China-Studien

Gewerkschaften in China

Ein unbrauchbares Arbeitspapier der Friedrich-Ebert-Stiftung zu den chinesischen Gewerkschaften

von Rolf Geffken
September 2013

[1]

Es ist völlig in Ordnung, wenn StudentInnen es bei der Wahl eines Themas für ihre Abschlussarbeit nicht so genau nehmen. Wenn sie nur Sekundärliteratur zitieren, Keine Originalquellen bearbeiten und neuere Forschungsergebnisse, ja sogar Standardliteratur nicht beachten. Es ist auch in Ordnung, wenn sie das Thema verfehlen und wenn ihnen elementare Grundkenntnisse zu wesentlichen Fragestellungen fehlen. Dafür sind sie StudentInnen und ihre Arbeit bedarf der Begleitung durch ihre Professoren, mindestens ihrer Bewertung. Nicht in Ordnung ist es aber, wenn die Aneinanderreihung fehlerhafter „Masterarbeiten“ gleich als Buch mit dem Segen der Professoren erscheint, ohne dass diese sich der Mühe unterzogen hätten, die Arbeiten wenigstens auf grobe Fehler durchzusehen. Erst recht nicht in Ordnung ist es, wenn die in dem Buch versammelten Ergebnisse als „Politikberatung“ bezeichnet werden und dem angeblichen „Partner“ – in diesem Falle der Friedrich-Ebert-Stiftung – unterstellt wird, er erhalte dadurch „einen fundierten Einblick in die genannten Themen“. Wenn das, was eine „Task-Force“ des Duisburger Instituts für Ostasienwissenschaften unter dem Titel „Gewerkschaften, Arbeitsmarktregulierung und Immigration in China“ jetzt vorgelegt hat, „Politikberatung“ sein soll und wenn es stimmt, was im Vorwort die Professoren von der Pütten und Göbel behaupten, dass diese Studie im „Gegensatz zu gewöhnlichen Hausarbeiten“ sogar „eine besonders wichtige Rolle in der China-Arbeit der Stiftung spielen“ würde, dann ist die FES wirklich falsch beraten gewesen, als sie dieses Projekt förderte und ein solches Vorwort zuließ.

Schon in der Übersicht und dann im Vorwort tauchen zwei Begriffe auf, die an keiner Stelle definiert, geschweige denn hinterfragt werden. Zum einen der Begriff „Tarifverhandlungen“, zum anderen der Begriff „chinesische Wanderarbeiter“. Von den Tarifverhandlungen wird behauptet, dass man in einem eigenen Kapitel der Frage nachgehen würde, wie sie „in China funktionieren“. Von den Wanderarbeitern wird behauptet, sie seien in den Streikaktionen 2010 und 2011 „besonders aktiv“ gewesen. Was übersehen wird und was offensichtlich nur durch die Verwechslung hiesiger Verhältnisse mit der besonderen Situation in China möglich wird: Es gibt in China keine „Tarifverhandlungen“. Das, was und wie zwischen Betriebsgewerkschaften und Unternehmen in sogenannten Kollektivverträgen ausgehandelt wird, ist weder inhaltlich noch historisch noch auch nur formal-juristisch mit dem Begriff „Tarifverhandlungen“ gleichzusetzen. Der Begriff ist ohnehin nur in Deutschland üblich und bezeichnet einen Vorgang, der in China in dieser Form überhaupt nicht anzutreffen ist. Formaljuristisch wären diese „Verhandlungen“ allenfalls mit hiesigen Betriebsvereinbarungen vergleichbar. Beim Begriff „Wanderarbeiter“ haben die Autoren durchgehend übersehen, dass es eine riesige Kluft zwischen der sogenannten ersten Generation der chinesischen Wanderarbeiter und der zweiten Generation gibt, mithin also auch keinen einheitlichen Begriff. Während die erste Generation sich jahrelang mit ihrer Diskriminierung abfand, war die zweite Generation (und dies nach Aufhebung ihrer strukturellen Diskriminierung!) bereit, aktiv für ihre Interessen einzu­treten und wurde zum Motor der Streikwelle 2010/2011. Wer diese Differenzierung nicht erkennt, kann die gegenwärtige Situation der chinesischen Gewerkschaften schon im Ansatz nicht verstehen und einschätzen.

Bei der Frage, welche Rolle chinesische Gewerkschaften spielen können, heißt es gleich eingangs: „Seit der offiziellen Gründung im Jahre 1925 wurde der chinesische Gewerkschaftsbund als ein Instrument der Politik der jeweiligen Staatsführung gebraucht. So wurde er während der Kuomintang-Herrschaft massiv unterdrückt...“. Ja, was nun? Wie konnte er von der Kuomintang „unter­drückt“ werden, wenn er gleichzeitig als Instrument „der Politik der jeweiligen Staatsführung“ gebraucht wurde? Immerhin gab und gibt es etwa in Taiwan eine der Kuomintang nahe stehende Gewerkschaftsdachorganisation, die auch zeitweise als Herrschaftsinstrument genutzt wurde. Doch von dieser Gewerkschaft ist nicht die Rede, sondern vom Allgemeinen Chinesischen Gewerkschaftsbund. Im Weiteren wird die Rolle des Gewerkschaftsbundes als „ambivalent“ bezeichnet. Verstanden wird darunter, dass der Dachverband einerseits Arbeiter vertreten solle, aber andererseits als „verlängerter Arm der KP“ fungiere. Er vertrete also nur die Interessen der Partei und nicht der Arbeitnehmer. Doch wird dabei völlig übersehen, dass es weltweit zahlreiche Gewerkschaften und auch Gewerkschaftsdachverbände gibt, die kommunistischen Parteien nahe stehen und dennoch aktiv für die Interessen ihrer Mitglieder eintreten (so z.B. in Indien, in Griechenland und zu früheren Zeiten etwa die CGT in Frankreich oder der CGIL in Italien). Hinzu kommt, dass es das erklärte Ziel der KPC ist, die Arbeiter zu einer offensiveren Nutzung ihrer Rechte zu verhelfen. Nicht anders ist die Kampagne 2006-2008 für die Nutzung der Rechte nach dem neuen Arbeitsvertragsgesetz zu deuten. Das aber war keine Parteinahme der KP für die Unternehmen sondern im Gegenteil für die Arbeiterschaft. Die Nähe zur KP sagt also über die Frage der „Unternehmensnähe“ der Gewerkschaft zunächst nichts aus.

Es wird zwar ausgeführt, dass die Betriebsvertreter nicht von den Mitgliedern gewählt, sondern vom Management oder von der KP nominiert würden. Doch das zentrale Problem, dass die Gewerkschaften strukturell und tatsächlich den Unternehmen nahe stehen, ja sogar von ihnen finanziert werden, und dass die Leitung der Betriebsgewerkschaften fast immer durch Mitglieder der Unternehmensleitung selbst erfolgt, wird nicht benannt. Das Problem ist also nicht, dass es „rote“ Gewerkschaften wären, mit denen man es in China zu tun hat, sondern eher „gelbe“ Gewerkschaften in unserem Begriffsverständnis. Dieser Umstand war in China auch nie ein Geheimnis, ins­besondere nicht unter den Beschäftigten. Und er war und ist auch der einzige Grund dafür, dass die chinesischen Gewerkschaften in der chinesischen Arbeiterschaft nur über einen geringen Grad der Anerkennung verfügen. Hierzu gibt es umfangreiche Untersuchungen in China selbst. Auch die Partei und Staatsführung weiß dies und betrachtet es als Problem. Es ist also Unsinn, wenn – ohne jede Quellenangabe – von dem „Großteil“ der chinesischen Arbeiter behauptet wird, er habe ein „lediglich geringes Bewusstsein für gewerkschaftliche Interessenvertretung“ und dies sei der Grund dafür, dass er „seine Rechte nur in Ausnahmefällen einfordert“. Offensichtlich haben die Autoren und die Herausgeber nicht eine einzige der zahlreichen chinesischen Statistiken für die Wahrnehmung von Arbeitsrechten durch chinesische Arbeiter zur Kenntnis genommen. Nachdem spätestens innerhalb der letzten zehn Jahre kontinuierlich die Fallzahlen bei allen Schiedskommissionen der Arbeitsverwaltungen zugenommen hatten, kam es vor allem nach dem Inkrafttreten des Arbeitsvertragsgesetzes zu einem explosionsartigen Anstieg von Eingaben, Klagen und Petitionen.

Doch auch hier erkennen die Autoren überhaupt nicht den Zusammenhang zwischen einer Verbesserung der rechtlichen Situation der Arbeiter und ihrem Konfliktbewusstsein. Mit den Änderungen des Arbeitsvertragsrechts habe die KP nur auf die steigende Anzahl von Arbeitskonflikten reagiert und verfolge gleichzeitig damit ihr Leitbild einer harmonischen Gesellschaft. Doch genau das ist eine vollkommen falsche Analyse. Das Arbeitsvertragsgesetz wurde nicht – wie etwa in Deutschland üblich – einfach nur „verabschiedet“. Es ging vielmehr diesem Gesetz eine umfangreiche öffentliche Diskussion und Debatte voraus, an der sich Millionen von chinesischen Arbeitern unmittelbar beteiligten. Gleichzeitig war das Gesetz begleitet von einer öffentlichen Kampagne der Regierung mit dem Ziel einer besseren und mutigeren Wahrnehmung von Rechten durch die einzelnen Arbeiter.[2] Die Kampagne zum Arbeitsvertragsgesetz, aber auch das Gesetz selbst haben zu einer massiven Aktivierung der chinesischen Arbeiter beigetragen. Das gilt sogar für die kollektive Wahrnehmung von Rechten. Bekanntlich haben nämlich Gesetze nicht nur „juristische Bedeutung“. Sie haben – vor allem wenn sie begleitet sind von massiver Aufklärung – auch eine ideologische Funktion. Dass die Regierung selbst zur Aktivierung aufforderte, hatte und hat natürlich eine massive Bedeutung für die Bereitschaft der einzelnen Beschäftigten, ihre Rechte wahrzunehmen. Dies wäre in Deutschland auch so, wenn hiesige Regierungen Arbeitsgesetze entsprechend propagieren würden. Die Behauptung, dass die chinesischen Arbeiter ihre „Rechte nur in Ausnahmefällen einfordern“ würden, ist also nicht nur falsch. Eine solche These muss auch jede Analyse (und sei sie noch so verkürzt) zu diesem Thema in die Irre führen.

Solche Schlussfolgerungen sind allerdings auch nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass allein zu dem Kapitel über Gewerkschaften vorwiegend zwei japanische Professoren aus den USA und praktisch keine relevanten aktuellen chinesischen Autoren zitiert werden. Auch im Kapitel über die angeblichen Auswirkungen „informeller Streiks“ werden Bedeutung und Funktion der Propagierung von Arbeitsrechten nicht erkannt: Umgekehrt wird behauptet, dass der Anstieg von Arbeitskonflikten „auf einen zunehmenden Reformbedarf der Regulierung der arbeitsrechtlichen Gesetzeslage“ hindeute. Abgesehen davon, dass man allenfalls Arbeitsbeziehungen regulieren kann, aber nicht Gesetze, werden hier Ursache und Wirkung vollständig übersehen: Es war die vor allem von der zweiten Generation der Wanderarbeiter aufgegriffene Propagierung von Rechten im Arbeitsvertragsgesetz, die die Bereitschaft zum Streik (und nur auf diese kommt es an) massiv erhöhte.

Auch grundlegende Kenntnisse der jüngeren chinesischen Geschichte scheinen den Autoren zu fehlen. So wird behauptet, dass seit dem Jahr 2000 „umfangreiche[n] Privatisierungen“ stattgefunden hätten und dass es hierbei zu Arbeitskämpfen gekommen wäre. In einem Seminar über China an einem Institut für Ostasienwissenschaften müsste eigentlich bekannt sein, dass die Privatisierungen unmittelbar mit Beginn der Politik der so genannten Öffnung einsetzten und im Jahre 2000 bereits abgeschlossen waren.

In diesem Kapitel wird auch von einem „landesweiten Mindestlohn“ gesprochen, der „auf unabsehbare Zeit eingefroren“ worden sei. Tatsächlich gibt es keinen landesweiten Mindestlohn. Vielmehr wurden und werden die Mindestlöhne von den Provinzen und Regionen unterschiedlich festgesetzt. Schon deshalb konnte es kein „Einfrieren“ geben. Gerade zur Zeit der Streiks von 2007 und 2008 war es zu massiven Erhöhungen des Mindestlohns und dennoch nachfolgend zu Streikaktionen gekommen.

Unter der Überschrift „Gesetzeslage“ wird behauptet, dass die chinesischen Arbeitsbeziehungen nur über „einen geringen Grad der Regulation“ verfügen. Aber offenbar sind noch nicht einmal die hiesigen Verhältnisse den Autoren bekannt: In China gibt es (s.o.) immerhin einen gesetzlichen Mindestlohn. In Deutschland nicht. In China gibt es ein Gewerkschaftsgesetz, in Deutschland nicht. In China ist der Arbeitgeber beim Ausspruch einer Kündigung gesetzlich zur Zahlung einer Abfindung verpflichtet, in Deutschland nicht. In China wird die Nichtabfassung eines schriftlichen Arbeitsvertrages mit erheblichen Sanktionen belegt, in Deutschland nicht. In China verteuern sich Überstunden vor allem an gesetzlichen Feiertagen extrem, in Deutschland nicht. Diese Beispiele mögen genügen, um die Haltlosigkeit solcher Aussagen zu belegen. Durch einen Blick in das Gesetz hätten dies auch die Autoren erkennen können. Wenn sie der Auffassung gewesen wären, dass zwischen Gesetz und Arbeitswirklichkeit ein Unterschied besteht, so hätten sie dem nachgehen können.. Schließlich: In Bezug auf die Streikwelle von 2010 wird von „selbständig organisierten“ so genannten Fabrikräten gesprochen. Wo, wann und mit welchen Konsequenzen wurden solche „Räte“ gebildet? Sie sollen nach Aussage der Autoren sogar von den Gewerkschaften „unabhängig“ sein. Diese Behauptung ist ein reines Phantasieprodukt. Abwegig ist schließlich die Skizzierung der Rolle des so genannten Drei-Parteien-Beratungskomitees. Dieses Komitee, das auch nach Einschätzung von chinesischen Experten lediglich beratende Funktion und keinerlei praktische Bedeutung hat, wird plötzlich als „Prototyp eines Tarifberatungssystems“ bezeichnet. Man fragt sich: Was ist ein Tarifberatungssystem? Nachdem bereits der deutsche Begriff Tarifverhandlungen auf das chinesische System übertragen worden ist , wird nun ein Begriff entdeckt, den es weder in Deutschland noch in China gibt. Erst recht wird er nicht definiert. Wer berät über welche Tarife wen?

Das Hauptproblem der gesamten Veröffentlichung besteht darin, dass die StudentInnen ihre Arbeit ohne jede Kenntnis grundlegender Ursachen von Streiks und Arbeitskonflikten geschrieben haben. Der Besuch einer deutschen Gewerkschaft oder eines deutschen Betriebsrates hätte vielleicht Wunder gewirkt. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, dass offenbar in Auswertung eines eigenen Soziologieseminars unterstellt wird, die chinesischen Arbeiter hätten eine Strategie „begrenzter Regelverletzungen“ entdeckt. Jedenfalls wird behauptet, geringe Regelverletzungen führten „zu Veränderungen auf institutioneller Ebene“. An anderer Stelle wird von „begrenzten Regelverstößen“ gesprochen oder von einem „zivilen Ungehorsam ... mit begrenzter Regelverletzung“. Ist es so schwer zu begreifen, dass Arbeiter aller Länder kein Interesse an irgend­einer Art von „Regelverletzung“ haben? Sie haben allerdings ein Interesse an der Durchsetzung ihrer Interessen. Wenn es zur Durchsetzung dieser Interessen erforderlich ist, legen sie die Arbeit nieder. So geschah und geschieht dieses auch in China. Allerdings – und das ist das besondere – geschah dies vor allem auch vor dem Hintergrund der Gewährung zahlreicher zusätzlicher Rechte im Arbeitsvertragsgesetz. Die These von der „begrenzten Regelverletzung“ belegt die formale und völlig praxisferne Herangehensweise der Autoren.

Nicht ein einziges der Papiere ist für irgendeine Art von „Politikberatung“ geeignet. Es ist bekannt, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung Gewerkschaften in China berät und zwar vor allem in der oberen Hierarchie. Das mag man kritisieren oder für richtig halten. Das die Friedrich-Ebert-Stiftung sich hier um Kontakte bemüht und diese ausbaut, ist als solches zu begrüßen. Doch es ist zu hoffen, dass entgegen dem Vorwort diese Arbeitspapiere keine wichtige Rolle in der China-Arbeit der Stiftung „spielen“. Weder der Friedrich-Ebert-Stiftung noch den chinesischen Arbeitern wäre damit gedient.

[1] Jann Christoph von der Pütten/Christian Göbel (Hrsg.), Task-force: Gewerkschaften, Arbeitsmarktregulierung und Immigration in China, Duisburger Arbeitspapiere Ostasienwissenschaften Nr. 91, Universität Duisburg-Essen, Februar 2013, 62 S.

[2] Vgl. R. Geffken, Streik & Harmonie, in; Z 89, März 2012, S. 112-116.

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