Geht es in MEGA II/4.3 um den tendenziellen Fall der Profitrate?
Bemerkungen zu Georg Fülberth, Z 94, S. 195-199
Carl-Erich Vollgraf behauptet im Kommentar zu Band II/4.3 der MEGA2, dass Marx der Nachweis des tendenziellen Falls der Profitrate in den in diesem Band der MEGAveröffentlichten Profitraten-Texten nicht gelingt. Georg Fülberth schreibt in seiner Rezension dazu: „Dies trifft zu und ist aus zwei Gründen nicht erstaunlich: Erstens hatte Engels bei der Erstellung des dritten Bandes von 1894 freie Auswahl zwischen den ihm vorliegenden Manuskripten zu diesem Thema, und er nahm dann die Darlegungen, die ihm am geeignetsten erschienen, das angesprochene Problem aber ebenso wenig endgültig behandelten wie das, was er zunächst nicht veröffentlichte und was jetzt endlich zugänglich ist. Zweitens ging es Marx erst einmal darum, sein ‚Gesetz’ des tendenziellen Falls der Profitrate als Konsequenz des vorangehend Entwickelten aufzustellen und zu begründen, nicht aber zu ‚beweisen‘.“ (198 f.)
Kann man das so formulieren? Was ist der Unterschied zwischen der „Begründung“ eines Gesetzes und dem „Beweis“ eines Gesetzes? „Beweisen“ im Sinne von belegen oder bestätigen kann man die Höhe und die Veränderung einer Zahl. Die Zahl zeigt, dass etwas steigt oder fällt. Sie kann aber niemals beweisen, dass das, was steigt oder fällt, ein Gesetz, ein notwendiger Zusammenhang, ist. Dazu bedarf es der theoretisch-logischen Analyse. Nur sie ermöglicht es, einen Zusammenhang zu begründen, ihn kausal zu beweisen, oder zu widerlegen. Damit wird die Bedeutung empirischer Analysen nicht herabgesetzt, sondern diesen der ihnen gebührende Platz zugewiesen.
Die theoretisch-logische Begründung bzw. den kausalen Beweis für das Gesetz hatte Marx vorher abgeschlossen. In den „Grundrissen“ (1857/58) bezeichnet er den Fall der Profitrate als das „in jeder Beziehung wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie“ (Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974: 634). Im Manuskript 1861-1863 schrieb er, das Gesetz enthülle „die Entwicklungstendenz des Verwertungsgrades eines durch die industriellen Kapitale konstituierenden Gesamtkapitals“ (MEGA II/4.2: 916).
In der Rohfassung des dritten Buches, geschrieben zwischen Sommer 1864 und Dezember 1865, begründet Marx im dritten Kapitel auf 55 Seiten diesen Standpunkt (MEGA II/4.2 Berlin 1992, S. 285-340). Er stellt dort das Gesetz als solches dar, benennt die entgegenwirkenden Faktoren, auf die er auch im Manuskript 1861-1863 eingegangen war und ergänzt diese beiden Punkte, indem er, wie bereits in den „Grundrissen“, die inneren Widersprüche erläutert, die sich im Gesetz zeigen. Marx hat in der Urfassung des dritten Buches früher geäußerte Gedanken zum Fall der Profitrate wiederholt und vertieft, aber mit keiner Silbe relativiert oder gar angezweifelt. Engels konnte sich also auf eine endgültige Darstellung des Problems stützen. Auch in den jetzt veröffentlichten und noch später entstandenen Texten gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass Marx in dieser Frage noch unsicher gewesen sein könnte.
Vollgrafs Urteil, dass die jetzt gedruckten Texte des MEGA-Bandes II/4.3 keinen Nachweis des tendenziellen Falls der allgemeinen Durchschnittsprofitrate enthalten, ist dennoch richtig. Dieser Befund ist aber aus einem ganz anderen Grund keineswegs überraschend: In den jetzt erstmals gedruckten Texten geht es Marx gar nicht darum, das Gesetz des tendenziellen Falls der Durchschnittsprofitrate „aufzustellen und zu begründen“. Man kann das auch daran erkennen, dass im gesamten Text (1.065 Seiten!) der Ausdruck „tendenzieller Fall der Profitrate“ nur einmal vorkommt. Im Nachtrag findet sich eine kurze Notiz zum historischen Fall der Profitrate in England (II/4.3: 399). Ebenso wenig kann man einem Marathonläufer, der sich nicht unter den Startern befand, vorwerfen, das Ziel nicht erreicht zu haben. Gelingen und misslingen kann nur, was man anstrebt.
Marx befasst sich in den im Band II/4.3 gedruckten Skizzen mit rein formallogischen Beziehungen zwischen c, v und m. Er berücksichtigt dabei auch den Kapitalumschlag, d.h. er unterscheidet zwischen dem Kostpreis c+v und dem Kapitalvorschuss c+v. Diese formalen Zusammenhänge haben ihn bis in die letzten Jahre seines Schaffens – zuletzt vermutlich in den Jahren 1875, 1881 oder 1882 – umgetrieben, ohne dass es ihm gelang, Einsichten zu erzielen, die er nicht schon früher gewonnen hatte. Er formuliert allgemeine Gesetze der Profitrate, die mit dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate so viel zu tun haben, wie die Konstruktion eines Backofens mit dem Backen von Brot:
1) Die Profitrate ist stets kleiner als die Rate des Mehrwerts (II/4.3: 104ff).
2) Dieselbe Mehrwertrate kann sich in verschiednen Profitraten ausdrücken, ... auch umgekehrt: verschiedne Profitraten können dieselbe Rate des Mehrwerts ausdrücken (II/4.3: 107 ff).
3) Verschiedne Raten des Mehrwerts können sich in derselben Profitrate ausdrücken, daher auch dieselbe Profitrate in verschiednen Raten des Mehrwerts (II/4.3: 117 ff.).
4) Die Profitrate kann fallen, wenn die Rate des Mehrwerts steigt und steigen, wenn die Rate des Mehrwerts fällt (II/4.3: 134 ff.).
Selbstverständlich kann man Konstellationen konstruieren, die sich in einem Anstieg der Profitrate, des Verhältnisses m/(c+v), äußern. Marx erwähnt, dass die Profitrate steigen muss, wenn die Mehrwertrate steigt und der Anteil des variablen am Gesamtkapitals konstant ist oder auch zunimmt (vgl. II/14: 1-128) und dass sie fallen muss, wenn umgekehrt die Mehrwertrate bei konstantem Anteil des variablen am Gesamtkapital sinkt oder weniger stark ansteigt als der Anteil des variablen Kapitals am Gesamtkapitals zurückgeht. Diese formalen, mathematischen Zusammenhänge haben mit der Begründung oder Ablehnung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate nichts zu tun.
Sie sind allenfalls eine theoretische Voraussetzung dafür, um zu prüfen, ob ein solches Gesetz begründet werden kann. In den jetzt veröffentlichten Texten in MEGA II/4.3 befasst sich Marx nicht mit der Frage, wie sich in der Realität die Beziehungen zwischen c, v und m, also auch zwischen Kapitalzusammensetzungen, Mehrwertraten und Profitraten, entwickeln. Die wirkliche Entwicklungstendenz der Profitrate ist hier eindeutig nicht Gegenstand seiner Untersuchung. Deshalb kann er auch nicht daran scheitern, ihren Fall nachzuweisen.
Klaus Müller
„Deutsches“ Kapital? Gibt es das (noch)? Ist das eine
wichtige Frage?
Fortsetzung der Debatte aus Z 94, Juni 2013, S. 170-178*
Für manche kritischen Zeitgenossen gehört der Begriff „deutsches Kapital“ wesentlich dazu, wenn der gegenwärtige Kapitalismus charakterisiert werden soll. Ein wichtiger Kontext für die Verwendung des Begriffs ist gegenwärtig die Europäische Union. In der Bundesrepublik wie in anderen EU-Staaten wird kritisch gesagt, das „deutsche“ Kapital beherrsche die Europäische Union und die europäische Politik. Die reale Kernfrage lautet demnach: Wie ist das wesentliche Kapital an Unternehmen und Banken in der Bundesrepublik Deutschland zusammengesetzt? Wie herrscht es am politischen Standort Deutschland? Welche Folgen hat das für die Verhältnisse in Deutschland selbst und in der EU? Und wie ist die Stellung und Interaktion der Kapitalismus-Standorte namens Deutschland und EU im gesamten kapitalistischen System?
Deutschland: Nur geheimdienstlich drittklassig?
In einer ersten Annäherung können wir anhand von (wieder einmal) bekannt gewordenen Spionagetätigkeiten der USA, dann auch Frankreichs und Großbritanniens, feststellen: Die Bundesrepublik Deutschland ist geheimdienstlich und militärisch als Staat lediglich drittklassig: Die erste Klasse in der kapitalistischen Wertegemeinschaft bilden die USA, die zweite Klasse bilden der geheimdienstlich und militärisch wichtigste Freund bzw. Vasall Großbritannien (mit den Anhängseln Australien und Neuseeland) und dann Frankreich. In der dritten Klasse steht neben Italien, Spanien usw. die Bundesrepublik, die unter den EU-Staaten am intensivsten von den Atommächten USA, Großbritannien und Frankreich ausgespäht wird.
Die westalliierte Ausspähung und militärische Einbindung besteht seit Beginn des Staates Bundesrepublik: Gründung des Bundesnachrichtendienstes BND unmittelbar durch USA/CIA, Einbindung in die NATO, Ausforschung und teilweise Vernichtung des Briefverkehrs mit der DDR und anderen Ostblockstaaten, und zwar in Gemeinsamkeit von westalliierten und BRD-Stellen. Die westalliierten Vorrechte in militärischer und geheimdienstlicher Hinsicht sind auch nach dem 2 4 Vertrag aus Anlass der deutschen Wiedervereinigung 1990 nicht aufgehoben worden. Das wurde und wird von den jeweiligen Bundesregierungen von Adenauer über Brandt und Kohl bis Merkel lügnerisch geheim gehalten und verharmlost. Das im Grundgesetz Artikel 10 verankerte und als zentrales Freiheitsrecht gepriesene Brief- und Fernmeldegeheimnis hat nie bestanden[1] und besteht auch heute im Zeitalter des vom US-Verteidigungsministerium in Gang gesetzten Internets nicht. Trotzdem besteht die Illusion der Souveränität, und diese Illusion wurde und wird von Regierenden und den Propagandisten des Warmduscher- und Wohlfühlkapitalismus geschürt.
Warum aber soll die Souveränität der Bundesrepublik nur in dieser Hinsicht wesentlich eingeschränkt sein und nicht auch in anderer Hinsicht, beispielsweise hinsichtlich des Kapitals, das man „deutsch“ nennen kann oder konnte?
Nach 1945: USA retten den deutschen Kapitalismus
Die BRD wurde als westlicher antikommunistischer Vasallenstaat konstituiert. Das bedeutete zugleich, dass die anfänglichen Anklagen gegen Verantwortliche der Banken (Deutsche Bank, Dresdner Bank, Bank J.H. Stein…) und Konzerne wegen ihrer NS-Mittäterschaft fallengelassen und nur in wenigen, besonders bekannten Fällen (Krupp, Flick) zu kurzzeitig-symbolischen Strafen führten, aber der vollständige Konzernbesitz – einschließlich des arisierten – zurückgegeben wurde. Die USA brauchten das antikommunistische Potential Deutschlands, das sich in Westdeutschland konzentrierte.
Der Marshall-Plan war auch in Deutschland mit der Bedingung verbunden, dass Kommunisten und solche, die man dafür hielt, aus gewerkschaftlichen und staatlichen Funktionen entfernt wurden. Das Grundgesetz musste erst von den Westalliierten genehmigt und von Geheimabkommen (Truppenstatut, Geheimdienste) begleitet werden. Danach ließen die Westalliierten alle Entflechtungspläne für NS-tätige Konzerne und Banken fallen, die Kapitalverhältnisse aus Kriegs- und Vorkriegszeiten wurden wieder hergestellt. Der Marshall-Plan selbst hatte ein geringes Volumen, schuf aber die institutionellen Voraussetzungen dafür, dass die viel umfangreicheren US-Investitionen in der BRD erweitert und gesichert wurden.[2]
So retteten die Westalliierten, unter Führung der USA, den deutschen Kapitalismus, und zwar unter der Bedingung seiner weitgehenden politischen, sicherheitspolitischen und militärischen Entmachtung. Die BRD blieb besetzt, die Bundeswehr wurde installiert, aber nicht die Atombombe. US-Kapital konnte die in der Weimarer Republik begonnenen Investitionen weiter vorantreiben. Die Funktion der antikommunistischen Speerspitze führten der in Westdeutschland geschützte Kapitalismus und seine medialen, staatlichen und kirchlichen NS-Mittäter nur allzu gern fort, nun allerdings nicht als illusionäre Weltmacht, sondern als Vasall.
Eine wesentliche Rolle beim Aufbau der BRD spielten US-Banken. David Rockefeller von der Chase Manhattan Bank schrieb in seinen 2008 auf deutsch erschienenen Memoiren unverblümt: „In enger Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte Jack den Vorsitz bei der Gründung Westdeutschlands, seiner Wiederbewaffnung und seinem Anschluss an die Alliierten inne.“[3] Jack – das war Adenauers verehrter Großer Bruder John McCloy: Der Wall Street-Banker wurde 1947 Präsident der unter Führung der USA gegründeten Weltbank, bevor er zum Hohen Kommissar dessen wurde, was Rockefeller noch 2008 als „Westdeutschland“ bezeichnete. Nachdem McCloy mit Adenauer also Westdeutschland gegründet hatte, ging er 1953 an die Wall Street zurück und wurde Präsident der Chase Manhattan Bank, die weiter in der Bundesrepublik zu deren Schaden mitmischte. Beispielsweise war sie die US-Korrespondenzbank der Kölner Privatbank Herstatt (Gerling) und gab ihr die Kredite für deren Devisenspekulation. Herstatt ging 1974 pleite, schädigte viele Kunden, darunter auch die Stadt Köln, und löste damit kurzzeitig eine internationale Finanzkrise aus.
Die USA retteten also den deutschen Kapitalismus nach dem NS: militärisch (NATO), institutionell und politisch (Währungsreform/Einführung der DM, Marshall-Plan, Ausschaltung der Kommunisten und Linkssozialisten), geheimdienstlich (BND), personell (NS-Personal in USA und BRD übernommen) sowie durch Erlass von Vorkriegs- und Kriegsschulden, Zinsstundung, Entpflichtung von Reparationen für Kriegsschäden (Londoner Schuldenabkommen). Nur so war das „Wirtschaftswunder“ der deutschen Nachkriegszeit möglich. Kein anderer europäischer Staat – außer dem kleinen Luxemburg – hatte nach dem 2. Weltkrieg diese durch die USA organisierten Startvorteile.
Die Unterwürfigkeit in allen wichtigen außen- und finanzpolitischen Fragen dauert bis heute. Ein unterworfener und begeistert unterwürfiger Freund ist willfähriger und erpressbarer als andere Freunde, z.B. die aus der zweiten Klasse.
Ein bisschen mehr Souveränität mit den SPD-Regierungen?
Auch mit wachsender Bedeutung der BRD in Europa wurde die „besonders enge Freundschaft“ fortgeführt. Die SPD-Regierung unter Willy Brandt verband den „Wandel durch Annäherung“ hinsichtlich der DDR mit den Berufsverboten für Kommunisten und ähnliche Linke. Die Geheimverträge mit den Westalliierten wurden erneuert und weiter geheim gehalten. Die CDU-Regierung unter Bundeskanzler Kohl beauftragte US-Investmentbanken und US-Unternehmensberater bei der Privatisierung der zentralstaatlichen BRD-Unternehmen Post und Bahn und der Privatisierung der Ex-DDR-Betriebe durch die Treuhand-Anstalt.[4]
Nach der Bundestagswahl 1998 und der Bildung der SPD/Grünen Regierung warnte die englische Massenpresse vor Finanzminister Oskar Lafontaine als „dem gefährlichsten Mann Europas“. Die angloamerikanische Wirtschaftspresse polemisierte gegen „Germany – the sick man of Europe“ – Deutschland, der kranke Mann Europas. Hewlett Packard etwa drohte mit geringeren Investitionen in Deutschland, wenn der Arbeitsmarkt nicht dereguliert werde. Merrill Lynch kritisierte den Kündigungsschutz und die zu hohen Lohnnebenkosten. Goldman Sachs kritisierte den allzu großzügigen Wohlfahrtsstaat und forderte die radikale Reform der Sozialsysteme, dazu die dezentrale Lohnfindung, Rentenkürzungen und weitere Privatisierungen. Zudem wurde betont, die ökonomisch zentrale, aber wachstumsschwache Bundesrepublik gefährde den Euro, wenn sie ohne „Reformen“ so weitermache. Die EU sei dann für US-Investitionen und als Absatzmarkt für US-Produkte nicht mehr so attraktiv.[5] Die US-Handelskammer in Deutschland und die Ratingagentur Standard & Poor’s setzten nach und forderten die weitere Deregulierung des Arbeitsmarkts.[6]
Die SPD/Grüne Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder übernahm diese ganz freundschaftlich präsentierte Agenda 2010 (Entflechtung der Deutschland AG, Steuersenkungen für Unternehmen, Hartz-Gesetze, Eigenbeteiligungen der Versicherten in den Sozialsystemen). In den Jahren 1999 bis 2003 stand Schröder – öffentlich so gut wie unbemerkt – über seinen Freund Sandy Weill, Chef der Citigroup, im engen Kontakt mit der Wall Street. Die Verbindung hatte Fred Irwin, Präsident der American Chamber of Commerce in Germany, hergestellt. Am Ende eines Treffens mit Wall Street-Bankern fasste der damalige Chef von Goldman Sachs, John Thain, das Ergebnis so zusammen: „Die US-Unternehmensführer halten es für äußerst wichtig, dass Deutschland die geplanten Reformen anpackt.“[7]
Nachdem Schröder den so zugerichteten Standort Deutschland an seine Nachfolgerin Angela Merkel übergab, sei nur soviel angemerkt: Steinbrück (SPD) setzte als Finanzminister in der Großen Koalition weiter auf US-Dauerberater wie die Wirtschaftskanzlei Freshfields und propagierte, wie schon in seiner Zeit als Finanzminister und Ministerpräsident in NRW, die neuen Wall Street-Praktiken wie Cross Border Leasing, Public Private Partnership und Kreditverkauf. Seit der „Finanzkrise“ 2008 steht die von Angela Merkel (CDU) geführte Bundesregierung unter besonderer „freundschaftlicher Beratung“ durch den Hauptberater Goldman Sachs; Barclays, Deutsche Bank, Commerzbank und United Bank of Switzerland/ UBS haben im Bundeskanzleramt und in den Ministerien wesentlich weniger zu sagen.[8]
Zusammengefasst: Das in der BRD konzentrierte, nach 1945 noch mehrheitlich deutsche Kapital wurde durch die USA politisch, militärisch, geheimdienstlich und medial abgesichert. Das hatte seinen bis heute zu bezahlenden Preis, verharmloste aber umso wirksamer Unterwerfung, durchsetzt von gelegentlichen, erfolglosen Versuchen der Unterworfenen, sich zumindest auf militärpolitischem Gebiet als Partner oder als unabhängig zu präsentieren (Strauß‘ Forderung nach der Atombombe, Schröders Kritik am Irak-Krieg). Spätestens zu Beginn der 1990er Jahre und mit dem Ausverkauf der DDR begann – nach der ersten Welle, die vom Marshall-Plan eingeleitet wurde – die zweite Welle von US-Investitionen in Deutschland. Sie hat die Kapitalverhältnisse schon jetzt wesentlich verändert.
Genauso wie globale Investoren unter Führung der USA 1999 ihre „Reform“-Forderungen stellten, so wollen die USA jetzt 2013 die von ihnen selbst mitverursachte Wachstumsschwäche der Eurozone nutzen, um mit dem geforderten Freihandels- und Investmentabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership) weitere „Reformen“ zugunsten ihrer eigenen und befreundeten Investoren durchzusetzen. Die Subordination wird nun zeitgemäß softig als „Partnerschaft“ bezeichnet.
Entflechtung der Deutschland AG
Zur Agenda 2010 gehörte, wie oben erwähnt, die „Entflechtung der Deutschland AG“. Schon in den 90er Jahren hatten angloamerikanische Investoren verstärkt Unternehmen in Deutschland aufgekauft und Niederlassungen gegründet. Dabei stießen z.B. die ersten Private Equity-Investoren („Heuschrecken“) auf ungebührliche Hindernisse. Vodafon musste dreistellige Millionenbeträge an Schmiergeldern bezahlen, um Mannesmann übernehmen zu können. Auch die Arbeitskosten waren für die Investoren im Vergleich zu den USA und Großbritannien zu hoch, die Stellung von Betriebsräten und Gewerkschaften zu stark, Arbeits- und Sozialrechte galten als Investitionshemmnis.
Schröder beauftragte Hilmar Kopper, den Aufsichtsratschef der vor allem in London und New York tätigen Deutschen Bank, Investoren nach Deutschland zu locken. Schon Kohl hatte Kopper mit dieser Aufgabe betraut. Aber erst die Schröder-Regierung schuf die für die neuen Investoren günstigeren Bedingungen, etwa die Legalisierung von Hedgefonds und die steuerliche Freistellung von Unternehmens(teil)verkäufen. Nicht nur der Verkauf von zum Teil sehr großen Unternehmensanteilen der Deutschen und der Dresdner Bank, der Commerzbank, der Allianz, der Münchner Rück an Hedgefonds und andere Fonds wurde von SPD/Grün steuerlich freigestellt, sondern auch der (Teil)Verkauf von Mittelstandsfirmen an Private Equity Fonds.
Mitte der 90er Jahre gehörten lediglich 20 Prozent aller Aktien der führenden deutschen Konzerne (die 30 DAX-Unternehmen) ausländischen, insbesondere angloamerikanischen Investoren. Der Anteil stieg kontinuierlich an: auf 33 Prozent im Jahre 2001, auf 44 Prozent in 2005, auf 53 Prozent in 2007 und auf 58 Prozent in 2012. Acht Prozent der Aktien können national nicht zugeordnet werden, sodass nur noch 34 Prozent mit Sicherheit deutschen Eigentümern zugeordnet werden können.[9] Natürlich haben die genannten Investoren auch Anteile an Unternehmen, die nicht im DAX gelistet sind.
Hinzu kommen die tausende von nicht börsennotierten, aber lukrativen Mittelstandsunternehmen, in die sich Private Equity-Investoren eingekauft haben.[10] Jetzt nutzen sie die „Eurokrise“ als neue Gelegenheit.[11] Das merkt die Öffentlichkeit kaum, denn die aufgekauften Unternehmen behalten ihren Namen, z.B. wenn der dem allgemeinen Publikum unbekannte Großinvestor Advent jetzt 97 Prozent des Parfümerie-, Schmuck-, Buch-, Mode- und Süßigkeiten-Konzerns Douglas und Celgene den deutschen Biotech-Star Mophosys aufkauft.[12]
Wenn von angloamerikanischen Investoren die Rede ist, so kommt das Kapital vor allem vom Standort USA, ein Teil über den Standort Großbritannien. Die Unklarheit hat u.a. damit zu tun, dass viele Hedgefonds, Private Equity Fonds und Investmentbanken aus den USA vom Finanzplatz London aus operieren, der noch exzessiver dereguliert ist als der Standort New York. Operative Standorte der geringer vertretenen Investoren sind daneben die Schweiz, Frankreich, Hongkong, China, Saudi-Arabien, Katar, Dubai, Abu Dhabi und die skandinavischen Staaten und andere.
Die Unklarheit über die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse wird durch verschiedene Faktoren verschärft. In der Regel haben die großen Aktionäre ihre Anteile auf mehrere Fonds und Tochterfonds verteilt, die aufgrund ihres Namens nicht unbedingt als zugehörig zum Investor erkennbar sind.
Des weiteren haben diese Fonds in aller Regel ihren juristischen Standort nicht an einem der operativen Standorte der Investoren, sondern in einer der heute zum Wirtschaftssystem gehörigen Finanzoasen zwischen dem US-Bundesstaat Delaware, den Cayman Islands in der Karibik, dem EU-Musterland Luxemburg und der von der Londoner City aus beherrschten Kanalinsel Jersey. Hinzu kommt, dass diese Fonds das Kapital von Konzernen, Banken, Unternehmer-Clans, Versicherungen usw. verwalten, die aus verschiedenen Staaten kommen.
Schließlich: Auch Unternehmen, Vermögensverwalter oder individuelle Anleger, die in Deutschland zumindest einen ihrer Wohnsitze haben und hier steuerpflichtig sind bzw. wären, haben ihr Kapital zusammen mit vergleichbaren Kapitalgebern aus anderen Staaten in internationalen Fonds angelegt, die mit einem Teil des Geldes einen Teil der Aktien eines Konzerns mit zumindest einem Standort in Deutschland anlegen. Und wenn z.B. ein vermögender deutscher Unternehmens-Clan 400 Millionen Euro einem US-Hedgefonds anvertraut, der damit eine ganz eigene globale Strategie verfolgt – was genau heißt unter all diesen Bedingungen noch „deutsches Kapital“?
Was ist da der Versuch von van der Pijl/Holman wert, die die Frage nach der Existenz und Herrschaft von „deutschem Kapital“ damit beantworten, dass „der Geschäftssitz“ entscheidend sei, also z.B. Frankfurt am Main/Germany? Die Deutsche Bank, mehrheitlich in ausländischem Eigentum, hat zwar ihren Sitz in Frankfurt, aber das wesentliche operative Geschäft wird von den Sitzen in New York und London gesteuert, unter Verwendung von 1.064 juristischen Sitzen von Deutsche Bank-Tochtergebilden in einem Dutzend Finanzoasen, angefangen in Delaware.
Die Deutsche Bank ist weder deutsch noch eine Bank, sondern eine globale Vorfeldorganisation für ausländische und auch ein paar deutsche Investoren. Die Deutschheit der letzteren drückt sich u.a. in einem Wohnsitz in Florida und darin aus, dass sie in Deutschland keine Steuern bezahlen.
Neue Investoren nur flüchtige Eigentümer?
Goldberg und Leisewitz meinen, Aktienanteile an Unternehmen seien heute sehr flüchtig; die durchschnittliche Haltezeit betrage oft nur noch ein paar Wochen oder Monate. Die Investoren wollten am Unternehmen weiter nichts ändern, denn sie würden die Aktien nur aus spekulativen Gründen kaufen. Damit würden die Unternehmen trotz ausländischer Aktienmehrheit nicht zu ausländischen Unternehmen, die Unternehmensstrategie werde also weiter von den deutschen Eigentümern bestimmt.
Das trifft nicht zu, denn auch spekulativer Aktienkauf und -verkauf bedeutet Eingriff in das Unternehmen. Zunächst: Auch die verbliebenen „deutschen“ Großaktionäre – im Unterschied zu den hunderttausenden „treuen“ Kleinaktionären, die viel Empörtes sagen, aber nichts entscheiden können – spekulieren und wechseln schnell. Das bedeutet keinen Ausstieg, sondern den Einstieg eines oder mehrerer vergleichbarer Investoren. Trotz des schnellen Wechsels bleibt insgesamt der genannte, zudem steigende durchschnittliche Anteil ausländischer Investoren jeweils gleich.
Zweitens sind die neuen Großinvestoren wie Blackrock, Vanguard, Wellington, T. Rowe Price, Capital World, Barclays, Crédit Suisse und United Bank of Switzerland nie alleine in den DAX-Konzernen vertreten, sondern zu zweit, zu dritt, zu viert, oft zusätzlich mit Tochterfonds mit Anteilen unterhalb der 3-Prozent-Publizitätspflichtgrenze.
Drittens: Diese Investoren nehmen in New York, London, Houston und Zürich die Konzernvorstände bei den „Roadshows“ in die Mangel und dringen auf Maßnahmen der Kostensenkung und der Aktienwert- und Gewinn-Steigerung. So hat die „Heuschrecke“ Blackstone sofort nach ihrem Einstieg bei der Deutschen Telekom erfolgreich auf das Outsourcing und die tarifliche Herabstufung mehrerer tausend Beschäftigter gedrängt. Das steigert den Aktienwert oder soll es zumindest bewirken. Der größte Aktionär der Deutschen Bank, Blackrock, entschied mit seinem scheinbar niedrigen Aktienanteil von knapp 5 Prozent die Abwahl Josef Ackermanns und die Wahl von Anshu Jain zum neuen Vorstandschef und damit über die zukünftige Bankstrategie.[13]
Viertens kaufen Private Equity-Investoren wie Blackstone sich in tausende lukrative Mittelstandsfirmen ein. Sie verkaufen Grundstücke, belasten das aufgekaufte Unternehmen mit zusätzlichen Krediten, ziehen kreditfinanzierte Gewinne heraus, bauen Arbeitsplätze ab, mobben Betriebsräte u. ä. So machen sie in drei bis sieben Jahren die „verschlankten“ Unternehmen für sich profitabel, verkaufen sie weiter oder sammeln durch den Börsengang neues Geld.
Fünftens handeln die neuen Investoren flächendeckend. So ist der größte Vermögensverwalter des Planeten, Blackrock, in Deutschland nicht nur größter Aktionär der Deutschen Bank, sondern auch Großaktionär aller 30 DAX- und weiterer Konzerne. Wer einen solchen gleichzeitigen tiefen Einblick und operativen Zugriff in den entscheidenden Teil einer Volkswirtschaft hat und mit deren verschiedenen Komponenten spielen – und sie gegeneinander ausspielen – kann, hat ein unvergleichbares Insiderwissen. Er kann durch Käufe, Verkäufe und Derivate auf Aktien und Aktienindizes die zukünftige Aktienentwicklung besser als andere Investoren steuern und höhere Gewinne erzwingen, ja die Entwicklung einer ganzen Volkswirtschaft mitbestimmen.
Sechstens haben die neuen Investoren die besseren Machtbeziehungen. Sie sind mit den internationalen, privat-staatlichen Regulatoren wie Ratingagenturen, Wirtschaftsprüfern und Wirtschaftskanzleien eng, teilweise eigentumsmäßig verbunden. Diese Investoren regieren auch in Deutschland und in der EU mit. Die führenden unter ihnen sind in US-Hand und mit den anderen privaten wie staatlichen Akteuren durch die Praxis „Revolving Door“ verbunden (übergangsloser Wechsel von der Wallstreet-Investmentbank zur Ratingagentur, von der Finanzaufsicht zum Hedgefonds…). Blackrock ist seit der „Finanzkrise“ 2008 der wichtigste Berater der US-Finanzminister.[14]
Siebtens haben sich die neuen Investoren, die gleichzeitig weltweit jeweils in hunderten und tausenden von Unternehmen Miteigentümer sind, neue Koordinationsformen geschaffen. Damit entmachten sie die traditionellen Großaktionäre wie Pensionsfonds und Familienclans, die jeder für sich agieren. Zum Beispiel die US-Beratungsgesellschaft Institutional Shareholder Services (ISS): Sie koordiniert – lange vor den belanglos gewordenen, jährlichen Hauptversammlungen der Aktiengesellschaften – das Verhalten zwischen mehreren Investoren eines Unternehmens, etwa hinsichtlich von Aktienkäufen und -Verkäufen, Verkauf eigener und Kauf anderer Unternehmensteile und Besetzung des Unternehmensvorstands.[15]
Varieties of Capitalism
Eine Quelle für die Vorstellung von „deutschem Kapital“ ist die Theorie „Varianten des Kapitalismus“. Als Theorie „Varieties of Capitalism“ wurde sie an der US-Eliteuniversität Harvard entwickelt. Danach unterscheiden sich verschiedene Formen des Kapitalismus von Staat zu Staat, und zwar je nach den besonderen regulatorischen Bedingungen und Praktiken, je nach der staatlichen Eingriffstiefe und -art: Arbeitsgesetze, Lohnfindungsverfahren, Arbeitsmarkt, Sozialversicherungen, Sozialstaat, Kartellrecht, Börsen- und Finanzaufsicht.
Die Theorie wurde – wie so viele, die in den USA ausgebrütet wurden und werden – in Deutschland übernommen. Das gilt dann als innovativ und modern. Insbesondere am Kölner Max Planck-Institut für Gesellschaftsforschung sammelten sich die Vertreter dieser Theorie. So bejahte Direktor Wolfgang Streeck die Existenz eines „deutschen Kapitals“, und zwar wegen der besonderen institutionellen Bedingungen der „sozialen Marktwirtschaft": Deutsches Kapital sei einerseits wettbewerbsfähig und ermögliche gleichzeitig hohe Löhne. So werde auch der soziale Zusammenhalt durch geringe Einkommensabstände erhalten.[16]
Diese „Kapitalismus“-Analyse geht von staatlichen und von Staat zu Staat unterschiedlichen institutionellen Bedingungen aus, also von mehr oder weniger staatlicher Regulierung, von mehr oder weniger Sozialstaat. So gibt es eben als eine Variante des Kapitalismus den deutschen Kapitalismus mit der Betonung des Sozialen („soziale Marktwirtschaft“).
Die Charakterisierung des Kapitals als „deutsch“ beruht also lediglich auf einem politischen Kriterium. Dabei bleiben die Eigentumsverhältnisse vollkommen ausgeblendet. Es wird nicht einmal im Ansatz gefragt, wie das Kapital der Unternehmen in einem Staat überhaupt zusammengesetzt ist.
Kapital und Standort: Was sagt die Stamokap-Theorie?
Eine andere Quelle für das Festhalten am Begriff „deutsches Kapital“ ist die Stamokap-Theorie seelig (Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus). Sie wurde in der DDR entwickelt und besagt: Die deutsche Bourgeoisie und ihre diversen Monopole sind aufs engste mit dem deutschen Staat verknüpft. Und das sei auch heute noch so, wird auch heute behauptet. Deswegen könne 1. zum Beispiel Blackrock als Aktionär der Deutschen Bank keine Kontrolle über die Bank ausüben. 2. Die Entflechtung der Deutschland AG bedeute nicht die Auflösung der deutschen Bourgeoisie. Deutsche Milliardärs-Clans wie Porsche, Piech, Quandt, Haniel, Oetker, Otto, Henkel, die ALDI-Brüder, die Lidl-Eigentümerfamilie Schwarz, Mohn und Schaeffler hätten weiter Kontrollmacht in ihren Konzernen. 3. Der deutsche Staat sei weiter ihr Interessenvertreter.[17]
Gehen wir die Argumente der Reihe nach durch. 1. Blackrock wird als isolierter Einzelaktionär gesehen, aber nicht seine Koordination mit anderen solchen Aktionären. Gesehen wird auch nicht die Stellung der neuen Investoren wie Blackrock in der globalen finanziell-politischen Kapitalmacht.
2. Natürlich gibt es so etwas wie eine „deutsche Bourgeoisie“. Sie ist mit den genannten Namen verbunden und findet sich in den populären, jährlich veröffentlichten, mit Familienfotos versehenen Listen der „reichsten Deutschen“. Ein deutsches Sommermärchen auf Illustrierten-Niveau. Seit wann sind „reich“ und „Milliardär“ analytische Begriffe, um Kontrollmacht zu klären? Ohne z.B. die Deutsche Bank und Hedgefonds wie Blackrock, die mehrheitlich gar nicht deutsch sind, könnten sie ihren Reichtum gar nicht mehren.
3. Auch die „deutsche Bourgeoisie“ vertraut in ihrer trauten Deutschheit einen Teil ihres Vermögens und ihrer Gewinne eben jenen neuen Investoren zur Verwaltung und Mehrung an. Dabei sind die deutschen „Reichen“ von den neuen, lukrativeren Methoden der neuen Investoren abhängig. Die Wertpapierpakete werden zudem mehrheitlich über die üblichen juristischen Konstrukte („Briefkastenfirmen“) mit Sitz in Delaware und den Virgin Islands geparkt. Man hat oder sucht dort die Verbindung zur politischen und kulturellen Macht, man spendet dort für Parteien, Politiker, Kultur und Charity.
Gerade die typischen deutschen Unternehmen, die zumindest vordergründig von bourgeoisen Familien-Clans beherrschten Konzerne wie VW, ALDI, Mohn/Bertelsmann, Quandt/BMW erwirtschaften den größten Teil ihrer Gewinne heute außerhalb der Bundesrepublik. So hängen also auch die Kapitalverwertungs- und Sicherheitsbedingungen selbst der schrumpfenden deutschen Bourgeoisie nicht nur mehr vom Staat und Standort Bundesrepublik Deutschland ab, sondern auch von der jeweiligen Machtkonstellation in anderen Staaten und Standorten sowie von den Mechanismen, Regularien und Methoden des globalen Finanzsystems.
Schließlich: Der „deutsche“ Staat ist auch nicht mehr das, was der westdeutsche Staat einmal gewesen sein mag, auf den ersten Blick. Zum einen sitzt die private Lobby in vielfacher Gestalt mitten im Staat. Zweitens handelt es sich auch um ausländische, vor allem US-Lobby.[18] Drittens ist der Staat BRD eingebunden in internationale quasi-staatliche Institutionen wie die EU und ihre zahlreichen Institutionen (Europäische Kommission, Europäische Zentralbank…), in den IWF und in die Bank for International Settlements (BIS, Basel).
Globales Kapital „strongly connected“
Um es noch ein bisschen komplizierter zu machen, aber andererseits ist es nicht kompliziert, sondern eben anders als bisher: Wie schon erwähnt, ist Blackrock der gegenwärtig größte Kapitalmanager im westlichen Kapitalismus. Aber wem gehört er? Neben der Pittsburg National Corporation und den Hedgefonds Wellington, Vanguard, State Street, Capital World ist die Norwegische Zentralbank der gegenwärtig immerhin zweitgrößte Eigentümer von Blackrock. Das ist nur einer der zahlreichen Hinweise, wie nicht nur private, sondern auch staatliche Finanzakteure mit Standort in Europa in das US-dominierte Weltfinanz- und Wirtschaftssystem integriert sind.
Seine oberste Liga wird, was hier nur kurz angedeutet werden kann, von etwa gut 100 Kapitalknoten gebildet. Zu ihnen gehören die seit den 80er Jahren gebildeten Kapitalmanager wie Blackrock, Capital World, Vanguard ebenso wie die mit ihnen vielfach vernetzten Akteure, die noch ihre nostalgischen Namen tragen wie die Banken Barclays, United Bank of Switzerland UBS, JP Morgan Chase, Merrill Lynch, Goldman Sachs, Deutsche Bank, Nomura, Société Générale, Unicredito, Versicherungen wie Allianz und Axa, Konzerne wie Mitsubishi. Sie bilden ein hierarchisch mehr oder weniger geordnetes, globales Haifischbecken.
Über sie und ihre zehntausenden an Tochterfirmen und Beteiligungen laufen die meisten und wichtigsten Eigentumsverbindungen zu hunderttausenden von Unternehmen in aller Welt. Die wichtigsten Akteure der Kapitalknoten sind auch untereinander eigentumsmäßig verbunden, sie sind „strongly connected“.[19]
Die Verwertungsbedingungen, die Existenzsicherheit und die Expansion werden von wiederum hierarchisch mehr oder weniger geordneten und verbundenen Staaten und internationalen und nationalen Macht- und Finanzinstitutionen (NATO, WTO, IWF, Federal Reserve Bank, Bank for International Settlements, Europäische Zentralbank, Europäische Kommission, Geheimdienste und deren Zusammenarbeit und Konkurrenz, Internationale Handelskammern und Schiedsgerichte, Großmedien…) gewährleistet.
Standort Bundesrepublik in der Europäischen Union
Diesem „westlichen“ Kapitalismus geht es nicht, wie behauptet, um Ausbreitung von Demokratie, Wohlstand, Arbeitsplätzen, Sicherheit oder um den aufwendig inszenierten Kampf gegen den „internationalen Terrorismus“. Im Gegenteil: Den dominierenden Akteuren geht es 1. um die Enteignung und Eroberung, auch militärisch, von nicht oder nicht ganz der kapitalistischen „Ordnung“ unterworfenen Territorien (in Afrika, Asien, Irak, Afghanistan…), 2. Um die Enteignung und Eroberung von sich entziehenden oder gar sozialistisch oder einfach unabhängig sich organisierenden Territorien (Libyen, Syrien, Iran, Kuba, Venezuela, Bolivien…), 3. um die Enteignung anderer, als feindlich bezeichneter Kapitalismen, z.B. Chinas und Russlands, und 4. auch um die Enteignung „befreundeter“ Kapitalismen.
Letzteres ist gegenwärtig in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union der Fall: Die genannten Investoren nutzen die von ihnen selbst hier mitverursachte Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche dazu, um neues Eigentum für sie günstiger als vorher zu erwerben, privates (unternehmerisches) ebenso wie staatliches. Auch etwa die weitere Absenkung von Arbeitsstandards und der Abbau von Gewerkschaftsrechten dienen der besseren Kapitalverwertung als bisher schon. Das gilt nicht nur für die Staaten wie Griechenland, sondern auch für die Bundesrepublik.
Bei dieser Enteignung handeln bekanntlich europäische staatliche und private Akteure (europäische Kommission, europäische Banken und Konzerne) gemeinsam und sie handeln gemeinsam mit insbesondere US-Akteuren wie Goldman Sachs und dem IWF. Dabei führt in der EU bekanntlich der ökonomische und politische Standort Bundesrepublik Deutschland. Wenn die deutsche christlich-unchristliche Bundeskanzlerin von „marktkonformer Demokratie“ spricht und sich gelegentlich populistisch beschwert, von „den Märkten“ erpresst zu werden, so meint sie mit den „Märkten“ genau die genannten Investoren.
Dem deutschen Staat bzw. seinen Regierungen geht es natürlich auch um die Interessen des schrumpfenden deutschen Kapitals (das ohnehin nicht mehr deutsch ist, wie es sich öffentlich gibt), sondern um die Interessen des von Deutschland aus operierenden Kapitals. Und das ist eben mehrheitlich nicht „deutsch“.
Das, was vom deutschen Kapital und seinen Mittätern und Mitläufern übrig geblieben und auch nachgewachsen ist, ist wegen seiner Führungsrolle in der EU nun frecher geworden. Das ändert aber nichts daran, dass die Bundesrepublik – auch gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung – gleichzeitig zum wichtigsten politischen Vasallen der USA in Europa geworden und es geblieben ist.
Es sei an folgendes erinnert: Schon zu Zeiten des Marshall-Plans hat die US-Regierung dafür gesorgt, dass die anderen wichtigen westlichen Siegermächte des 2. Weltkriegs, Frankreich und Großbritannien, ihre Vorbehalte gegen die Bundesrepublik zurückstellen und Kooperationen eingehen mussten, die sie eigentlich nicht wollten.[20] Frankreich und Großbritannien sind zwar militärisch und geheimdienstlich bisher aktiver, aber auch hier holt die Bundesrepublik bekanntlich auf. Aber kein westlicher Kapitalstandort außerhalb der USA ist ökonomisch so mächtig und gleichzeitig für das jetzige wie auch für das letzte Gefecht so abhängig, unterwürfig und erpressbar.
Werner Rügemer
* Beiträge von W. Rügemer und J. Goldberg/A. Leisewitz im Anschluss an Kees van der Pijl/Otto Holman, Transnationale Verflechtung und Stellung des deutschen Kapitals in der EU, in: Z 93, März 2013, S. 95-110 (Anm. d. Red.)
[1] Vgl. Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland, Göttingen 2013.
[2] Der als Wirtschaftshilfe an die europäischen Nachkriegsstaaten präsentierte Marshall-Plan hatte vor allem die Funktion, die ungleich umfangreicheren Investitionen von Konzernen und Banken aus den USA zu ermöglichen. Schon bis 1948 betrugen die direkten US-Investitionen das Achtfache der Marshall-Plan-Hilfen. Das wurde entgegen der bis heute dominierenden Legendenbildung teilweise schon damals erkannt, vgl. J. Schopp (= Josef Schleifstein): Was ist der Marshall-Plan? Frankfurt a.M., o.J [1948], S. 33. www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/452.was-ist-der-marshall-plan.html (Auszugsweise abgedruckt in: Z 93, März 2013, S. 111-123, hier S. 119).
[3] David Rockefeller: Erinnerungen eines Weltbankiers, München 2008, S. 214
[4] Vgl. Werner Rügemer: Privatisierung in Deutschland. Eine Bilanz, Münster 2008, S. 38 ff.
[5] The sick man of the euro, The Economist v. 3.6.1999
[6] Werner Rügemer: Ratingagenturen. Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart, Bielefeld 2012, S. 93 f.
[7] Ders.: Warum Bundeskanzler Schröder an der Wall Street für die Agenda 2010 warb, junge welt v. 9.1.2004; A Transatlantic Business Giant: Fred Irwin, The Atlantic Times, August 2007.
[8] Beziehungen von Geschäftsbanken und Investmentbanken zur Bundesregierung, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, Bundestagsdrucksache 17/12332 vom 14.2.2013.
[9] Focus Money online und Die Welt v. 10.5.2013 mit Berufung auf eine Studie von Ernst & Young.
[10] Ausführlich dazu: Werner Rügemer: Deutschland AG aufgekauft. Die feste Eigentumsstruktur der deutschen Wirtschaft wird seit 1998 entflochten. Jetzt sind ihre Banken und Konzerne in der Hand global verflochtener Finanzakteure, junge welt v. 19.3.2013.
[11] Finanzinvestoren bekommen Geld für Übernahmen in Europa, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3.7.2013
[12] Douglas und der Duft der großen weiten Welt, Handelsblatt v. 26.2.2013; Investoren fliegen auf Morphosys, Handelsblatt v. 28.6.2013
[13] Handelsblatt v. 6.2.2012
[14] Vgl. Werner Rügemer: Ratingagenturen, a.a.O., S. 68.
[15] Focus Money online a.a.O. v.10.5.2013
[16] Wolfgang Streeck: German Capitalism. Does it exist? Can it survive? MPIFG Discussion Paper 95/5, Köln November 1995
[17] Beate Landefeld: Wer kontrolliert die DAX-Konzerne? unsere zeit v. 6.4.2012
[18] Werner Rügemer: Die neue Lobby: Wir sind der Staat, Blätter f. dt. u. intern. Politik 8/2013
[19] Stefania Vitali u.a.: The network of global corporate control. ETH Zürich, Oktober 2011
[20] Michael Hogan: The Marshall Plan. America, Britain and the reconstruction of Western Europe, 1947 – 1952, New York/Melbourne 1987, insbesondere S. 88 ff.