Wer meinte, die Wohnungsfrage sei ein längst
entschärfter Aspekt der sozia-
len Frage, sieht sich eines Besseren belehrt: Sie ist in den
letzten Jahren mit
unerwarteter Wucht auf die politische Tagesordnung der BRD
zurückgekehrt.
Die „neoliberale Stadt“ (vgl. Z 83, September 2010)
wird zunehmend von
Konflikten um Mieten, Immobilienspekulation und Gentrifizierung
geprägt.
Dabei zeigt sich, dass sich darin viele Aspekte der
wirtschaftlichen und sozia-
len Entwicklung der letzten 30 Jahre bündeln: Von der
klassischen Frage be-
zahlbarer Mieten für die unteren Einkommensschichten über
Stadtentwick-
lung und Raumgestaltung bis zu den Ursachen und Folgen der
aktuellen Fi-
nanzmarktkrisen – all dies ist eng mit der Wohnungsfrage
verknüpft. Eine
Schlüsselfrage, das Verhältnis von Wohnungsmarkt und
Finanzspekulation,
steht im Mittelpunkt des vorliegenden Heftes.
Hans-Dieter Frieling gibt einen Überblick zum aktuellen
Wohnungsmarkt, zu
Trends der Mietbelastungen und räumlichen
Differenzierungsprozessen (Metro-
polenwachstum). Er geht vom besonderen Charakter des
kapitalistischen
‚Marktes’ für Wohnungen aus, dessen Funktionieren
eine politische Steuerung
von Angebot und Nachfrage erfordert. Vor diesem Hintergrund stellt
er die
Frage, ob die derzeit zu beobachtenden räumlichen
Veränderungen (Stich-
wort: Gentrifizierung) einem gezielten politischen Programm oder
vielmehr
‚spontanen’ Marktprozessen geschuldet sind. Seiner
Ansicht nach ist beides
richtig: Da die herrschende Politik sich der kapitalistischen
Profitlogik unter-
ordnet, fördert sie alle jene Prozesse aktiv, von denen sie
(zu Recht oder zu
Unrecht) glaubt, dass sie der Akkumulation von Kapital dienlich
wären.
Wohnungen als langfristige Kapitalanlagen waren schon immer eng mit
der
Kreditwirtschaft verbunden. Dass sie, wie Knut Unger zeigt, heute
dem neuen
Prozess der Finanzialisierung der Wirtschaft unterliegen, kann
daher nicht über-
raschen: Immer mehr ehemals gemeinnützige Wohnungen geraten in
die Hand
internationaler Finanzinvestoren, die weniger am Bau und an der
Verwaltung
als vielmehr am Handel mit Wohnungen bzw. mit entsprechend
unterlegten
Finanzprodukten verdienen und die inzwischen in aufstrebenden
Ballungsge-
bieten den Wohnungsmarkt maßgeblich beeinflussen. Insofern
spiegelt der
Wohnungsmarkt grundlegende Strukturveränderungen des
finanzmarktgetrie-
benen Kapitalismus wider.
Günter Bell macht darauf aufmerksam, dass die Mietprobleme
sich in be-
stimmten Regionen konzentrieren; sie sind eng mit räumlichen
Veränderun-
gen der Produktionsstrukturen verbunden. Angesichts des sich gerade
in auf-
strebenden Ballungsgebieten stellenden Problems knapper
Flächen muss es
notwendig zur Verdrängung von Bevölkerungsgruppen kommen.
Mit den be-
stehenden wohnungspolitischen Instrumentarien könnten die
Kommunen die-
sen Prozessen zwar entgegenwirken, sie aber nicht stoppen oder
umkehren.
Notwendig sei daher die Neubelebung einer gemeinwohlorientierten
Woh-
nungswirtschaft.
Hier knüpft der Beitrag von Andrej Holm an. Seiner Ansicht
nach muss
Wohnen zu einem Teil der Sozialen Infrastruktur werden, d.h.
Wohnungen
müssen zu öffentlichen, für alle unabhängig von
ihrem Einkommen zugäng-
lichen Gütern werden. Er begründet diese
bewegungsorientierte Forderung
und untersucht ihre Voraussetzungen, bestehende
Kräfteverhältnisse und
Realisierungsmöglichkeiten. Entsprechende soziale Bewegungen
und Mo-
delle existieren, bleiben allerdings bislang lokal und thematisch
fragmen-
tiert.
Sozialen Bewegungen mit Bezug zum Wohnungsproblem widmen sich
drei
weitere Beiträge. Am Beispiel Hamburg zeigt Michael Ziehl,
dass der Kampf
gegen oft spekulativ verursachte Gebäudeleerstände
beträchtliches Mobilisie-
rungspotential birgt. Ein effizientes Instrument der Mobilisierung
kann dabei
ein internet-basierter „Leerstandsmelder“ sein, durch
den die Existenz von Ge-
bäudeleerständen öffentlich gemacht wird.
Jürgen Ehlers schildert den langen
Kampf gegen die Privatisierung der gemeinnützigen
Wohnungsbaugesellschaft
„Nassauische Heimstätte“ in Hessen. Sowohl
rot-grüne als auch schwarz-gelbe
Landesregierungen und Kommunen haben versucht, den lokalen
Wohnungsbe-
stand der NH an Finanzinvestoren zu verkaufen. Mieterinitiativen
haben diese
Pläne immer wieder durchkreuzt. Diese Bewegungen sind bislang
allerdings
immer lokal beschränkt geblieben. Fred Schmid befasst sich am
Beispiel Mün-
chen mit dem Mieterwiderstand gegen die Übereignung von
Wohnraum an Fi-
nanzinvestoren. Er zeigt, wie die Auswirkungen der Finanzmarktkrise
den
Druck auf die öffentliche Wohnungswirtschaft erhöht
haben. Immer wieder
gelingt es aber lokalen Mieterinitiativen, kommunale
Privatisierungspläne zu
durchkreuzen.
***
Gewerkschaftsprobleme (zuletzt Z 92, Dezember 2012) werden in
drei Bei-
trägen behandelt. Die Ergebnisse einer qualitativen Befragung
von Vertrau-
ensleuten, Betriebs- und Personalräten vor allem aus der
Metall- und Elekt-
roindustrie sowie aus der Krankenpflege und dem Erziehungssektor
stellen
Richard Detje, Wolfgang Menz, Sarah Nies, Dieter Sauer und Joachim
Bi-
schoff vor. Im Vergleich zur Vorgängerstudie von 2010 (Z 87,
September
2011, S. 46ff.) spielen jetzt die Erfahrungen des Aufschwungs der
Nach-
Krisen-Zeit eine stärkere Rolle. Abgenommen hat das
Gefühl der Arbeits-
platzgefährdung, zugenommen hat das Gefühl der
Arbeitskraftgefährdung –
die Sorge, steigenden Leistungsanforderungen nicht standhalten zu
können.
Gegenwehr entfaltet sich im exportorientierten Industriesektor
zögerlicher
als im Dienstleistungsbereich. Trotz Kritik bleiben die
Gewerkschaften die
Institution, die das größte Vertrauen genießt, an
die aber auch hohe Anfor-
derungen gestellt werden. Völlig delegitimiert ist dagegen die
institutionelle
Politik. Der Staat wird nicht als neutral, sondern als feindliche
Institution
der „anderen Seite“ wahrgenommen. Einverständnis
herrscht darüber, dass
nur kollektives Handeln Verbesserungen erreichen kann. Die
Bereitschaft,
in diesem Sinne auch aktiv zu werden, entspricht dieser Einsicht
aber nicht.
Die Auswirkungen der Euro-Krise und der Austeritätspolitik
unter gender-
Aspekten erörtert Roman George. Er konstatiert eine
verstärkte Benachteiligung
der Frauen durch eine restriktive Mindestlohnpolitik; sie betrifft
Frauen mehr
als Männer, weil sie häufiger im Niedriglohnsektor
arbeiten. Die staatlichen
Ausgabenkürzungen haben ebenfalls eine Geschlechterdimension:
der Frauen-
anteil im öffentlichen Sektor ist höher als der von
Männern; entsprechende Kür-
zungen beeinflussen ihre Lebenssituation daher stärker.
Richard Detje, Klaus
Pickshaus und Sybille Stamm setzen sich kritisch mit der Initiative
Arbeitfairtei-
len auseinander, die die 30-Stunden-Woche als neue Normarbeitszeit
fordert.
Sie plädieren für eine arbeitspolitische Erweiterung der
Arbeitszeitdebatte. An-
gesichts der massiven Flexibilisierung von Arbeitszeiten und der
fortschreiten-
den Deregulierung von Arbeitsverhältnissen ist aus ihrer Sicht
eine generelle
Wochenarbeitszeitverkürzung nicht der überall wirksame
Hebel für Gegen-
konzepte.
***
Marx-Engels-Forschung: Alexander von Pechmann argumentiert gegen
die
„antisubstanzialistische“ Kapital-Exegese der
„neuen Marx-Lektüre“ und deren
Überbetonung der Formseite. Marx habe den Substanz-Begriff der
Metaphysik
Spinozas entlehnt und gesellschaftliche Arbeit als das „allem
gemeinsam Eine“
des Wertes bestimmt, das in verschiedenen Formen auftreten kann,
unter ande-
rem in kapitalistischen Gesellschaften in jener der abstrakten
Arbeit.
China-Studien: Helmut Peters rezensiert ausführlich das zweite
China-
Doppelheft der Zeitschrift „Das Argument“; Rolf Geffken
kritisiert ein Ar-
beitspapier der Friedrich-Ebert-Stiftung zu „Gewerkschaften,
Arbeitsmarktre-
gulierung und Immigration in China“.
Weitere Beiträge: In einem Vortrag zum Büchnerjahr
diskutiert Frank Deppe
die frühsozialistischen Themen im „Hessischen
Landboten“. Geschichtliche
und aktuelle Aspekte des Kampfs um den 18. März als Gedenktag
der 48er
Revolution behandelt Walter Schmidt. Beide Beiträge
können auch als ge-
schichtsträchtige Kritik des reaktionären
Polizeiaufmarsches gegen die Frank-
furter Blockupy-Demonstration gelesen werden, deren rechtliche und
politi-
sche Aspekte Elke Steven als politischen Angriff auf ein
elementares demo-
kratisches Grundrecht wertet. Neben den Tagungsberichten und
Buchbespre-
chungen ist auf die Fortsetzung der Debatte um
Internationalisierung und na-
tionale Bindung des Kapitals durch einen Beitrag von Werner
Rügemer zu
verweisen.
***
Redaktionsinternes: Alan Ruben van Keeken ist neu in die Redaktion
eingetre-
ten. Im Dezember-Heft (Z 96) werden die Beiträge des
Z-Kolloquiums „Klas-
senanalyse und Intelligenz“ vom März 2013 den
Schwerpunkt bilden.