überfallartig in die Unabhängigkeit entlassen wurde, hatte die junge Führungsmannschaft (drei Viertel der führenden Politiker waren jünger als 35) praktisch keinerlei Beziehung zum System der traditionellen Führer. „Auch im Parlament überwog eine neue Elite: Nur drei der 137 Sitze wurden von traditionellen Häuptlingen gehalten.“ (315)
Den Ereignissen rund um die Unabhängigkeit widmet der Autor besonderen Raum. Und dies ist der Teil des Buches, der m. E. jene Fairness vermissen lässt, die das Buch sonst auszeichnet. Ein ganzes Kapitel widmet er dem Tag der Unabhängigkeitszeremonie, deren Höhepunkt die legendäre Rede Lumumbas war, in der dieser die Kolonialmacht, in Anwesenheit des in Deutschland wegen seiner Frau so beliebten Königs Baudouin, frontal angriff. Lumumbas Rede, und auch seine Person, finden wenig Gnade in den Augen des Autors, der die provokative Ansprache des Königs mit bemerkenswerter Milde kritisiert, der die Stirn hatte, seinen Vorfahren, König Leopold II, mit folgender Formulierung zu feiern: „Die Unabhängigkeit des Kongo stellt den Höhepunkt des Werkes dar, welches vom Genie König Leopolds II. entworfen, von ihm mit zähem Mut umgesetzt und schließlich von Belgien mit Ausdauer fortgesetzt wurde.“ (322) Der Völkermörder, dessen Herrschaft eine bis heute in Afrika nicht wieder erreichte Zahl von Opfern gekostet hatte, wurde zum Wohltäter stilisiert. Reybrouk schildert selbst, wie Lumumba noch während der Rede des Königs seinen eigenen Text verschärfte – und doch schiebt Reybrouck faktisch Lumumba, und nicht etwa Baudouin, die Hauptverantwortung an den folgenden Ereignissen zu, die zur Ermordung Lumumbas und zur zeitweiligen Auflösung des Kongo führten. Man muss Lumumba nicht unkritisch gegenüberstehen, um diese Schuldzuweisung als ungerecht zu empfinden. Verbunden mit den im gleichen Kapitel ausgebreiteten leicht sentimentalen Familien-Erinnerungen an den Vater des Autors erscheint in diesem Kapitel doch eine sehr persönliche, ‚belgozentrische’ Sicht der Dinge die Darstellung zu färben.
Gut die Hälfte des Buchs behandelt die Zeit nach der Unabhängigkeit, darunter natürlich vor allem die Periode Mobutu 1965 bis 1990. Dessen Herrschaftsmethode wird folgendermaßen beschrieben: „Im Grunde verdankte er seine Macht einer extremen Form des Klientelismus. Mobutu stand an der Spitze einer Pyramide; ein paar tausend Menschen fraßen ihm, direkt oder indirekt, aus der Hand.“ Damit zeichnet er ein differenzierteres Bild als jene Beobachter, die Mobutu nur als gierigen Kleptokraten sehen: Er plünderte die Reichtümer des Landes nicht in erster Linie, um sich persönlich zu bereichern, sondern vor allem, um sich Unterstützung zu kaufen. Solche Unterstützung erhielt er nicht nur von der kongolesischen „Staatsbourgeoisie“ (422), sondern auch aus dem westlichen Ausland, wie die für Deutschland besonders pikante Geschichte der OTRAG zeigt. Die OTRAG, ein deutsches Privatunternehmen, das mit Unterstützung des bundesdeutschen Forschungsministeriums Raketen entwickelte, erhielt von Mobutu zu extrem günstigen Konditionen ein gewaltiges Territorium zur langfristigen Pacht als Testgelände.
Auch die Periode nach dem Sturz Mobutus bis in die Gegenwart wird behandelt, auch wenn hier eher nur Schlaglichter gesetzt werden. Reybrouck zufolge hat der bis heute tobende Kongokrieg, der nach dem Tode des alten Kabila voll ausbrach, viel mit dem Kampf um Rohstoffe und den Aktivitäten von Uganda und Ruanda zu tun. Zwar liefert Reybrouck keine tiefgehende Analyse der verschiedenen Ebenen und Interessen (der Rohstoffaspekt ist nur eine Facette), kommt aber trotzdem zu dem düsteren Urteil: „Der Kongo ist nicht in der Geschichte zurückgeblieben – er ist der Geschichte voraus.“ Reybrouck zufolge sind die ethnisch begründeten Massaker „die logische Folge von Bodenknappheit in einer Kriegsökonomie, die der Globalisierung diente – und in diesem Sinne eine Vorankündigung dessen, was einem überbevölkerten Planeten noch bevorsteht.“ (554) Dagegen ist einzuwenden, dass weder der Kongo noch Afrika – mit Ausnahme weniger Regionen – „überbevölkert“ sind, dass viele sehr dicht bevölkerte Teile der Welt sich langer friedlicher Perioden erfreuen. Andererseits gibt es natürlich Wirkungsketten, durch die lokale Faktoren mit globalen Entwicklungen verflochten sind – der Autor zeigt an vielen Beispielen, wie das ganz persönliche Schicksal von Menschen mit fernen, globalen Ereignissen und Interessen verbunden ist.
Damit sind wir abschließend bei einem Punkt, der sowohl als Stärke wie als Schwäche des Buchs gesehen werden kann. Der Autor erhebt den Anspruch, den üblichen eurozentristischen Blickwinkeln der Geschichtsschreibung „möglichst viele kongolesische Stimmen“ entgegenzusetzen (13). Das tut er, aber die Auswahl der Stimmen hat natürlich der Autor getroffen. Trotzdem bringen diese Stimmen sowohl einen literarischen wie einen inhaltlichen Mehrwert, weil sie persönliche Schicksale mit historischen Ereignissen verknüpfen. Das hat aber nichts mit ‚Geschichte von unten’ zu tun, wie in teilweise hymnischen Würdigungen des Buchs in den Medien behauptet wurde. Es ist eine meistens gelungene darstellerische Methode, die allerdings zur Lesbarkeit des Buches beiträgt. Der Blickwinkel des Autors selbst wird dadurch nicht verändert, auch wenn stellenweise ein solcher Anschein erweckt wird. Die „kongolesischen Stimmen“ illustrieren die Darstellung und Meinung des Autors, sie sind kein eigenständiges Element.
Trotz dieser – zugegebenerweise vielleicht etwas rechthaberischen – Einschränkung des Rezensenten ist das Buch ein großes Leseerlebnis, das nicht nur über den Kongo sondern darüber hinaus über Afrika und die Rolle von Kolonialismus und Neokolonialismus viel aussagt.
Jörg Goldberg
Zum Begriff der Kunst
Thomas Metscher, Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf, Kulturmaschinen Verlag, Berlin 2012, 239 Seiten, 14,90 Euro
„Kunst“ ist ein einfacher Begriff, möchte man meinen: jeder spricht über Kunst, die Medien sind voll von Nachrichten aus der „Welt der Kunst“, Großereignisse wie z. B. die El Greco-Ausstellung 2012 locken immer größere Menschenmassen in die Museen. „Alles ist Kunst“, folglich ist auch jeder ein Künstler. Wozu bedarf es da einer ausführlichen theoretischen Beschäftigung mit dem Kunstbegriff, seiner Geschichte und Theorie? So lautet die Ausgangsfrage.
Thomas Metscher hat einen klar gegliederten Text vorgelegt, der aus einem Lexikonartikel hervorgegangen ist und der, obwohl erheblich erweitert, sich in weiten Teilen auch wie ein solcher benutzen lässt. Wer allerdings einfache Antworten auf Fragen nach dem Charakter von Kunstwerken, Kriterien ästhetischer Wertung oder der Bedeutung und Interpretation künstlerischer Produktionen erwartet, wird diese nicht finden. Metscher verweigert sich jeder Simplifizierung und Reduzierung des Begriffs genauso wie dem Versuch, Ästhetiktheorie eindimensional in den Dienst politischer Ziele zu stellen oder anderweitig zu funktionalisieren.
Der Band gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Hauptteil („Die Künste und die Kunst“) beginnt mit einem Aufriss der historischen Entwicklung des Kunstbegriffs sowie wichtiger und folgenreicher Positionen der Kunsttheorie von der frühen Antike bis in die Gegenwart. Die zentrale Kategorie ist „Mimesis“: sie hat „den Charakter eines materialen Aprioris menschlicher Kultur und Geschichte“ (88). Es folgen ausführliche Erörterungen zum „ästhetischen Gegenstand“ (103ff.), ist doch Kunstgeschichte nur „als Geschichte des ästhetischen Gegenstands, seiner Konstitution und Entwicklung wie des ästhetischen Bereichs zu verstehen, in dem der ästhetische Gegenstand situiert ist“ (106f.). Neben dem Begriff des ästhetischen Gegenstands ist hier der Begriff der „strukturellen Transformation“ (111) als Kernkategorie zu nennen. Der zweite Hauptteil („Marxismus und Kunst“) arbeitet grundlegende Bestimmungen für Kunst bei Marx und Engels heraus. Besondere Bedeutung gewinnt dabei der Begriff der „Aneignung“ als Voraussetzung für menschliche Kultur insgesamt. Der letzte Abschnitt listet in thesenartiger Form das auf, was der Autor bei aller zugestandener Diversität marxistischer Kunst- und Ästhetiktheorie für deren „identitätsstiftenden kategorialen Kern“ (206) nimmt.
Der historische Zugriff beginnt bei den Künsten in der Antike. Ein allgemeiner Kunstbegriff war nicht bekannt, sehr wohl aber ein System einzelner Künste. Dieses beinhaltete nicht nur ästhetische Tätigkeiten, sondern auch handwerkliche, wissenschaftliche, ja sogar die „Kriegskunst“ (18). Die antike Kunsttheorie entwarf nicht nur unterschiedliche Hierarchisierungen der Künste, sondern beschäftigte sich auch mit deren erkenntnistheoretischen Status. Metscher nennt hier neben Platon und Aristoteles vor allem Plotin, Horaz und Lukrez.
Die für Metscher zentrale Kategorie der Mimesis geht auf Aristoteles zurück und wird ausführlich dargestellt und entwickelt. Dabei wird Mimesis nicht auf „Nachahmung“ reduziert, sondern in ihrer ganzen Komplexität entfaltet. Anhand wesentlicher Bezüge auf u.a. Benjamin, Lukács, Auerbach und Holz gewinnt der Autor einen anthropologisch-kulturtheoretischen Mimesisbegriff: das „mimetische Vermögen“ (Benjamin) ist die grundlegende Voraussetzung für die menschliche Aneignung und Gestaltung von Welt – es hat den Charakter einer Produktivkraft. „Im Menschen erreicht die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu erzeugen, ihre höchste Form (...).“ (82) Dieses Vermögen der Gattung ist Voraussetzung für menschliches „Sich-Einfügen in die gesellschaftliche Welt“ (88). Es ist aber auch die Voraussetzung für Kunst, allerdings nicht die alleinige. „(...) Poiesis (dem Vermögen des Herstellens, Machens, Erfindens) und Praxis (in der Bedeutung gesellschaftlicher Handlung)“ kommt der „Charakter ästhetischer Prinzipien“ (88) zu – also eben jenen Vermögen, die auch Grundlage jeder anderen kulturbildenden menschlichen Tätigkeit sind. Dem dialektischen Charakter der Mimesis, ihrem „Doppelcharakter“, entspringt Metschers Fazit, dass sie die „Bedingung der Freiheit wie der Unfreiheit“ (90) ist. Wesentlich für Metschers Auffassung der Mimesis-Kategorie sind noch ihre Differenzierung in „ontische Mimesis“ (gerichtet auf die materielle Welt natürlicher Erscheinungen), „realismustheoretische Mimesis“ (gerichtet auf soziale Gegebenheiten und Möglichkeiten) und die „ontologische Mimesis“ (37), die „gleichfalls an Wirklichkeit orientiert (ist), doch nicht an ihren phänomenalen Erscheinungsformen, sondern an ihren inhärenten Prinzipien: ihren inneren Kräften und Bauformen – den Strukturen also des erscheinenden Seins“ (37f.). ‚Mimesis’ bezeichnet einen „Bedeutungskomplex“, in dem „Nachahmung“ (verstanden als „Ähnlichmachen“), „Darstellung“ (in der Bedeutung von „ausgestaltende Wiedergabe“ nicht nur von Wirklichem, auch von Möglichem) und „Ausdruck“ (verstanden als „Darstellung psychischer Vorgänge“) aufgehoben sind (31). Dabei treten alle Bestimmungen des Mimesisbegriffs in allen kulturbildenden menschlichen Handlungen und Akten auf; für den Bereich des Ästhetischen sind ‚Darstellung’ und ‚Ausdruck’ jedoch von besonderer Bedeutung. Mit der Bestimmung des Realismusbegriffs als „Phänomen, dass im Kunstwerk ein Weltmodell entsteht“ (101), das realistische Kunst also nicht einfach abbildet, sondern modelliert, schließt der erste Abschnitt.
Was ästhetische Tätigkeit und deren Ergebnisse von anderen Tätigkeiten und Produkten unterscheidet, erläutert Metscher anhand der „Konstitutionsgeschichte des ästhetischen Gegenstands“ (103). Der ästhetische Gegenstand wird verstanden als formal gestaltetes Objekt (Werk), das in einem besonderen sozialen Bereich situiert ist (und mit diesem den „ästhetischen Bereich“ darstellt), welcher konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen – den „Kunstverhältnissen“ (ebd.) unterliegt, die wiederum Bestandteil des gesamten gesellschaftlichen Gefüges sind. Kunst ist autonom und heteronom zugleich: autonom (im Sinne von „eigengesetzlich“) in der Entwicklung ihrer Formensprache, aber gleichzeitig sozial vermittelt und so nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Prozess (d.h.: nicht autark). Die Geschichte der Künste ist nur rekonstruierbar als „reale Geschichte von Gegenständen, Gegenstandsverhältnissen und gegenständlichen Tätigkeiten in einer gegenständlichen Welt, (...) (sie) ist also zugleich Gegenstandsgeschichte und sie ist Begriffsgeschichte dieses Gegenstands“ (107).
Der Autor rekonstruiert die Geschichte der Herausbildung des Kunstbegriffs als einen Prozess, in welchem sich die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln. Eine besondere Stellung kommt dabei der Kategorie der „strukturellen Transformation“ (111) zu. Gemeint ist der Befund, dass die Künste in Zeiten gesellschaftlicher Verwerfungen auf diese mit einer „Transformation ihrer Formenwelt“ und einer „Transformation ihrer Weltbildstrukturen“ (110) reagieren, und zwar noch bevor sich diese Brüche inhaltlich widerspiegeln. Es werden neue Formen entwickelt und bestehende verändert. Beispielhaft nennt Metscher die frühe Neuzeit/Renaissance und das „Zeitalter der Revolutionen“ (Hobsbawm), also den Zeitraum „zwischen 1760 und 1830/48“ (111). Die anschließende Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des ästhetischen Gegenstands zeigt einen Prozess, in welchem die Künste sich zu mehr formaler Autonomie, zu einer eigenen Weise der „epistemischen Erschließung von Wirklichkeit“ (134) herausbilden, auch in ihrer Theorie. Gleichzeitig gewinnt das Moment des Ideologischen an Gewicht. Mit der Moderne gerät Kunst mehr und mehr in das Widerspruchsfeld von „Sinnlickeit/ Sinngebung/Emanzipation“ auf der einen, „Sinnkrise/Nihilismus/Ideologie“ auf der anderen Seite. Gegenwärtig tritt noch die zunehmende Dominanz des Marktwerts von Kunstwerken hinzu, die Metscher als mitverantwortlich für den „Verfall ästhetischer Normen, ja einen programmatischen Nihilismus in der Frage ästhetischer Wertung“ (150) entlarvt.
Nachdem die beiden Abschnitte des ersten Hauptteils der Untersuchung sich allgemein mit begrifflichen, historisch-genetischen, formalen und gesellschaftlichen Bestimmungen und Befunden von Kunst und deren Theorie befassten, fragt der abschließende zweite Hauptteil nach spezifischen Merkmalen marxistischer Kunsttheorie. Auch hier ist der erste Zugriff ein historisch-rekonstruktiver. „Kunst als Mimesis und Kunst als Selbstkonstitution“ des Menschen (161) ergibt sich als Grundkonzept jeder marxistischen Ästhetik. Konkreter gefasst ist Kunst „eine gegenständliche Tätigkeit (...), damit eine Form sui generis der sinnlich-menschlichen Praxis in produktiver wie konsumtiver (rezeptiver) Hinsicht; in einer Gestalt, die Wirklichkeit aufzunehmen und anschaulich zu reflektieren vermag“ (164). Sie ist gerichtet auf die „praktische Veränderung der Welt“ (171), ist also emanzipativ. In diesem Kontext gewinnt die Kategorie der Aneignung ihre besondere Bedeutung. „Aneignung“ meint den Vorgang der praktischen und theoretischen Erfassung äußerer Wirklichkeit als grundlegende Voraussetzung für die kulturelle Formung menschlicher Welt und die Subjektbildung. Es handelt sich um einen dialektischen Begriff: Im Akt der (Um-)Formung äußerer Wirklichkeit zu menschlicher (Kultur-)Welt bildet sich auch das tätige Subjekt. „Es gibt keine Bildung des Ich ohne Bildung von Welt, und es gibt keine Bildung von Welt ohne Bildung des Ich.“ (179) Der Mensch formt seine Welt nach den Gesetzen der Schönheit und bildet in diesem Vorgang seine sinnlichen Vermögen. Dem Ästhetischen kommt also im Prozess menschlicher Welt- und Selbstkonstitution eine zentrale Rolle zu.
Aus diesem grundlegenden Verständnis des Ästhetischen gewinnt Metscher eine Reihe von thesenartigen Bestimmungen, die er für jede marxistische Kunstauffassung – wie immer diese auch aussehen mag – für unverzichtbar hält. Wesentlich sind die Absage an „Kunstmetaphysik und ästhetische Autarkie“ (206), die Einsicht, dass Kunst „in Produktion und Rezeption in konkrete Weltverhältnisse“ (207) eingebunden und eine „Form gegenständlicher Tätigkeit“ (208) ist und als solche eine „Weise der Produktion“ (209). Ihr besonderer Modus liegt im „Moment formaler Gestaltung“ (210), „sinnliche (...) Form (ist) ihr Grundbegriff“ (ebd.). Sie ist zudem „doppelte Produktion: Produktion von Kunstwerken zum Zweck der Produktion von Subjektvermögen“ (211). Wesentlich ist die Historizität nicht nur der Werke, sondern auch der zentralen Kategorien des künstlerischen Prozesses. Das Verhältnis von Kunst und Ideologie charakterisiert Metscher als „ambivalent“. Kunst „fungiert als ideologische Macht wie als Kraft der Opposition und Selbstwerdung“ (215). Schließlich ist Kunst „mimetische Darstellung und kulturelle Konstitution“ (217), ist sie „‚Reflexion der Reflexion‘“ (218), wie Metscher unter Verweis auf H. H. Holz sagt.
Der Text bietet eine ausführliche Rekonstruktion der Geschichte europäischer Kunsttheorie und besonders der Entwicklung des Mimesisbegriffs. Metschers Kunstbegriff ist der Beliebigkeit moderner Theoriebildung entzogen, er ist fundiert auf realen Prozessen und belegbar an konkreten historischen Befunden. Allerdings ist der Mimesisbegriff so gefasst, dass eine Bestimmung nicht-mimetischer Künste, deren Existenz der Autor (anders als Holz) im Sinne höchster Abstraktheit, als nicht-welthaltige Werke, beschreibt, inkonsequent bleibt. Hier fällt die begriffliche Strenge hinter das Ziel zurück, ein Kriterium für ästhetische Wertung zu gewinnen.
Der vorliegende Entwurf erlaubt es, Kunstwerke als schlechte Kunst zu identifizieren, ohne ihnen den Kunstcharakter grundsätzlich abzusprechen. Auch die Indienstnahme künstlerischer Formentwicklung für außerkünstlerische oder gar politische Zwecke (wobei nicht nur an den sozialistischen Realismus zu denken ist) hat hier keinen Ort – ausdrücklich bekennt sich Metscher zur Autonomie künstlerischer Form, reduziert Kunst nicht auf Kritik (wenngleich große Kunst immer auch kritisch ist), sondern anerkennt ihr Moment des Utopischen „nicht allein in artikulierten Inhalten, sondern in der Werkform selbst“ (224).
Metscher betont das emanzipatorische Potential der Kunst, ja er schreibt den Künsten eine wichtige Rolle im „Kampf um Hegemonie“ (152) zu. Spätestens hier stellt sich die Frage nach den Rezipienten. Wer konsumiert heute Kunst und warum? Und wer bringt heute die Voraussetzungen mit, das in den großen Werken der Kunst eingeschriebene emanzipatorische Potential aufzuschließen? In Zeiten, in denen Sinnlichkeit, Kontemplation und die (selbst-)bewusste Auseinandersetzung mit allem, was nicht schnell verfüg- und konsumierbar ist, mehr und mehr in den Hintergrund zu treten scheinen, ist diese Auffassung sehr optimistisch. Zu fragen ist auch, ob Metschers Konzept emanzipatorischer Kunst den Rezipienten großer Kunst nicht die Rolle zuweist, die Werke „von außen“ mit Bedeutung aufzuladen, also in die Werkerschließung Wissen einzubringen, um aus dem Werk Wissen zu gewinnen – und somit das ergibt, was W. Welsch „Input-Hermeneutik“ nennt.
Metschers Buch bietet über das hier Dargestellte hinaus eine Fülle von Gedanken und Informationen zu kunst- und ästhetiktheoretischen Einzelfragen und ist ausgesprochen gut lesbar, obwohl es um komplexe Begriffe und Gegenstände geht. Und es gelingt ihm, den Kunstbegriff der völligen Auflösung zu entreißen, „ihn für einen neuen Gebrauch zurück zu gewinnen“ (12).
Edgar Radewald
Autorinnen und Autoren, Übersetzer
Dr. Alexander Bahar – Ellhofen/Heilbronn, Historiker, Publizist, Gymnasiallehrer
Phillip Becher – Siegen, Sozialwissenschaftler
Dr. Joachim Becker – Wien, Volkswirt und Politikwissenschaftler, Hochschullehrer
Dr. Joachim Bischoff – Hamburg, Sozialwissenschaftler, Mitherausgeber von „Sozialismus“, Z-Beirat
Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup – Gelsenkirchen, Wirtschaftswissenschaftler, Hochschullehrer, Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memorandum-Gruppe)
Prof. Dr. Dieter Boris – Marburg/L., Sozialwissenschaftler, Z-Beirat
Torsten Bultmann – Bonn, Politischer Geschäftsführer des Bundes demokratischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (BdWi)
Prof. Dr. Wolfram Burkhardt – Frankfurt/M., Medizinsoziologe, Hochschullehrer
Dr. Rolf Czeskleba-Dupont – Roskilde/Dänemark, Hochschullehrer
Prof. Dr. Frank Deppe – Marburg, Politikwissenschaftler, Z-Beirat, Mitgl. im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Dr. Kai Eicker-Wolf – Frankfurt/M., Wirtschaftswissenschaftler, Abteilung Wirtschafts- und Strukturpolitik des DGB Hessen-Thüringen
Prof. Dr. Georg Fülberth – Marburg, Politikwissenschaftler
Dr. Rolf Geffken – Hamburg, Leiter des Instituts für Arbeit – ICOLAIR, Lehrbeauftragter f. chinesisches Recht und Fachanwalt für Arbeitsrecht
Olaf Gerlach – Berlin, Referent für Sozialpolitik, Fraktion DIE LINKE im Hessischen Landtag
Anne Geschonnek – Halle, Jura-Studentin, Vorstandsmitglied von DieLINKE.SDS
Dr. Jörg Goldberg – Frankfurt/M., Wirtschaftswissenschaftler und Z-Redakteur
Dr. Werner Goldschmidt – Hamburg, Politikwissenschaftler, Z-Beirat
Karl-Heinz Heinemann – Köln, Journalist
Prof. Dr. Hermann Klenner – Berlin, Rechtswissenschaftler
PD Dr. Helmut Knolle – Bern, Mathematiker und Ökonom
Heinz-Jürgen Krug – Rüsselsheim, Dipl. Math., IT-Berater, bis 2011 in der gemeinsamen VK-Leitung von IGM und ver.di bei HP Rüsselsheim
Sonja Mangold – Berlin, Juristin, Doktorandin
Len McCluskey – London, Gewerkschaftssekretär
Prof. Dr. sc. phil. Helmut Meier – Leipzig, Historiker
Bernhard Müller – Hamburg, Verlagsmitarbeiter
Prof. Dr. Klaus Müller – Lugau, Wirtschaftswissenschaftler
Patrick Ölkrug – Marburg, Student der Politikwissenschaft
Prof. Dr. Lothar Peter – Bremen, Sozialwissenschaftler
Prof. Dr. Helmut Peters – Berlin, Sinologe
Falk Prahl – Frankfurt/M., ver.di Betriebsgruppenvorsitzender Serviceniederlassungen Deutsche Post DHL in Darmstadt, Mitglied im Vertrauensleuteausschuss ver.di Südhessen
Edgar Radewald – Krefeld, selbständig
Prof. Dr. Werner Röhr – Berlin, Historiker
Tilman Rosenau – Hamburg, Fraktionsgeschäftsführer DIE LINKE in der BV Mitte
Dr. David Salomon – Frankfurt/M., Sozialwissenschaftler, Z-Redakteur
Prof. Dr. Karl Hermann Tjaden –Kassel, Sozialwissenschaftler
Alan Ruben van Keeken – Siegen Student der Musikwissenschaft, Z-Redakteur
Rudi Walther – Frankfurt/M., Journalist
Prof. Dr. Manfred Weißbecker – Berlin, Historiker
Simon Zeise, M.A. – Leipzig, Philosoph und Historiker, Bundesgeschäftsführer Die LINKE.SDS
1 Hingewiesen sei wenigstens auf: F. M. Balzer u.a. (ed.), Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker – Bio-bibliographische Beiträge, Opladen 2001; A. Diers, Arbeiterbewegung – Demokratie – Staat (Abendroths Leben und Werk 1906 bis 1948), Hamburg 2006; ders., „Abendroth“, in: Arbeiterstimme, Nr. 171, Jg. 40, 2011, S. 31-33; B. Dietrich/J. Perels (ed.), Gespräche mit Abendroth, Frankfurt 1976; J. Haag, Inventar des Abendroth-Nachlasses, Amsterdam 1997; R. Heigl, Oppositionspolitik (Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken), Hamburg 2008; Detlef Hensche (ed.), Recht und Arbeiterbewegung (Gedenken an Abendroth), Köln 1987; N. Paech/G. Stuby (ed.), Wider die herrschende Meinung, Frankfurt 1982; P. Römer, Abendroth und Carl Schmitt, Köln 2009;U. Schöler, Wolfgang Abendroth und der reale Sozialismus, Berlin 2012; H.-J. Urban u.a. (ed.), „Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie“. Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth, Hamburg 2006. – Kaum oder gar nicht rezipiert wurden hingegen die von Rafael G. Girardot unter dem Titel New Directions in International Law, Frankfurt/New York 1982, herausgegebenen, von immerhin 32 Wissenschaftlern aus 25 Ländern dargebotenen Essays in Honour of Wolfgang Abendroth, an denen sich der Schreiber dieser Zeilen, kein Schüler, aber immerhin ein studentischer Gelegenheitshörer Abendroths, mit einem kleinen Beitrag über „Völkerrecht als zwischenstaatliches Verfassungsrecht“ (S. 479-498) beteiligen durfte.
2 Vgl. (unter Bezugnahme auf Abendroth): Jürgen Kaestner (ed.), Gegen den Strom – KPD-Opposition. Zur Politik der KPO (1928-1945), Frankfurt 1984.
3 Abgedruckt in Bd. 1 seiner Gesammelten Schriften, Hannover 2006, S. 26-28.
4 Abendroth, ebenda, S. 119-122.
5 Vgl. Ernst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933, S. 39; ders., Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 12, Berlin 1954, S. 8-36, bes. Leitsatz XV; dagegen Abendroth, ebenda, S. 85 ff. Vgl. Joachim Perels, Wolfgang Abendroth und die Rechtslehre der Ära Adenauer. Verteidigung des Grundgesetzes gegen konservative Interpretationsmacht, in: Andrea Gourd/Thomas Noetzel (ed.), Zukunft der Demokratie in Deutschland, Opladen 2001, S. 136.
6 Vgl. Richard Heigl, Wolfgang Abendroths Parteitheorie, in: Utopie kreativ, Heft 187, Mai 2006, S. 408.
7 Vgl. Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied 1967 (2. Auflage 1972), S. 114, 132 („Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“, 1954), abgedruckt auch in dem von Ernst Forsthoff herausgegebenen Sammelband: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1965, S. 119, 137.
8 Abendroth (u.a.), Diskussion über Probleme sozialistischer Rechtspolitik. Ein Gesprächsprotokoll, in: Hubert Rottleuthner (ed.), Probleme der marxistischen Rechtstheorie, Frankfurt 1975, S. 393.
9 Joachim Perels, Der soziale Rechtsstaat im Widerstreit. Zur Verfassungsinterpretation Wolfgang Abendroths aus Anlaß seines 100. Geburtstages, in: Kritische Justiz, Jg. 39, Heft 3, 2006, S. 297; Frank Deppe, Wolfgang Abendroths Politische Wissenschaft, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, Jg. 17, Nr. 67, September 2006, S. 128.
1 Werner Röhr, Abwicklung. Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR. Band 1. Analyse einer Zerstörung, Berlin 2011. Vgl. meine Besprechung in Z 92, Dezember 2012, S. 152 ff.
2 Herausgegegen vom Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR von 1974 bis 1985.
3 Vgl. u.a. Walter Markov, Weltgeschichte im Revolutionsquadrat. Hrg. u. eingel. von Manfred Kossok, Berlin 1979; Revolutionen der Neuzeit 1500 – 1917. Hrg. u. eingel. von Manfred Kossok, Berlin 1982.
1 Mit dem Begriff der Basiserzählung beziehe ich mich auf eine Konzeption des im März dieses Jahres verstorbenen Siegener Soziologen Trutz von Trotha, die von seinen ebenfalls bereits verstorbenen Kollegen Michael Schwab-Trapp und Thomas Herz vor allem in Untersuchungen zum diskursiven Verhältnis der westdeutschen Gesellschaft zur faschistischen Vergangenheit adaptiert wurde.
2 Georg Fülberth, Initiative Alte Soziale Marktwirtschaft, in: Marxistische Blätter, 45. Jg., Nr. 5 / 2007, S. 7-9.
1 Hierbei orientiert er sich wesentlich an Reinhard Opitz und plädiert dafür, an dessen Strukturschema der politischen Rechten anzuknüpfen (vgl. R. Opitz, Faschismus und Neofaschismus [1984/1988], Bonn 1996).
2 Forschungsgruppe Europäische Integration (Hrsg.), Rechtspopulismus in der Europäischen Union, Hamburg, S. 10.