Seit den Debatten der 60er und 70er Jahre haben die Bemühungen um eine adäquate Rekonstruktion der Marxschen Kapitalanalyse ein bemerkenswert differenziertes und hohes Niveau erreicht. So hoch das Niveau mittlerweile auch ist, so zeigen viele Beiträge doch, wie sehr gegenwärtige Interpreten dem „nachmetaphysischen“, durch Strukturalismus und Frankfurter Schule geprägten Diskurs verhaftet sind. Es besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass das ‚Kapital’ weder als geschichtsphilosophisches Werk den unaufhaltsamen Aufstieg wie unvermeidlichen Niedergang der kapitalistischen Produktionsweise darlegt noch in existenzanthropologischer Absicht die Entfremdung des Menschen unter den verdinglichten Verhältnissen der Kapitalherrschaft enthüllt, sondern dass es aus gesellschaftstheoretischer Perspektive die kapitalistischen Vergesellschaftungsstrukturen analysiert. Die zentrale Kategorie im ‚Kapital’ sei deshalb der Wert, der das Spezifische dieser Vergesellschaftung ausdrücke. Folglich konzentriert sich die Debatte um die angemessene Marx-Lektüre auf die Rekonstruktion des Wertbegriffs als Fundament und Zentrum der Marxschen Gesellschaftsanalyse.
Betrachtet man diese Diskussion ums ‚Kapital’ zunächst aus der Distanz, so fällt auf, dass nicht mehr, wie im traditionellen marxistischen Diskurs, die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital oder die Anarchie und Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise im Mittelpunkt steht, aber auch nicht, wie im sog. „westlichen Marxismus”, der Fetischcharakter warenproduzierender Gesellschaften, sondern dass vom Begriff der Form ein nahezu inflationärer Gebrauch gemacht wird[1]. Es gehe in Marx’ Analyse, so die Annahme, nicht um die Inhalte, Ware, Geld oder Kapital, sondern um die Form, die Waren-, Geld- oder Kapitalform. Ja, der Beobachter muss den Eindruck gewinnen, das ‚Kapital’ könne angemessen nur dann verstanden werden, wenn die ökonomischen Kategorien als Formen erkannt sind. Dementsprechend wird die gegenwärtige ‚Marx-Lektüre’ passend als formanalytische ‚Kapital’-Interpretation bezeichnet.
Die Kehrseite ist, dass von den korrespondierenden Begriffen wie dem „Inhalt“ oder dem „Stoff“ ein höchst eingeschränkter Gebrauch gemacht wird. Da es Marx im ‚Kapital’ darum gehe, die Formen zu entdecken, die der ökonomische Inhalt in kapitalistischen Gesellschaften annimmt, setzt sich dem Verdacht der „Enthistorisierung“ oder gar der „Naturalisierung“ aus, wer den Inhalt als solchen betrachtet. Das Interesse am Inhalt der einzelnen ökonomischen Kategorien reiße sie, so die Kritik, aus dem strukturellen Zusammenhang, in dem sie für Marx nur ihren Sinn und ihre Bedeutung haben. Die politische Ökonomie, wird er zitiert, habe zwar den in den Formen versteckten Inhalt entdeckt. „Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt …“ (MEW 23, 95) Daher habe die Konzentration auf die im ‚Kapital’ analysierten Inhalte das Spezifische der Marxschen Analyse verfehlt. – Ähnliches gilt für den Stoff: Da es Marx um die Formen gehe, werde der konkrete Stoff, das Materiale, aus dem Waren, Geld oder Kapital bestehen, von ihm ausgeblendet; es komme nur dort in Betracht, wo es von der Form bestimmt werde.
Der eigentliche Stein des Anstoßes in der gegenwärtigen, „nachmetaphysischen“ Diskussion ist jedoch der Begriff der „Substanz”. Scheint sich in ihm doch der Gedanke eines A-historischen oder naturhaft Ewigen auszudrücken, von dem wir – belehrt durch die Metaphysik- und Ideologiekritik des 20. Jahrhunderts – wissen, dass ihm nichts entspricht; dass er nur Ideologie ist, um das historisch Bedingte und gesellschaftlich Geformte in den Rang eines Ursprünglichen und Unmittelbaren zu erheben. „Substanz” – das muss in den Ohren kritischer Gesellschaftsanalytiker nach Ontologie und Metaphysik klingen, nach Ratzinger oder Sarrazin. Nichts, so lässt sich das postmetaphysische antisubstanzialistische Credo formulieren, ist unmittelbar und als solches Substanz; alles ist als ein Vermitteltes Struktur und Form.
Umso unangenehmer muss es da erscheinen, wenn der ‚Formanalytiker’ Marx das ‚Kapital’ so beginnt: „1. Die Faktoren der Ware: Gebrauchswert und Wert (Wertgröße, Wertsubstanz)”; und wenn er dem Leser auf den ersten Seiten des Werks geradezu einhämmert, dass die Waren als „Kristalle der ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz” (ebd., 52) Werte und als solche „von gleicher Substanz” (ebd., 58) sind, und dass die „wertbildende Substanz“ (ebd., 53) die Arbeit ist. Zu allem Überfluss führt er noch Aristoteles, den antiken Substanzphilosophen, an, der zwar erkannt habe, dass Waren, um getauscht zu werden, von gleicher Substanz sein müssten, der aber – historisch bedingt – nicht erkennen konnte, dass diese gemeinschaftliche Substanz der Waren die menschliche Arbeit ist (ebd., 73 f.).
Da ist nun guter Rat teuer; und es bleibt trotz all der intellektuellen Energie, die verausgabt worden ist, um das ‚Kapital’ von solch substantialistischen Restbeständen zu reinigen, der Zusammenhang von Substanz und Form des Warenwerts ein weiterhin umstrittenes und ungelöstes Problem. Während in der Debatte die einen darauf insistieren, dass für Marx die abstrakte Arbeit die Substanz des Warenwerts sei und in eben dieser Einsicht das Entscheidende der „Kritik der politischen Ökonomie“ liege[2], können die Kontrahenten darin nur eine „substanzialistische“ Metaphysik erkennen[3] und weisen darauf hin, dass die Substanz allemal formbestimmt sei. „Es gibt“, stellt etwa Helmut Brentel apodiktisch fest, „keine Substanz ‚vor’ der Form“.[4]
I. Form und Substanz als logische Kategorien
1. Im Folgenden soll keine Lösung des Wertproblems auf der ökonomischen Ebene der Wert- und Warenanalyse vorgeschlagen werden. Vielmehr soll zuerst der logischen Struktur der verwendeten Kategorien „Form und Substanz“ nachgegangen werden, um auf diese Weise dem Problem des Wertbegriffs näher zu kommen. Denn in der gegenwärtigen Debatte um die angemessene ‚Kapital’-Interpretation werden diese Begriffe als Instrumente der Analyse schon angewandt; was jedoch fehlt, ist die Reflexion auf den Inhalt dieser Begriffe. Der Diskussion um Wertsubstanz und Wertform mangelt, was Marx an Aristoteles wie Hegel hervorgehoben hat[5], dass sie, vor allem Gebrauch, die Kategorien an sich, d.h. als Denkformen, untersucht haben. Tut man dies, dann leuchtet unmittelbar ein, dass Begriffe wie „Form“, aber auch „Erscheinung“ ohne ihren Gegensatz, durch den sie bestimmt sind, bedeutungslos sind. Im Sinne des Logischen ist es daher so begriffs- wie gedankenlos, von Erscheinungen zu reden ohne vom Wesen, wie von Wirkungen ohne ihre Ursache. Sie sind Kategorien der Relation, so dass der eine Begriff nicht ohne den entgegengesetzten gedacht werden kann.
Insbesondere der Begriff der Form hat darüber hinaus das Missliche, dass er verschiedene Bedeutungen hat – in Abhängigkeit davon, ob die Form vom Inhalt, vom Stoff oder von der Substanz unterschieden wird. Da diese Begriffe keineswegs dasselbe bedeuten, muss vorab geklärt werden, in welcher Bedeutung Marx den Formbegriff im ‚Kapital’ jeweils verwendet. Ohne eine solche Klärung besteht die Gefahr, dass die „Form” zum Allerweltsbegriff und Schlagwort verkommt, das seiner Unbestimmtheit wegen für alles und jedes gebraucht werden kann.
Nun zeigt der Anfang des ‚Kapitals’ wie auch die Debatte um den Wertbegriff, dass es vor allem um die begriffliche Klärung des Kategorienpaars „Substanz und Form“ gehen muss. Marx unterscheidet im Kapitel „Die Ware“ klar zwischen der Wertsubstanz, die er in der Arbeit sieht, und der Wertform, die er als Tauschwert bestimmt. Geht man zudem davon aus, dass der Wert die allgemeinste Bestimmung ist, die nicht nur das gesamte ‚Kapital’ durchzieht, sondern auch den systematischen Zusammenhang von Ware – Geld – Kapital herstellt und garantiert, so leuchtet die Notwendigkeit ein, sich vor allem analytischen Gebrauch über den logischen Gehalt der Kategorien Substanz und Form zu verständigen.
2. Aristoteles, auf den die Untersuchung der Kategorien bekanntlich zurückgeht, hat es nicht nur nicht leicht gemacht, einen eindeutigen Begriff sowohl von der Form als auch von der Substanz zu geben, sondern dadurch auch erhebliche Verwirrung gestiftet. Denn zum einen bezeichnet für ihn das Wort „Substanz“ (gr. upokeimenon) dasjenige, was allem gemeinsam zugrunde liegt, und das er von der „Form“ (gr. eidos) unterscheidet, durch die jedes einzelne Ding das ist, was es ist. In diesem Sinne meint „Substanz“ das Gemeinsame, aus dem alles besteht, die „Form“ hingegen das Bestimmte, durch das jedes besteht. Beide gehören notwendig zusammen, weil, wie Aristoteles am Beispiel einer Statue erläutert, deren Form oder Gestalt nicht ohne materielle Substanz existiert[6]. – Zum anderen jedoch nennt Aristoteles „Substanz“ (gr. ousia) auch das, was dem Einzelding als wesentlich zukommt, ohne das es nicht wäre, was es ist. So sei „Mensch“ die Substanz von Sokrates; ob er aber geht und nicht steht, ein Attribut (gr. sumbebekoton), das ihm zukommen kann oder nicht. In dieser zweiten Bedeutung bezeichnet die Substanz also das „Wesen“ oder „Innere“ eines Dings, das sich von der äußeren Form unterscheidet, die „sich an jedem Einzelnen findet, ohne aber in seinem Wesen enthalten zu sein.“[7]
Übergehen wir die komplexe und kontroverse Diskussion im Mittelalter, so hat Descartes am Beginn der Neuzeit den Substanzbegriff in der zweiten Bedeutung aufgenommen, wenn er in den „Meditationen“ insgesamt drei Substanzen unterscheidet: den Körper, dessen Natur die Ausdehnung, den Geist, dessen Natur das Denken, und schließlich Gott, dessen Natur die Vollkommenheit ist. Dem Substanzbegriff in dieser Bedeutung folgte dann Leibniz, der in der „Monadologie“ – statt drei – eine unendliche Vielzahl von Substanzen annahm. Für ihn ist jedes Ding in sich, d.h. eine geschlossene, „fensterlose“ Monade. – Für Marx’ Verwendung des Substanzbegriffs sind jedoch nicht Descartes und Leibniz, sondern ist, worauf insbesondere F. Schrader verwiesen hat[8], Spinoza wichtig. Spinoza verwendet die Substanz wieder in der ersten Bedeutung als dasjenige, das allem gemeinsam zugrunde liegt. In seiner „Ethik“ definiert er die Substanz als das, „was in sich ist und durch sich begriffen wird; d.h. etwas, dessen Begriff nicht den Begriff eines andern Dinges nötig hat, um daraus gebildet zu werden.“[9] Da nun aber das, was in sich ist und durch sich begriffen wird, nur, wie er beweist, Eines sein kann, ist die Substanz das allem gemeinsam Eine – Spinoza nennt es „deus sive natura” –, dem alle konkreten und endlichen Formen als Attribute oder Modifikationen zukommen.[10] In dieser von Spinoza geprägten Bedeutung des gemeinsam Einen ist der Substanzbegriff dann auch von Kant in seine „Kategorientafel“[11] und von Hegel in seine „Wissenschaft der Logik“[12] aufgenommen worden. Für sie bezeichnet „Substanz” nicht das „Wesen“ eines Dings, sondern das Eine, das allen Erscheinungsformen beständig zugrunde liegt, und das als solches niemals selbst Erscheinungsform sein kann.
In dieser letzteren Bedeutung verwendet Marx den Substanzbegriff, wenn er im ‚Kapital’ die Warenwerte als „Kristalle der ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz“ bestimmt und die wertbildende Substanz in der Arbeit erkennt. Er folgt damit dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis, die vielfältigen Erscheinungsformen auf das ihnen gemeinsame Prinzip zurückzuführen.[13]
II. Die gesellschaftliche Gesamtarbeit als Wertsubstanz
Geht man davon aus, dass Marx zur Bestimmung des Werts die Substanz in der von Spinoza geprägten Bedeutung des in allen Erscheinungsformen gemeinschaftlich Einen verwendet, dann folgt daraus die Aufgabe, die Arbeit als wertbildende Substanz in der Weise zu bestimmen, dass sie – der Definition gemäß – a) das in allen Werten Gemeinschaftliche ist, und b) nur durch sich begriffen wird. Dies soll in den folgenden Abschnitten thesenartig dargestellt werden.
1. Die gemeinschaftliche Substanz. Aus der genannten Verwendung des Substanzbegriffs im ‚Kapital’ folgt, dass unter der „Wertsubstanz“, die Marx im 1. Kapitel anführt, nicht diejenige Arbeit verstanden werden kann, die zur Herstellung einer Ware, für sich und getrennt von anderen Waren, verausgabt wird. Denn, so verstanden, würde der Substanzbegriff in der zweiten Bedeutung des „Wesentlichen“ oder des „Inneren“ der Ware verwendet, nicht aber in seiner ersten Bedeutung des „Gemeinschaftlichen“ aller Waren. Man folgte dem von Leibniz geprägten monadischen, nicht aber dem von Spinoza geprägten kommunalen Substanzbegriff.
Wenn daher gesagt wird, es sei das Charakteristische der Warenproduktion, dass zur Herstellung einer Ware abstrakte Arbeit verausgabt wird, die in ihr als Wert enthalten sei, dann mag diese Aussage stimmen. Aber diese Arbeit bildet nicht die Substanz der Warenwerte, da für Marx nicht die abstrakte, in jeder Ware enthaltene Arbeit, sondern die allen Waren gemeinschaftliche Arbeit die Wertsubstanz bildet. Und wenn weiterhin gesagt wird, dass die Waren als Werte einander gleich sind, weil jede Ware, für sich, dasselbe enthält, nämlich abstrakte Arbeit, dann mag auch dies stimmen; von „gleicher Substanz“, wie Marx sagt, aber sind sie, weil sie Produkte oder „Kristalle“ gemeinschaftlicher Arbeit sind.
Hält man also die zwei Bedeutungen des Substanzbegriffs auseinander und setzt voraus, dass Marx ihn zur Waren- und Wertanalyse in der von Spinoza, Kant und Hegel geprägten Bedeutung verwendet hat, dann kann die Wertsubstanz nicht als das verstanden werden, was jede einzelne Ware für sich enthält, sondern muss als das begriffen werden, was allen Waren gemeinschaftlich ist.[14] Dieses Gemeinschaftliche drückt Marx so aus, dass die Arbeit, welche die Substanz der Werte bildet, gleiche menschliche Arbeit ist, und er präzisiert: „Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft. Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als eine und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie aus zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht.“ (ebd., 53; H.v.m.) Und es ist eben diese eine gesellschaftliche Arbeit oder die Gesamtarbeit der Gesellschaft, die Marx als die gemeinschaftliche Substanz der Werte begreift.
Aus dieser Einsicht in die gesellschaftliche Arbeit als wertbildende Substanz folgt, dass Marx Theorien als ideologische Konstrukte zurückweist, die von der individuellen Arbeit als wertbildender Substanz ausgehen. Denn da die individuelle Arbeitskraft nur als Teil der gesamten Arbeitskraft der Gesellschaft wertbildend ist, spiegelt die Vorstellung einer wertschöpfenden ‚Kraft’, die dem einzelnen Arbeiter, jedem für sich, innewohnt – und von der er durch die Herrschaft des Kapitals entfremdet wird –, nur in verklärender Weise die Form der privaten Arbeit wider, die die gesellschaftliche Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft annimmt. Auf diese Vorstellung von der schöpferischen Kraft des Arbeiters lassen sich zwar schöne romantische wie proletarisch-humanistische Ideen von ‚dem’ Arbeiter gründen; sie taugt aber nicht zur Grundlegung der ökonomischen Theorie. Diese hat nicht von der individuellen, sondern von der gesellschaftlichen Arbeit als der gemeinschaftlichen Substanz der Werte auszugehen, um auf dieser Basis die spezifischen Formen zu analysieren, die sie in der bürgerlichen Gesellschaft besitzt. Für Marx kann die Arbeit den monadischen Charakter der Einzelarbeit immer nur in der Gesellschaft annehmen; er ist Form, nicht Substanz.
2. Die wertbildende Substanz. Da die gesellschaftliche Arbeit nicht nur das Gemeinschaftliche der Warenwerte bildet, sondern, der Substanz-Definition gemäß, auch das ist, das nicht durch anderes, sondern durch sich begriffen wird, muss die gesellschaftliche Arbeit als die wertbildende Substanz angenommen werden, die nicht nur den Waren als historisch besonderen Formen, sondern allen Produkten gesellschaftlicher Arbeit – in welcher Form auch immer – als wertbildend zugrunde liegt[15]. Denn wenn man annimmt, dass die gesellschaftliche Arbeit nur unter der Bedingung wertbildend ist, dass ihre Produkte die spezifische Form der Ware besitzen, dann wäre ihr als Substanz die Form, die Warenform, vorausgesetzt. So aber wird – entgegen der Definition – die Wertsubstanz nicht durch sich, sondern durch anderes, die Warenform, begriffen.
Das heißt: Folgt man dem von Spinoza geprägten Substanzbegriff, dann bildet die gesellschaftliche Arbeit als wertbildende Substanz das schlicht voraussetzungslose Fundament, das allen besonderen Produktionsweisen als historisch konkreten Erscheinungsformen zugrunde liegt. Von ihr hat demnach die ökonomische Theorie auszugehen. Genau im Sinne dieses Voraussetzungslosen hat Marx den Wertbegriff gebraucht, als er gegen „das Geschwätz über die Notwendigkeit“ polemisierte, ihn zu beweisen. Es beruhe „nur auf vollständigster Unwissenheit, sowohl über die Sache, um die es sich handelt, als die Methode der Wissenschaft.“ Hinsichtlich der Sache ist es nicht zu beweisen, sondern aus sich begreifbar, „self-evident“, wie Marx sagt, dass eine Nation ohne Arbeit in ein paar Wochen verrecken würde, und dass die gesellschaftliche Gesamtarbeit in bestimmten Proportionen verteilt werden muss.[16] Dies sind, wie die Naturgesetze, Tatsachen oder Notwendigkeiten, die für jede Gesellschaft gelten – unabhängig von der bestimmten Produktionsweise. „Was sich in historisch verschiednen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen.“ (MEW 32, 552)
In methodischer Hinsicht macht der Begriff der gesellschaftlichen Gesamtarbeit als wertbildender Substanz nicht nur unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Produktion der wissenschaftlichen Analyse zugänglich, sondern gibt auch die Grundlage für die kritische Analyse der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise als einer bloß besonderen, historisch kontingenten Form gesellschaftlicher Produktion. Eben diese Differenz zwischen der gesellschaftlichen Arbeit als gemeinsamer Substanz aller gesellschaftlichen Produktion und ihrer spezifischen Form in der bürgerlichen Gesellschaft nicht gemacht zu haben, hält Marx sowohl der klassischen als auch der sog. „Vulgärökonomie“ vor. Die erstere identifiziert die kapitalistische Form der Privatarbeit mit der Substanz, der gesellschaftlichen Arbeit überhaupt[17]; die letztere hält sich bloß an die Formen und verzichtet ganz auf den Substanzbegriff. Wegen dieser fehlenden Differenz von Form und Substanz fehlt ihnen jedoch die kritische Distanz zu den herrschenden Verhältnissen. Sie sind, als „bürgerliche Ökonomie“, den bestehenden Erscheinungsformen gleichsam verfallen.
3. Die Gesellschaftlichkeit wertbildender Arbeit. Weiterhin folgt aus der gesellschaftlichen Arbeit als wertbildender Substanz, dass es ihr gesellschaftlicher Charakter ist, der Wert bildet, dass sie in der warenproduzierenden Gesellschaft jedoch die Form der abstrakten Arbeit annimmt. Denn wenn es so wäre, dass die abstrakte Arbeit als solche wertbildend ist, dann wäre in anderen, nicht-kapitalistischen Produktionsweisen die Arbeit zwar gesellschaftlich, sie würde aber keine Werte schaffen. Diese Schlussfolgerung beruht jedoch, wie oben gesagt, „auf vollständigster Unwissenheit“ des Wertbegriffs. Man verfiele dem Fehler, vor dem Marx wiederholt warnt, die spezifische Form der gesellschaftlichen Arbeit mit dieser selbst zu verwechseln; man identifizierte die Form mit der Substanz bzw. diese mit jener.
Wenn daher gesagt wird, dass die Substanz der Warenwerte die abstrakte Arbeit sei[18], so wird die entscheidende Differenz zwischen Substanz und Form unterschlagen. Denn da, so Marx’ Argumentation, die Gesellschaftlichkeit der Arbeit sich in warenproduzierenden Gesellschaften über den Austausch der Waren darstellt, dieser aber die Werte der Waren gleichsetzt, nimmt die gesellschaftliche Arbeit hier die Form der gleichen abstrakten Arbeit an. „[Die Waren] unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allesamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit.“ (MEW 23, 52) Als Warenproduzenten beziehen die Menschen ihre Produkte als Vergegenständlichungen der gleichen abstrakten Arbeit aufeinander. Sie wissen es nicht, aber sie tun es.
Darin freilich haben die „Formanalysten“ Recht, dass es Marx im ‚Kapital’ weder darauf ankommt, verschiedene Produktionsweisen zu untersuchen noch die Genese der kapitalistischen Produktionsweise zu rekonstruieren, sondern darauf, die spezifische Form zu analysieren, die die gesellschaftliche Arbeit als wertbildende Substanz in der kapitalistischen Produktionsweise annimmt. Und da in ihr der Wert die Form des Tauschwerts bzw. des sich verwertenden Werts besitzt, besteht die gesellschaftliche Arbeit als wertbildende Substanz notwendig in Form der abstrakten Arbeit. Aber die nahe liegende Konzentration von Marx auf die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und damit auf die Formen, die der Wert in ihr annimmt, schließt keineswegs die Annahme ein, gesellschaftliche Arbeit nur dieser Produktionsweise sei wertbildend.
4. Der „Fetischcharakter“ der Ware. Diese Differenz zwischen der Wertsubstanz und der Wertform verdeutlicht Marx im Abschnitt über den „Fetischcharakter der Ware“, der die Analyse der Ware abschließt. In diesem Abschnitt hebt Marx nicht darauf ab, dass der Warenwert die Form des Tauschwerts und damit die gesellschaftliche Arbeit als Wertsubstanz die Form der abstrakten Arbeit besitzt, sondern dass die Gesellschaftlichkeit der Arbeit den Charakter eines sachlichen Verhältnisses von Waren annimmt. Hier geht es Marx um die eigentümlich verkehrte Art, in der die gesellschaftliche Arbeit als Wertsubstanz unter den Bedingungen der Warenproduktion erscheint. Das Geheimnisvolle der Warenform bestehe darin, „dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“ (ebd., 86) Die gemeinschaftliche Substanz der Werte, die gesellschaftliche Arbeit, verkehrt sich in die gegenständlich sachliche Form der Warenwerte, so dass die Arbeitsprodukte ihren gesellschaftlichen Charakter erst im Austausch erweisen.
Konsequenterweise sieht Marx diesen Fetischcharakter der Arbeitsprodukte verschwinden, sobald man sich anderen Produktionsformen zuwendet. In ihnen nimmt, wie er in hinreichender Ausführlichkeit beschreibt, die gesellschaftliche Arbeit als wertbildende Substanz Formen an, die nicht gegenständlicher Natur, sondern von einer anderen – familiären, persönlichen oder bewussten – Natur sind. In diesen bleibt der gesellschaftliche Charakter der Arbeiten und der Produkte „durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution.“ (ebd., 93) Das aber heißt in unserem Zusammengang: Ein und dieselbe Substanz, die gesellschaftliche Gesamtarbeit, kann in unterschiedlichen Formen der Produktion und Distribution erscheinen. Die Substanz ist in der Tat ‚vor’ der Form.
5. Die Substanz ‚vor’ der Form. Aus der dargelegten Bedeutung des Substanzbegriffs für die Analyse des Warenwerts folgt schließlich, dass die Aussage, es gebe keine Substanz ‚vor’ der Form, nur das antisubstanzialistische Programm der formanalytischen Interpretationen formuliert, dass sie in Bezug auf das ‚Kapital’ jedoch widersinnig ist. Denn was sollte es, rein logisch, heißen, dass die Wertsubstanz formbestimmt ist, wenn unter „Substanz“ dasjenige zu verstehen ist, das allen Wertformen zugrunde liegt und als solches niemals Form sein kann? Sie wäre nicht Substanz.
Gerade weil Marx – ganz undialektisch – an der Wertsubstanz ‚vor’ den Wertformen festhält, entgeht er in methodologischer Hinsicht dem Schicksal des Hegelianismus, die existierenden Formen als notwendige Momente der sich entfaltenden Totalität zu verklären. Da es für Marx zwischen der Wertsubstanz, der gesellschaftlichen Gesamtarbeit, und den spezifischen Formen, die der Wert in der kapitalistischen Produktionsweise annimmt, keinen inneren, notwendigen Zusammenhang gibt – die Substanz also in der Tat ‚vor’ der Form ist –, kann er sie als eine historisch kontingente Gestalt der gesellschaftlichen Produktion begreifen und analysieren. Weil sie entstanden ist, wird sie auch wieder verschwinden.
Wäre es dem gegenüber richtig, dass es ‚vor’ der Form keine Substanz gibt, dass folglich die Form absoluten Charakter hat, dann wäre eine „Kritik der politischen Ökonomie“ nicht möglich. Die Wissenschaft bestünde bloß im Analysieren, ‚Ableiten’ und Systematisieren der schon gegebenen Erscheinungs- und Vergesellschaftungsformen. Marx wäre bestenfalls als ein guter Analytiker des Kapitalismus, nicht aber als sein Kritiker zu interpretieren.
[1] „Im Mittelpunkt [der ‚Kapital’-Rezeption] steht der Begriff der Form und ihrer angemessenen Erkenntnis.“ (Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2008, 9).
[2] Vgl. Robert Kurz, Die Substanz des Kapitals. Abstrakte Arbeit als gesellschaftliche Realmetaphysik und die absolute Schranke der Verwertung. In: Exit. Krise und Kritik der Warengesellschaft 1, 44-129.
[3] Vgl. Michael Heinrich, Untergang des Kapitalismus? Die ‚Krisis’ und die Krise. In: Streifzüge 1/1999, 1-5
[4] Helmut Brentel, Soziale Form und ökonomisches Objekt. Studien zum Gegenstands- und Methodenverständnis der Kritik der politischen Ökonomie, Opladen 1989. (zit. nach: Ingo Elbe, a.a.O., 203).
[5] Vgl. MEW 23, 73; EB 1, 585.
[6] Aristoteles, Metaphysik 1029 a2.
[7] Ebd., 1025 a30.
[8] F. E. Schrader, Substanz und Begriff. Zur Spinoza-Rezeption Marxens, Leiden 1985.
[9] Spinoza, Ethik, Leipzig 1975, 23.
[10] Siehe XIV. Lehrsatz: „Außer Gott kann es eine Substanz weder geben, noch kann eine solche begriffen werden.“ (ebd., 38)
[11] I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 224: „Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.“
[12] G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke, Bd. 6, Frankfurt/Main 1969, 195 ff.
[13] In seiner Arbeit hat F. E. Schrader, wie erwähnt, auf Marx’ Spinoza-Rezeption während seiner Arbeit am ‚Kapital“ aufmerksam gemacht. Er zeigt, dass Marx den Begriff der Substanz bewusst zur Bestimmung des Werts gewählt hat. Marx grenzt sich damit von Hegels Kritik an der spinozistischen Substanz ab, die, kurz gesagt, lautet, man müsse von der Substanz zum Subjekt oder Begriff fortgehen. „Genau diese – aus Hegels Sicht – Unzulänglichkeit der Substanz Spinozas ist es aber, welche sie für Marx derart attraktiv macht, dass er sie dem Hegelschen Begriff vorzieht.“ (F.E. Schrader, a.a.O., 7) – Allerdings kann ich Schrader nicht folgen, wenn er im Weiteren die Substanz mit dem Kapital identifiziert, das sich in seinen Metamorphosen gleich bleibt. Denn Marx bestimmt als Substanz nicht das Kapital, sondern die Arbeit. Sie nennt er die „wertbildende Substanz“.
[14] Michael Heinrich hat Recht, wenn er sich gegen die „substanzialistische“ Rede von der Wert-substanz wendet: „Der Arbeiter oder die Arbeiterin habe ein bestimmtes Quantum abstrakter Arbeit verausgabt und dieses Quantum stecke jetzt als Wertsubstanz in der einzelnen Ware und mache das einzelne Ding zu einem Wertgegenstand.“ (47) Ganz so einfach verhalte es sich aber nicht. – Heinrich kritisiert so den monadischen Substanzbegriff in der Tradition Leibniz’; er klärt jedoch nicht, wie von der Wertsubstanz dann zu reden wäre.
[15] Diesen allgemeinen Charakter der gesellschaftlichen Arbeit hat – wie schon I.I. Rubin – Dieter Wolf hervorgehoben: „In jeder Gesellschaftsformation geht es um die Lösung des Problems, die einzelnen Arbeiten als gesellschaftlich-allgemeine zu setzen bzw. um die Herstellung der gesellschaftlich-allgemeinen Form, in der die einzelnen Arbeiten als gesellschaftlich verausgabte zählen.“ (Der dialektische Widerspruch im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen Werttheorie, Hamburg 2002, 50 f.; H.v.m.) Aber Wolf betrachtet diese gesellschaftlich-allgemeine Arbeit offenbar nicht als wertbildend, da der Wert „keine ahistorisch gültige Kategorie“ (47) sei. Er zitiert Marx, der schreibt, dass der ‚Wert’ der Ware „nur eine bestimmte historische Form von etwas [ist], was in allen Gesellschaftsformen existiert“ (MEW 19, 365 f.). Was aber ist dieses „etwas“? Marx stellt klar: es ist der „gesellschaftliche Charakter der Arbeit, sofern sie als Verausgabung ‚gesellschaftlicher’ Arbeitskraft existiert.“ (ebd.) Ob man die Vergegenständlichung dieser Verausgabung „etwas“ oder „Wert“ nennt, ist ein Streit um Worte. Wesentlich ist, worauf Marx zielt, dass dessen Substanz die gesellschaftliche Arbeit ist. Sie bildet etwas – Wert.
[16] Wollte man den Wertbegriff – wie in der „subjektiven Wertlehre“ – beweisen, d.h. aus anderen Prinzipien, wie etwa dem Nutzen, herleiten, so fördern diese „Beweise“ Tautologien zu tage oder sie setzen voraus, was doch erst zu beweisen wäre. Dies habe ich zu zeigen versucht in: Lest Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx! oder: Die Geburt der ‚Neoklassik’ aus dem Geist der Reaktion , in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, Nr. 47, 2008, 23-38.
[17] In dieser Hinsicht unübertroffen ist Adam Smiths naive Darstellung des Eigeninteresses als Triebkraft der Arbeit im 2. Kapitel seines „Wohlstands der Nationen“. Vgl. dazu: A. v. Pechmann, Der „Bruch im System“. Zur Systematik der Wirtschaftstheorie von Adam Smith, In: Zeitschrift für philosophische Forschung 1/2010, 33-61.
[18] Siehe M. Heinrich: „Marx bezeichnet abstrakte Arbeit daher auch als ‚wertbildende Substanz’ oder kurz als ‚Wertsubstanz’.“ (a.a.O., 47)