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Ökonomie des Sozialismus/Alle Berichte

Essen, 4. Mai 2013

von Rolf Jüngermann
September 2013

Ökonomie des Sozialismus

Essen, 4. Mai 2013, Tagung der Marx-Engels-Stiftung

„Die Produktionsweise, die den Kapitalismus ablöst, muss der alten Produktionsweise ökonomisch überlegen sein. Ist sie das nicht, wird der Versuch scheitern, sie dauerhaft zu etablieren, oder, was dasselbe ist, sie wird von den alten Mächten beseitigt. Diese Erfahrung haben wir gemacht. Es gilt, Lehren daraus zu ziehen.“ So Lucas Zeise im Vorfeld der Essener Tagung. Befürchtungen, das Thema beziehe sich auf eine allzu ferne Zukunft und sei daher nicht sonderlich attraktiv, erwiesen sich als unbegründet. Für annähernd 80 Teilnehmer_innen war die Ökonomie eines zukünftigen Sozialismus offenbar ein gar nicht so weit hergeholtes, ein aktuelles, attraktives Diskussionsthema.

Die Auseinandersetzung ging vor allem um die Frage, welche Rolle das Ware-Geld-System im zukünftigen Sozialismus spielen kann bzw. soll. Harry Nick, der aus gesundheitlichen Gründen verhindert war, stellte in seinem auf der Tagung verlesenen Beitrag fest, dass die historischen Erfahrungen, namentlich die im „realen Sozialismus“, die Tragfähigkeit des Gesellschaftsmodells ohne Geld, aber mit Leistungsprinzip nicht bestätigt hätten. Im Gegenteil: Der „reale Sozialismus“ sei eher an der Geringschätzung, der unzureichenden Entwicklung der Ware-Geld-Beziehungen gescheitert, daran, dass die „Politische Ökonomie des Sozialismus“ sich vom Marxschen Sozialismus-Modell nicht konsequent habe abwenden können. Die Ware-Geld-Beziehungen seien ein hochwirksames, auch im Sozialismus unverzichtbares Mittel wirtschaftlicher Rationalisierung, eben weil sie alle vielgestaltigen und dynamischen wirtschaftlichen Vorgänge und Größen bis in alle noch so feinen Verästelungen hinein auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen vermögen. Und der gemeinsame Nenner sei eben die Geldware, das Geld als Maß der Werte und Maßstab der Preise. Eine direkte Wertbestimmung durch Ermittlung, Quantifizierung der Wertsubstanz, der Arbeitsmengen, sei unmöglich. Am deutlichsten werde die Unmöglichkeit eines direkten Messens des durch die lebendige Arbeit geschaffenen Wertes sichtbar in der Unmöglichkeit, objektive Maßstäbe, Skalen für die Umrechnung komplizierter in einfache Arbeit zu finden, Bildungsstand, Qualifikation, Verantwortung, Anspannung, körperliche Anstrengung, gesundheitsrelevante Umstände angemessen zu erfassen.

Dem hielt Lucas Zeise entgegen, dass Wirtschaftsreformen in Richtung einer vermehrten Geltung des Wertgesetzes im Sozialismus prinzipiell erfolglos bleiben müssten. Die Wirkungen des Wertgesetzes könnten nicht zum Tragen kommen unter Bedingungen, wo es keinen Kapitalmarkt – und damit keinen Ausgleich der Profitraten – und keinen Arbeitsmarkt – also keine frei verkäufliche und verwertbare Ware Arbeitskraft – gebe. „Gehen Reformen allerdings so weit wie die Reformen Deng Xiaopings in China, dann ist die Rückentwicklung zum Kapitalismus die zwangsläufige Folge.“

Auch Heinrich Harbach hielt es für eine Illusion zu glauben, man könne die Kapitalherrschaft aufheben, zugleich aber die Wertbeziehungen weiterhin technisch funktionell mehr oder weniger effektiv nutzen. Gerade umgekehrt müsse die Auflösung der fest mit den Ware-Geld-Beziehungen verbundenen systemischen Struktur der Kapitalherrschaft den historischen und logischen Ausgangspunkt für dessen Auf- und Ablösungsprozess und seine Ersetzung durch ein höherwertiges System bilden.

Helmut Dunkhase wiederum versuchte auf der Basis der Arbeiten von u.a. Paul Cockshott/Allin Cottrell sowie Wassily Leontief nachzuweisen, dass heute unter Ausnutzung moderner wissenschaftlich-technischer Möglichkeiten die Planung und Kontrolle eines sozialistischen ökonomischen Systems allein auf der Basis der Arbeitszeitrechnung eine realisierbare Alternative darstellt – dies ausdrücklich ohne Rückgriff auf Ware-Geld-Beziehungen. Cockshott/Cottrell hätten in ihrem Buch ‚Alternativen aus dem Rechner’ gezeigt, dass dies heute möglich ist.

Jörg Roesler skizzierte die Entwicklung sozialistischer Volkswirtschaften von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart. Er erinnerte u.a. daran, dass am Ende der 1950er Jahre eine Anzahl der die Volkswirtschaften im Osten sorgfältig analysierenden prominenten Wirtschaftswissenschaftler im Westen erkannt zu haben glaubten, dass mit einem bevorstehenden Einholen der westlichen Industrieländer durch die sozialistischen Volkswirtschaften zu rechnen sei. Aber schon bald erwies sich das zentralistisch-administrative Planungssystem, das sich zur Beschleunigung extensiven Wirtschaftswachstums hervorragend geeignet hatte, immer mehr als Bremse für die weitere Entwicklung der ökonomischen Effektivität angesichts sich verkomplizierender produktionstechnischer Zusammenhänge, Bedürfnisstrukturen und Interessenlagen. Er nannte eindrucksvolle Beispiele dafür, dass Lenkung über den Plan kombiniert mit Regulierung über den Markt nicht über kurz oder lang zum Verzicht auf den Sozialismus und auf die Wiedergeburt einer kapitalistischen Ökonomie führen muss – wie das die Reformgegner in den Partei- und Staatsführungen der osteuropäischen Ländern während der 1960er Jahre stets befürchteten. Erkennbar sei vielmehr geworden, dass eine gut funktionierende sozialistische Ökonomie eine Menge privates bzw. halbprivates Eigentum sowie ein beträchtliches Maß an Lenkung über den Markt „verdauen“ kann.

Manfred Sohn stellte klar: „Diese Krise wird der Kapitalismus nicht überleben. Deshalb ist es notwendig, sich bereits jetzt und trotz unserer geringen Kräfte mit einer alternativen Ökonomie und damit durchdachten Alternative zu dem sich weiter vertiefenden Elend der kapitalistischen Ökonomie zu befassen.“ Der nach der Commune und dem großen Oktober dritte und welthistorisch entscheidende Anlauf zur Überwindung des Kapitalismus durch eine sozialistische Gesellschaft werde sich in dem Dreieck Gemeineigentum, Wiederherstellung der zentralen Stellung der Frau in der Gesellschaft, kommunale und betriebliche Selbstverwaltung entfalten. Es bleibe, namentlich zu Beginn des dritten Anlaufs, sowohl ein Bereich, der marktwirtschaftlich organisiert ist als auch ein Bereich, der planwirtschaftlich auf nationalem Niveau organisiert ist. Mehr und mehr schiebe sich aber zwischen Markt und Plan ein die gesellschaftlichen Zusammenhänge immer mehr dominierender Bereich kommunaler Ökonomie, in dem weder Markt noch nationaler Plan, sondern die vor Ort tätigen Menschen in örtlichen Debatten entscheiden, wie sie ihr Leben organisieren. Die auf der Tagung vorgetragenen Referate werden in der Ausgabe 5-2013 der Zeitschrift Marxistische Blätter abgedruckt.

Rolf Jüngermann

Marxismus und die Große Krise

Esslingen, 30. Mai bis 2. Juni 2013, XVII. Internationale Tagung des Berliner Instituts für Kritische Theorie

Die XVII. Internationale Tagung des Berliner Instituts für Kritische Theorie (InkriT), die vom 30. Mai bis 2. Juni 2013 in Esslingen am Neckar stattfand, war in mehrfacher Hinsicht eine „historische“ Tagung. Wie der Titel „Marxismus und die Große Krise“ bereits ankündigte, ging es einerseits um Dynamiken und Tendenzen der seit einigen Jahren in die Krise geratenen gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftsformation und andererseits um die mithin krisenhafte Lage des Marxismus und kritischen Denkens selbst. Darüber hinaus kann das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) auf eine nunmehr dreißigjährige Geschichte zurückblicken. Neben mehreren Plenen zur Krisenthematik gab es 18 Werkstätten zu einzelnen Wörterbucheinträgen, in denen die jeweiligen AutorInnen ihre Entwürfe den ungefähr 90 Teilnehmenden der Tagung vorstellten.

Dass das HKWM den Anspruch eines pluralen Marxismus verfolgt, lässt sich allein an der thematischen Breite der Begriffswerkstätten ablesen. So unterschiedliche Begriffe wie Monopoly Capital (John Bellamy Foster), Management (Gérard Duménil), Miete (Bernd Belina), aber auch Lumpenproletariat (Peter Bescherer), Marginalisation (Adrienne Roberts), Macht (Elisabeth List), Luxus (Derek Weber), Mangel (Ueli Mäder), links/rechts (Ingar Solty), Mao-Zedong-Ideen (Wolfram Adolphi), Literaturkritik (Peter Jehle), materialistische Bibellektüre (Kuno Füssel), Manipulation (Marko Ampuja u. Juha Koivisto), Machismus (Diana Mulinari), Marktfrauen (Ruth May), wurden in zahlreichen Werkstätten vorgestellt, lebhaft diskutiert und votiert. Darüber hinaus stellte der mexikanische Sozialwissenschaftler Pablo González Casanova seinen Text „Surplus Value and the History of Capitalism“ vor und berichtete aus seinem erfahrungsreichen Leben, u.a. aus der Zeit der revolutionären Umbrüche in Mexiko um 1968.

Dass der Marxismus ein zentrales Thema dieser Tagung war, zeigten nicht nur die drei zu diesem Komplex abgehaltenen Wörterbuch-Werkstätten [Marxismus–Leninismus (Wolfram Adolphi), Marxismus Lenins (Wolfgang Küttler), Marxismus (Wolfgang Fritz Haug)], sondern auch die unterschiedlichen Versuche, die Krise mit marxschen Begriffen zu verstehen. So stellte etwa Gérard Duménil die These auf, dass ein wesentlicher Faktor in der gegenwärtigen Formation des Kapitalismus das Aufbrechen des fordistischen Bündnisses zwischen ArbeiterInnen und Management ist. Demgegenüber entwickelte der italienische Ökonom Guglielmo Carchedi eine Deutung der aktuellen Krise mit Hilfe der marxschen Überlegungen zum tendenziellen Fall der Profitrate. Allerdings blieb aufgrund des umfangreichen Zahlenmaterials der Beiträge unklar, wieso es sich um eine große, also um eine im Sinne Gramscis organische Krise der gegenwärtigen Gesellschaftsformation handelt.

Abseits dieser polit-ökonomischen Krisenanalysen zeichnete sich die Tagung durch den Versuch aus, eine Verbindung von marxistischer Theoriebildung und gesellschaftlicher Krise herzustellen und herauszuarbeiten, wieso erstere heute kaum mehr organisch mit sozialen Kämpfen verbunden ist.

Diese historische Situierung des Marxismus wurde vor allem in der Marxismus-Werkstatt von Wolfgang Fritz Haug geleistet. Die historische Bedeutung des Marxismus, so Haug, bestehe in der Verschmelzung der Arbeiterbewegung mit dem theoretischen Denken von Marx und Engels. Die aktuelle Form, in der Marxismus nurmehr auftrete, sei das kritische Denken, die organische Verbindung mit der Arbeiterbewegung hingegen sei weitgehend verloren gegangen.

Zeichnete sich, so Haug, der Staatssozialismus durch eine Seinsgesetzlehre und einen letztlich metaphysischen Gebrauch der marxschen Begriffe aus, so sei es dem „westlichen Marxismus“ nicht gelungen, mit den praktischen Widersprüchen der historischen Dynamik seit den 1980er Jahren angemessen umzugehen. Dieses Versäumnis, sich aktiv auf der Welle der geschichtlichen Dynamik zu bewegen, habe den Marxismus nun in Form einer passiven Dialektik eingeholt. Die gegenwärtige Krise des Marxismus könne als eine Quittung für das Nichtaustragen der Widersprüche in der marxistischen Theorie und Praxis verstanden werden, die von Anfang angelegt waren.

Dass den Marxismus eine passive Dialektik ereilt hat, ist Haug zufolge allerdings keine Neuigkeit: Gleich zu Beginn wurde der Begriff von anarchistischer Seite im Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation pejorativ gebraucht, wandelte sich aber dann zu einem Kampfbegriff für MarxistInnen. Allerdings hatte Marx selbst Zweifel an dieser Bezeichnung, als er im Hinblick auf Überlegungen von Paul Lafargue äußerte, „ce qu’il y a de certain c’est que moi, je ne suis pas marxiste“ (vgl. MEW 35: 388).

Die eigentliche Gründung des Marxismus, so Haug, habe aber erst Marx’ ermöglicht. Die von Engels formulierte Einsicht in seiner für Marx gehaltenen Grabrede, dass nach Marx nun die Zeit der Zaunkönige käme, sei insofern wahr geworden, als der Marxismus sich erst herausbilden konnte durch die Fusion der Arbeiterbewegung mit dem Denken von Marx und Engels in der II. Internationale. Diese Fusion war die Reaktion auf die erste große Krise des Marxismus, die sich endgültig mit Engels’ Tod eingestellt hatte.

Keineswegs wollte Haug aber so verstanden werden, dass die Denkbewegungen Marxens bruchlos in die Praxis der Arbeiterbewegung eingegangen sind. Im Gegenteil: Gerade das, was beim selektiven und festgefahrenen Zugriff auf das Marxsche Werk nicht eingelöst wurde, war ein Stachel in der Praxis der Arbeiterbewegungen und der Staatssozialismen. Die marxsche Vorstellung einer umfassenden Emanzipation der Menschen ist schließlich bis heute uneingelöst und stand häufig schillernd für einen noch einzulösenden Anspruch in der Praxis der Arbeiterbewegung. Diese Entwicklung des Marxismus müsse aber aus den historischen Prozessen, aus der konkreten sozialen Praxis der damaligen Zeit, begriffen werden.

Dass damit die Reflexion auf marxistisches Denken keineswegs erschöpft ist, hat in einem Korreferat Frigga Haug herausgestellt. Ihr ging es um die Situierung der Geschlechterverhältnisse im Marxismus. Der feministische Marxismus habe sich gebildet, um die in der Produktionssphäre nicht unmittelbar ausbeutbaren Tätigkeiten, die dennoch zur gesellschaftlichen Reproduktion beitragen und meisten von Frauen geleistet werden, in den Blick zu bekommen. Es brauche ein begriffliches Werkzeug, um die Ausbeutung weiblicher Arbeit in der Familie mit der Abschöpfung des Mehrprodukts in der kapitalistischen Produktionsweise zusammen zu denken.

Der Marxismus, so lässt sich aus der Werkstatt mitnehmen, ist nur lebendig zu erhalten, wenn er als eine sinnlich praktische Theorie verstanden und ergriffen wird. Dazu braucht es, und darauf hat F. Haug zu Recht hingewiesen, organische Intellektuelle, die sich mit den globalen Bewegungen austauschen und verknüpfen.

Marxistisches und kritisches Denken bezieht, wie diese Tagung unter Beweis gestellt hat, seine Lebendigkeit aus der Reflexion auf sich selbst und die eigenen historischen und sozialen Bedingungen des Denkens und Handelns. Die hybridartige Anlage der Tagung, einerseits theoretische Grundbegriffe zu diskutieren und andererseits marxistisches Denken (in) der Krise zu thematisieren, hat viele interessante Fragen aufgeworfen, an denen weiter diskutiert werden muss. Etwa wie die einzelnen Gesichtspunkte der gegenwärtigen Krise in ihrer Mehrdimensionalität und in ihrem Zusammenhang begrifflich gefasst werden können. Dies kann auf der nächsten InkriT-Tagung 2014 in Berlin weiterdiskutiert werden, die sich im Dachthema dem Zerstörerischen wie auch den Chancen der hochtechnologischen Produktionsweise widmen wird. Bleibt zu hoffen, dass die Reflexionen marxistischen und kritischen Denkens einen in die gesellschaftlichen Prozesse eingreifenden Charakter (wieder-) gewinnen können. Anregungen dazu gab es auf der Tagung allemal.

Michael Rahlwes

Ein Blick in die Werkstatt von Karl Marx

Berlin, 14./15. Juni 2013, Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Hecker

Am 14. und 15. Juni 2013 trafen sich Kollegen und Kolleginnen Rolf Heckers aus dem In- und Ausland, um neue Erkenntnisse auszutauschen und so den Vorsitzenden des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition, den verdienten Marx-Engels-Editor und –Forscher mit einer wissenschaftlichen Veranstaltung zu ehren. Die von der zentralen Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Berliner „Hellen Panke“ geförderte Tagung gliederte sich in fünf Sessionen: Editionsgeschichte, die Krise des Jahres 1857, neue Erkenntnisse aus Exzerpten und Vorarbeiten von Marx, Biografisches.

Martin Hundt eröffnete die Session I mit einer Würdigung der Verdienste Heckers und ging dann auf die Erforschung der Geschichte der ersten MEGA ein, deren Bedeutung für die weitere Editionsarbeit er nachdrücklich unter­strich. Er endete mit dem Appell, eine Gesamtgeschichte der wissenschaftlichen Marx-Engels-Edition vorzubereiten. Manfred Lauermann ging speziell auf die Textausgaben und Kommentierungen des Kommunistischen Manifestes ein, wobei er die Einführungen von Antonio Labriola, Hermann Duncker und Harold Lasky als maßstabsetzend hervorhob.

Im Mittelpunkt der Session II stand die zentrale Stellung der Erfahrungen mit der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1857. Rolf Hecker wies anhand von Exzerpten nach, wie intensiv sich Marx mit dieser Krise befasst hat und welche Bedeutung dem für die Entwicklung seiner Theorie zukam. Dabei stellte er mit der Entstehung dieser Papiere zusammenhängende Probleme ihrer Wiedergabe in der MEGA zur Diskussion. Fritz Fiehler arbeitete zwei grundlegende – hier auf einfache Nenner gebrachte – Schlussfolgerungen heraus, die Marx aus dieser Krise gezogen habe: die Ursachen von Krisen liegen nicht in einzelnen Momenten der Ökonomie, sondern in der Komplexität des Kapitalverhältnisses, die Akkumulation des Kapitals kann nur zyklisch erfolgen. Pertti Honanen untersuchte die Anwendung mathematischer Methoden in der ökonomischen Theorie von Karl Marx, die nicht primär in quantitative Berechnungen ermöglichenden Formeln, sondern in der mathematischen Struktur der Gedanken zu suchen sind.

Die in Session III vorgetragenen Referate waren nicht durch ihre inhaltliche Thematik, sondern durch das Ausschöpfen des reichen Fundus der MEGA-Edition und der sie tangierenden Quellen miteinander verbunden. Frieder Otto Wolf thematisierte in einem gemeinsam mit Danga Vileisis vorbereiteten Beitrag die Marxsche Auseinandersetzung mit Max Stirner, bezogen auf Individualismus und Singularität. Er mahnte, Stirner ernst zu nehmen, weil er vielfältige auch heute noch ungelöste Probleme aufwarf und weil seine Ansichten eine große Herausforderung für Marx darstellten, trugen sie doch dazu bei, den Kommunismus auf eine logische Basis zu stellen, wissenschaftliche Arbeit für eine gemeinsame Welt zu leisten. Michael Krätke befasste sich anhand der „Schlosser-Exzerpte“ mit Marxens Verständnis der Weltgeschichte. Wie Marx diese Konspekte angelegt hat, das lässt Schlüsse auf sein Verständnis von Weltgeschichte, von historischen Knoten- und Wendepunkten, der Staatsbildung, von den Wechselbeziehungen zwischen Geschichte der Technik, der Wissenschaften, der Wirtschaft, der Politik und Kultur zu. Carl-Erich Vollgraf konnte auf beeindruckende Weise nachweisen, welch hohen Stellenwert im Werk von Marx der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur und dessen sukzessive Untergrabung durch die entfaltete kapitalistische Produktion einnimmt. Ein Bewusstsein für aufkommende Gefahren war im 19. Jahrhundert durchaus vorhanden, und Marx hat sich mit der zeitgenössischen einschlägigen Literatur intensiv beschäftigt. Nach Vollgraf lässt sich jedoch Marx nicht als Zeuge für Ökologie im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise heranziehen. Seine Studien zum Stoffwechsel sind Teil seiner grundsätzlichen Kritik des Kapitalverhältnisses und begründen – mehr als das bisher wahrgenommen wurde – die Notwendigkeit ihrer Überwindung.

Die Sessionen IV und V waren vor allem biografischen Themen gewidmet. Michael Heinrich analysierte vorliegende Marx-Biografien und leitete aus der Mängelliste Anforderungen an eine neue Marx-Biografie ab. Fanden seine Thesen einzeln genommen Zustimmung, wurde doch bezweifelt, dass sie sich in einem Buch in Gänze realisieren lassen und gewissermaßen die „gültige“ Marx-Biografie ergeben könnten. Es wird wohl dabei bleiben, dass verschiedene Autoren unterschiedliche Zugänge zu Leben und Werk von Marx suchen. Angelika Limmroth stellte ihre bei der Erarbeitung einer Jenny-Marx-Biografie und einer gemeinsam mit Rolf Hecker vorbereiteten Brief-Edition gewonnene Erkenntnisse vor. Sie würdigte Jenny als eine selbstbewusste Mitstreiterin ihres Ehemanns, zu der die ihr oft zugeschriebene „Opferrolle“ nicht passt. Von dieser Kombination Biografie und Edition dürfen so manche neuen Erkenntnisse erwartet werden. François Melis ergänzte mit Anmerkungen zu einzelnen Briefen von Jenny Marx und zu deren Adressaten. Zum Kuraufenthalt von Marx in Karlsbad 1875 steuerte Manfred Schöncke sorgsam recherchierte Details bei, vor allem zu jenem Personenkreis, der damals von Marx kontaktiert wurde. Zhou Sichen lüftete das Geheimnis, wer der in Kapital Band I erwähnte „Finanzmandarin Wan-mao-in“ war und was es mit der von ihm vorgeschlagenen Verwandlung der chinesischen Reichsassignaten in konvertible Banknoten auf sich hatte.

Was kann ein Berichterstatter, der nicht zu den dieses Kolloquium bestreitenden Marxkennern höchsten Ranges zählt, aus dieser Veranstaltung mitnehmen? Vor allem zwei Erkenntnisse: 1. Weit mehr als allgemein bewusst, ist das Gedankengebäude von Marx als unvollendet und steten Veränderungen unterworfen zu verstehen. Vor allem seine veröffentlichten Schriften vorausgehenden oder nachfolgenden Papiere offenbaren, wie seine Theorie gereift ist, wie er dazugelernt und teils auch umgedacht hat. Er war nicht derart auf die Kritik der politischen Ökonomie zentriert, wie dies oft unterstellt wird, sondern das Feld seiner Interessen war wesentlich breiter, was gewiss Auswirkungen auf das Abfassen der letzten Bände des Kapitals gehabt hätte. 2. Wer tiefer in das Gedankengebäude von Marx eindringen will, muss sich auch mit jenen Zeitgenossen befassen, deren Erkenntnisse Marx aufgegriffen oder mit denen er sich auseinandergesetzt hat. Seine Ansichten haben sich im Diskurs mit anderen Denkern entwickelt, zugleich fußen sie auf eingehenden empirischen Studien beziehungsweise auf dem Aufgreifen vorliegender empirischer Untersuchungen. Insofern sind von der Herausgabe der Abteilung IV der MEGA wesentlich tiefergehende Erkenntnisse zu erwarten, vorausgesetzt diese Exzerpte werden in die Betrachtungen einbezogen.

Nicht fern ist der 200. Geburtstag von Karl Marx. Rolf Hecker unterbreitete den Vorschlag, eine Bio-Chronik in Daten vorzubereiten und rief alle zum Mittun auf, die hierzu sachkundige Beiträge leisten können. Auch dieser Appell sei hier weitergegeben.

Günter Benser

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