Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe versammelt Beiträge des Kolloquiums „Klassenanalyse und Intelligenz heute“, das im April 2013 in Frankfurt am Main stattfand (siehe den Tagungsbericht in Z 94, Juni 2013). Anfang der 1970er Jahre hatte das Institut für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF) im Zusammenhang mit seiner großen Klassen- und Sozialstrukturanalyse auch die Frage nach den Bündnisbeziehungen zwischen dem „Kern der Arbeiterklasse“ und der Intelligenz diskutiert. Das Kolloquium zielte darauf, diese Fragen unter aktuellen Blickwinkeln neu aufzunehmen.
Wir haben es heute weltweit mit einer „neuen Periode sozialer Unruhe zu tun“, konstatiert Frank Deppe einleitend. Ähnlich wie 1968ff. könnte es sich um Bewegungen von historischer Tragweite handeln, jedoch rücken auch die Unterschiede zu 1968 ins Blickfeld. Wieder spielen die „Kinder der großstädtischen Mittelklassen“ eine wichtige Rolle in diesen äußerst heterogenen Bewegungen; aber anders als damals dominiert in ihrem Denken und Handeln die begründete Angst vor dem sozialen Abstieg. Bei der Aufgabe, die verschiedenen Strömungen eines Blocks von subalternen Kräften in einer antikapitalistischen Strategie zusammenzuführen, kann nicht umstandslos auf die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zurückgegriffen werden.
Dieter Boris skizziert die wichtigsten Trends der sozialstrukturellen Entwicklung seit den 1970er Jahren: Das schnelle Wachstum des Dienstleistungssektors, den Rückgang der Arbeiterbeschäftigung, die allgemeine Erhöhung des Bildungs- und Qualifikationsniveaus mit der starken Ausweitung des Sektors der Intelligenz, die Ausdehnung der weiblichen Erwerbsbeteiligung, die zunehmend ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen sowie die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse als dauerhafte, miteinander verflochtene Trends. Boris wie auch Deppe konstatieren, dass im Verlauf der genannten Prozesse die Orientierung auf die zentrale Rolle der Arbeiterklasse, auf welche sich die Intelligenz als Massenschicht beziehen solle, weiter relativiert worden ist.
Joachim Bischoff und Bernhard Müller setzen sich kritisch mit dem populären Begriff der „gesellschaftlichen Mitte“ auseinander. Während in der alten Bundesrepublik jahrzehntelang der optimistische Glaube dieser Mittelschicht an sozialen Aufstieg durch Leistung und Qualifikation dominierte, habe die Herausbildung des Finanzmarktkapitalismus nun aber zu einer massiven Erosion dieser „Mitte“ und zu einer Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse geführt. Torsten Bultmann bezieht sich auf die in den 1970er Jahren entwickelte These von der Herausbildung einer sozialen Massenschicht der Intelligenz. Auch heute noch wachse diese Schicht weiter. In dem Maß, wie akademische Qualifikation zur Regelberufsausbildung wird, könnte, so Bultmann, die Frage nach dem Verhältnis von Arbeiterklasse und Intelligenz tendenziell obsolet werden. Stattdessen könnte die Trennungslinie zwischen der hochqualifizierten Arbeit in Produktion und Dienstleistung auf der einen und dem Prekariat auf der anderen Seite verlaufen.
Praktische Erfahrungen zu den Ansätzen und Schwierigkeiten politischer Aktivierung von IT-Beschäftigten widerspiegeln sich im Beitrag von Heinz-Jürgen Krug am Beispiel des IT-Unternehmens Electronic Data Systems/Hewlett Packard (EDS/HP) am – inzwischen geschlossenen – Standort Rüsselsheim. Hier zeigt sich konkret, wie sich die z. B. von Bultmann beschriebene Entwicklung hochqualifizierter Arbeit zum Normalfall auswirkt, wenn sie den kapitalistischen Verwertungsbedingungen unterworfen wird.
Der Gesundheitssektor ist – auch auf Grund seines enormen Wachstums – ein anderer wichtiger Bereich, in dem Intelligenzberufe heute eine zentrale Rolle spielen. Wolfram Burkhardt zeigt, wie sich hier Politisierungsansätze aus dem Widerspruch zwischen dem humanen Anspruch des öffentlichen Gemeinwesens und der privatkapitalistischen „inneren Landnahme“ dieses Sektors ergeben. Die widersprüchliche Entwicklung der Lehrberufe zwischen Prekarisierung und Professionalisierung thematisiert Karl-Heinz Heinemann. Heute noch mehr als in den Jahren nach 1968 sei die Fähigkeit dieser wachsenden Teilgruppe der Intelligenz, professionelles Wissen und Handeln kritisch zu hinterfragen, ein Ansatzpunkt für Politisierung. Wo liegen die Chancen für sozialistische Politisierung bei den heutigen Studierenden unter den veränderten, durch Prekarisierung geprägten Studienbedingungen, fragen Anne Geschonneck und Simon Zeise. Politisierungsansätze sehen sie vor allem in Forderungen nach Demokratisierung der Hochschulen, die jedoch Teil einer gesamtgesellschaftlichen Auflehnung gegen die Offensive des Kapitals werden müssten.
In all diesen gruppenspezifischen Prozessen haben wir es auch mit der Herausbildung eines neuen Typs des Intellektuellen zu tun. Im Zuge der raschen Vergesellschaftung von Wissen und Kultur, so Lothar Peter, entsteht ein neuer Typ der „Intellektuellen von unten“. Sie entwickeln ihr kritisches Engagement ausgehend von den Problemen und Konflikten, mit denen sie in ihrer alltäglichen Praxis konfrontiert sind. David Salomon fragt nach Reaktionen von Künstlern auf die gesellschaftliche Krise. Er geht in seinem Beitrag von einem Begriff „politischer Ästhetik“ aus. Während die letzten Jahrzehnte weitgehend von einer Entpolitisierung der Kunst geprägt gewesen seien, sieht Salomon gegenwärtig Ansätze zu einer Repolitisierung – insbesondere in der Literatur und im Theater.
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Len McCluskey, Vorsitzender der größten britischen Gewerkschaft „Unite“, plädiert in einem der Erinnerung an Ralph Miliband gewidmeten Beitrag für eine konfliktorientierte gewerkschaftliche Klassenpolitik, die auch das Bündnis mit den neuen Protestbewegungen sucht und sich auf kommunaler Ebene für die Prekären und Ausgeschlossenen öffnet.
Marx-Engels-Forschung: Im ersten Teil seiner Studie zum Kommunismus-Begriff rekonstruiert Werner Goldschmidt die „Dialektik von Individualität und Kollektivität“ als zentrales Problem des Marxschen Verständnisses von Kommunismus. Im Zentrum stehe bei Marx und Engels die „volle und freie Entwicklung jedes Individuums“ als Grundprinzip der dem Kapitalismus folgenden „höheren Gesellschaftsform“. Goldschmidt geht den Marxschen Überlegungen zu Individualitätsentwicklung und Gesellschaftsformationen nach und wird sich im zweiten Teil ihrer Bedeutung für den heutigen „High-Tech-Kapitalismus“ zuwenden. Die „Neue-Marx-Lektüre“ (NML) hat einerseits das Verdienst, jüngeren Menschen den Weg zu Marx eröffnet zu haben. Andererseits aber hat sie versucht, Marxismus und Arbeiterbewegung zu trennen, indem sie den Praxisbezug bei Marx ausklammert. Klaus Müller widmet sich diesem Thema in einer ausführlichen Besprechung von W. F. Haugs Buch „Das ‚Kapital’ lesen. Aber wie?“
EU-Krise: Die Krise der kapitalistischen Integration Europas, der EU und der Euro-Zone bleibt Dauerthema in Z. Joachim Becker diskutiert in seinem Beitrag die Auswirkungen der Krise in Osteuropa. Er zeigt u. a., wie sich Anti-Krisen-Politiken und soziale Proteste in diesen Staaten unterscheiden. Einen interessanten Einzelaspekt der EU-Krise greift Helmut Knolle auf: In der wirtschaftlichen Dynamik, die der Anschluss der Mittelmeeranrainer Griechenland und Spanien (ähnlich wie Portugal) an die EU dort ausgelöst hatte, wurde der notwendige wirtschaftliche Strukturwandel in Richtung auf Stärkung der produzierenden Wirtschaft verpasst – mit den bekannten Folgen.
China-Studien: Das chinesische Wirtschaftswachstum und seine Widersprüche beeinflussen die Fähigkeit des kapitalistischen Weltsystems, die aktuelle Krise zu überwinden. Jörg Goldberg und Helmut Peters besprechen zwei Bücher, die beide den Charakter der aktuellen chinesischen Gesellschaftsformation diskutieren und deren Entwicklungstendenzen abschätzen. Generell kritisieren die Rezensenten das Fehlen eines konsistenten Kapitalismusbegriffs der Autoren.
Weitere Beiträge: Rolf Czeskleba-Dupont und Karl Hermann Tjaden zeigen in einem Überblick über Positionen von Marx bis zu zapatistischen Aktivisten, wie das Verhältnis zwischen Mensch und übriger Natur im Konzept des Ökosozialismus von der marxistischen und radikalen Linken thematisiert wurde. Heute wird dieser „zweite Widerspruch des Kapitalismus“ meist in Form von Kritik am Wirtschaftswachstum und dessen kapitalistischen Triebkräften diskutiert.
Außerdem in diesem Heft: Mehrere Beiträge zu Gewerkschaftsfragen, zu postmodernem Linksradikalismus und theoretischen Fragen der Kapitalismusentwicklung in der Rubrik Diskussion, Kritik, Zuschriften, ein Tagungsbericht sowie zahlreiche Buchbesprechungen.
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Redaktionsinternes: Aus beruflichen Gründen ist Guido Speckmann aus der Redaktion ausgeschieden. Er hat seit September 2004 (Z 59) zum Redaktionsteam gehört. Wir danken ihm herzlich für seine langjährige engagierte und kompetente Mitarbeit und wünschen ihm für seine neuen beruflichen Pläne alles Gute.
Der Schwerpunkt des März-Heftes 2014 (Z 97) ist dem Thema „Musik und Gesellschaft“ gewidmet.