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Eine neue Marx-Biographie/Alle Buchbesprechungen

von Martin Hundt zu Jonathan Sperber
September 2013

Eine neue Marx-Biographie

Jonathan Sperber, Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert, München 2013, Verlag C.H. Beck, 634 S., 29,95 Euro.

Es ist jetzt ein gutes halbes Jahrhundert her, daß ein Redakteur der Berliner Studentenzeitung forum in der Pause einer FDJ-Veranstaltung in der Nähe Berlins Kurt Hager fragte, ob es nicht an der Zeit sei, eine neue Marx-Biografie in Auftrag zu geben. Der mächtige ZK-Sekretär antwortete, die Mehringsche1 genüge noch völlig. Doch fünf Jahre später erschien ein neuer Versuch2, dessen Unvollkommenheit von den Autoren bald erkannt wurde, die Kraft reichte aber nicht, vor dem Ende der DDR einen beabsichtigten weit besseren vorzulegen.

Welch Paradoxon, daß ein „marxistischer Staat“ auf diesem Felde vier Jahrzehnte lang derart sparsam war, während heutzutage die Marx-Biografien im Dutzend auf den Markt geworfen werden. Hier nur das Wirken demokratischer Meinungsvielfalt versus früherer dogmatischer Enge zu sehen, reicht zur Erklärung des Phänomens nicht aus. Mehr oder weniger bewußt wird vielmehr aktuell versucht, das aufgrund der äußerst widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse rapid anwachsende Interesse an Marx’ revolutionärer Theorie auf das „menschliche“, unverbindliche Feld der Biografie abzulenken. Jede einschlägige Neuerscheinung ist daher danach zu befragen, wie weit sich der betreffende Autor dieses „Auftrags“ bewußt war und wie gut er ihn mit der Aufzählung menschlicher Schwächen und langen psychologisierenden Erwägungen erfüllte. Wissenschaftlich interessant dagegen ist die Frage, ob neue Quellen einbezogen, interessante Gedankenverbindungen hergestellt wurden, die es erlauben, Marx’ sowohl schweren wie kämpferischen Lebensweg besser zu verstehen und gerade mit Hilfe einer Biografie tiefer in seine hochkomplexe Gedankenwelt vorzudringen.

Das vorliegende neue, umfangreiche, mit nur wenigen Mängeln (Marx’ Pamphlet von 1852 hieß nicht „Skandale des Kölner Kommunistenprozesses“, sondern Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln) aus dem Amerikanischen sofort übersetzte Werk wurde von einem versierten Historiker der USA geschrieben, der bereits ein bemerkenswertes Buch über die Revolution von 1848 im Rheinland vorlegte. Das verhinderte jedoch nicht, in der vorliegenden Biografie das 10-Punkte-Programm des Kommunistischen Manifests für den Beginn einer bürgerlich-demokratischen Revolution als das „für eine künftige kommunistische Herrschaft“ zu versehen (S. 218), die 17 Forderungen ... vom März 1848 zu übersehen, die Neue Rheinische Zeitung als für „ein akademisches Publikum“(!) geschrieben anzusehen und zu behaupten, Röser, Nothjung und Leßner seien 1852 im Kölner Kommunistenprozeß freigesprochen worden, während sie tatsächlich drei bis sechs Jahre Festungshaft erhielten.

Auch wenn Marx lebenslang unter pekuniären Problemen litt, hätte er es sich ganz gewiß entschieden verbeten, in seiner Biografie bis zum Überdruß darauf zurückzukommen. Und ähnlich verhält es sich mit der Tatsache, daß er jüdischer Abstammung war. Statt all dieser Wiederholungen wären längere Passagen über seine Dissertation (die ganz schwach behandelt ist), über seine tiefe Freundschaft mit Heine (die von S. sogar bestritten wird), über seine Stellung zur Pariser Junischlacht von 1848 (die ganz fehlt) und viele andere Seiten von Marx’ wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit anzuführen gewesen. So war seine leitende Tätigkeit im Bund der Kommunisten und in der I. Internationale auf jeden Fall von erheblich größerer Bedeutung, als im vorliegenden Buch deutlich wird. Der Streit mit Bakunin ist leider ebenfalls mehr psychologisierend als parteistrategisch dargestellt.

Die enorme Schwierigkeit jedes Marx-Biografen, Leben und Werk ständig miteinander zu verbinden, hat auch S. nicht durchgehend gemeistert. Erst nach der Schilderung von Marx’ Leben bis zum Ende der Pariser Kommune (da war er 53) folgen die Kapitel „Der Theoretiker“ und „Der Ökonom“. Dadurch verschwimmt die entscheidende Tatsache, daß Marx’ revolutionäre Theorie schon in seinen Jugendjahren als Linkshegelianer zu reifen begann und bereits im Vormärz zu später niemals wieder aufgegebenen Erkenntnissen führte. Seinen neuen „categorischen Imperativ“, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, hatte er bereits 1844 publiziert, 1848 im Manifest weiterentwickelt in dem Gedanken an eine Gesellschaft „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“

Es ist wohl unbestritten, daß das Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 einen Höhepunkt in Marx’ Schaffen darstellt; er hat es noch 1867 im ersten Band des Kapitals stolz zitiert. S. aber handelt es ziemlich lieblos auf wenigen Seiten ab.

Marx hat bis ans Lebensende an seiner Theorie gearbeitet, was in hohem Maße an seinen Exzerpten ablesbar ist, die in der vorliegenden Biografie stark unter Wert berücksichtigt sind. Das betrifft die Londoner Hefte aus den frühen 1850ern, die Mathematischen Manuskripte (1968 in Moskau veröffentlicht), und viele, viele andere Bemühungen, zuletzt die Exzerpte und Notizen zur Geologie, Mineralogie und Agrikulturchemie von 1878, die aber, erst 2011 als MEGA-Bd. IV/26 erschienen, S. wohl noch nicht vorlagen.

Von großem Interesse ist Sperbers These, Marx’ Leben wäre ganz anders verlaufen, wenn sein akademischer Lehrer Eduard Gans nicht bereits 1839 verstorben wäre. S. ist auf der richtigen Spur, wenn er an mehreren Stellen darauf besteht, Marx sei niemals von Hegels Philosophie abgewichen, selbst wenn die materialistische neue Grundlegung in der vorliegenden Biografie nicht ganz deutlich wird. Überhaupt besticht der Versuch, an vielen Stellen Marx’ unermüdliches wissenschaftliches Suchen zu würdigen.

Leider sagt S. nicht direkt, warum er – im Unterschied oder im Gegensatz zu anderen Autoren – eine Marx-Biografie schrieb, aber das Werk ragt aus vielen seines Genres schon dadurch heraus, daß es die neue MEGA sowie einschlägige DDR-Literatur ganz unverkrampft als stark frequentierte Quellen heranzieht, und auf den letzten Zeilen seines Werkes outet S. sich als Kämpfer gegen jene „Anhänger des kapitalistischen Status quo, die bis zum heutigen Tag, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende des sogenannten Ostblocks, nicht müde werden, gegen Marxisten und ihren angeblichen Vordenker zu wettern.“ (Das „angeblich“ bezieht sich auf Stellen, an denen andeutungsweise versucht wurde, dogmatische und stalinistische Berufungen auf Marx zu kritisieren). S. bekennt sich nicht als Marxist, aber er ist tief beeindruckt von Marx als „leidenschaftlicher, unbeugsamer und komprosmissloser Charakter“ (S. 566).

Das Große an dieser neuen Marx-Biografie ist es vielleicht, daß auf sie bezogen die eingangs genannte Frage nicht eindeutig zu beantworten ist.

Martin Hundt

Das Einfache, das schwer zu machen ist

Wolfgang Beutin, Hermann Klenner, Eckart Spoo (Hg.), Lob des Kommunismus. Alte und neue Weckrufe für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, Verlag Ossietzky GmbH, Hannover 2013, 200 S., 20,- Euro

Wolfgang Beutin, Hermann Klenner und Eckart Spoo – ein Literaturwissenschaftler, ein Rechtsphilosoph und ein politischer Journalist – haben im vorliegenden Band „Fundamentalsätze kommunistischer Denk- und Lebensweise“ (5) von über hundert Verfassern im wesentlichen aus der europäischen Tradition zusammengetragen, in denen, wie es im Geleitwort von Hermann Klenner heißt, „deren Wirklichwerden erhofft, gefordert und erwartet, in wenigen Fällen auch über wirkliche Ansätze berichtet“ wird.

Die chronologisch geordnete Auswahl reicht von Platon bis zum Brecht-Mitarbeiter (und Z-Autoren) Manfred Wekwerth; fast alle Beiträge stammen aus der Zeit vor 1989/1990. Die Herausgeber gehen (wie auch die beidenmarxistischen Klassikern der sozialistischen Ideengeschichte, Karl Kautsky und Max Beer1) bis auf Antike, Mittelalter und Reformation zurück. Die religiösen Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellungen der Antike und des Mittelalters sind bis in die Gegenwart Kronzeugen kommunistischer Zukunftsvorstellungen. Heine berief sich auf das Wort des „göttlichen Communisten“ des Matthäus-Evangeliums: „Ein Kamel wird eher durch ein Nadelöhr gehen, als dass ein Reicher ins Himmelreich käme“ (79); Ernesto Cardenal erklärt 1999: „Vom Kommunismus kommen wir her. Unsere heiligen Quellen, die Kirchenväter, sind kommunistisch.“ (188) Dominierende Themen dieser Kommunisten avant la lettre sind Widersinn und demoralisierende Wirkung von Reichtum und Armut, Herrschaft und Knechtschaft („Wer kann den Herrn vom Knecht unterscheiden, die er beide als Lebende kannte, wenn er bloß ihre blanken Knochen findet und das Fleisch vom Gewürm vertilgt ist?“, Walther von der Vogelweide, 12), das Pochen auf der Gleichheit der Menschen, das Verlangen nach Gerechtigkeit und Brüderlichkeit. Mit Thomas Müntzer (22) kommt erstmals das Moment der berechtigten Volksgewalt von unten ins Spiel (1524, gegen Luther). Die Herausgeber kommentieren dies als „die früheste Willenserklärung der Demokratie in Deutschland“ (23). In der gleichen Zeit – zu Beginn des „Zeitalters der Utopien“ (Max Beer) – setzt die Kritik am Privateigentum ein (Thomas Morus, 1516).

Breiter Raum wird Texten aus Aufklärung, Französischer Revolution und Frühsozialismus/Vormärz gegeben. Naturrechtliche Begründungen der Kritik des Eigentums und der Forderungen nach Gemeineigentum, der Vorstellungen von Gleichheit. Menschenrechten, Freiheit dominieren. Zu Wort kommen u.a. Morelly, Rousseau, Wieland, Marat, Roux und Robespierre, Hölderlin. Mit der französischen Revolution werden die inneren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft Thema: der Widerspruch von politischen und sozialen Rechten, von Privateigentum und sozialer Gleichheit, „Keine Herren mehr, keine Ausbeuter mehr und keine Ausgebeuteten.“ (Babeuf 1795, 48) Eindrucksvoll sind die literarischen Dokumente, in denen der zukünftige Aufstand prognostiziert wird: Lord Byron (53ff.), Shelley (58f.: „Ihr seid viele – sie sind wenige“). Was den Frühsozialismus und frühen Arbeiterkommunismus angeht – Owen, Fourier, Saint-Simon, Cabet, Proudhon, Weitling, Dézamy – profitieren die Herausgeber u.a. von der Höppner’schen Quellenedition2. Jetzt, um 1840, findet der Begriff des Kommunismus Verbreitung, gewinnt er seinen modernen Sinn; in der Sammlung taucht er erstmals bei Proudhon und Cabet (69, 70) auf. Die sozialen und politischen Forderungen der unteren Klassen rücken in den Mittelpunkt der Zukunftsvorstellungen: Kritik der Ausbeutung (Saint-Simon), Recht auf Arbeit (Fourier), Gütergemeinschaft (Dézamy); Cabet denkt 1841 über die einheitliche Leitung der gesellschaftlichen Produktion nach, für Weitling „ist der Fortschritt nur durch Revolution denkbar“ (1842).

Marx wird zuerst mit der „feste(n) Überzeugung“ aus dem Jahr 1842 zitiert, „daß nicht der praktische Versuch, sondern die theoretische Ausführung der kommunistischen Ideen die eigentliche Gefahr“ für die Herrschenden bildet (77). Das mag überraschen. Aber es heißt: Entscheidend ist der Kampf um die Köpfe: „Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, welche der Mensch nur besiegen kann, wenn er sich ihnen unterwirft.“ Wer den Kampf um die Ideen verliert, verliert auch politisch. Der (aus vielerlei Gründen eingetretene) Hegemonieverlust der sozialistischen Idee im europäischen Realsozialismus war der Anfang vom Ende. Im „Kommunistischen Manifest“ sprechen Marx und Engels von der zukünftigen „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (89). Damit charakterisieren sie das „Grundprinzip“ der gegenüber dem Kapitalismus höheren Gesellschaftsform. Im „Kapital“ wird dies Prinzip als „volle und freie Entwicklung jedes Individuums“ gefasst (MEW 23: 618) – eine Bestimmung, die weit über die Gleichheits- und Gemeinwohlvorstellungen nicht nur im vormarxschen Sozialismus hinausweist.

Für die aus der Zeit des Aufstiegs der Arbeiterbewegung zusammengestellten Zeugnisse gilt, was Lafargue 1894 bildlich formuliert: „In unserem Geist ist das Ideal des Kommunismus wieder aufgelebt, glänzender, kräftiger als je. Allein dieses Ideal ist nicht mehr eine bloße, dunkle, instinktive Erinnerung. … Wir sind Männer der Wissenschaft, wir erfinden keine neuen Gesellschaftsformen, sondern leisten der kapitalistischen Gesellschaft Geburtshelferdienste, wenn die Geburtsstunde der sozialistischen Gesellschaft schlägt“ (110f.). Das heißt Entfaltung des Klassenkampfs, „der nur enden kann, sei es mit dem Siege des Proletariats, sei es mit der Rückbildung der Zivilisation in die Barbarei“ (114), wie Mehring 1898 das Diktum von Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1918 vorwegnimmt. Angeführt werden in diesem Abschnitt neben den Genannten u.a. Herzen, die Liebknechts, Bebel, Zetkin, Lenin, Nexö, Barbusse, Kollontai, der Bremer Johann Knief.

Aus den Jahr nach November- und Oktoberrevolution bringen die Autoren eine Reihe von Stellungnahmen, in denen sich die Erwartungen an die Umwälzung in Russland ausdrücken (Hermann Hesse 1931, Sigmund Freud 1933, Nehru 1934). Die Zukunft kann man sich, so Thomas Mann 1944, „schwerlich ohne kommunistische Züge“ vorstellen, „ohne die Grundidee des gemeinsamen Besitz- und Genußrechtes an den Gütern der Erde, ohne fortschreitende Einebnung der Klassenunterschiede, ohne das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit für alle“ (165). Einstein plädiert 1949 in „Monthly Review“ für „die Errichtung einer sozialistischen Wirtschaft“ und konstatiert, „daß beim jetzigen Zustand der Gesellschaft die freie Diskussion dieser Dinge durch ein mächtiges Tabu erschwert“ wird (169).

Der Band ist dem „Lob des Kommunismus“ gewidmet. Er enthält eine Fülle für viele sicher überraschender und aufschlussreicher Texte. Kommunistische Zukunftsvorstellungen setzen, wenn sie heute in den neuen globalen Protestbewegungen wirkungsvoll werden sollen, zweierlei voraus. Zum einen den kritischen Umgang mit der Geschichte der kommunistischen Bewegungen und des Realsozialismus. Die von den Herausgebern zu Recht betonte Tabuisierung sozialistisch-kommunistischer Vorstellungen heute bedient sich, wie Konrad Farner hervorhebt, eben auch der „Verbrechen … im Namen einer bessern Zukunft, eben dieser großen Hoffnung“ (175). Und so, wie in der Vergangenheit Utopien und wissenschaftliche Gesellschafts-Analysen aus den Widersprüchen ihrer jeweiligen Zeit entwickelt wurden, ist dies auch von den Zukunftsvorstellungen der Linken heute zu fordern. Dies wäre sicher ein zu bedenkender Aspekt, wenn die Herausgeber, wie Eckart Spoo in seinen Nachbemerkungen andeutet, über einen weiteren Band zum Lob des Kommunismus nachdenken. Hier müssten die Stimmen der Gegenwart aus allen Weltregionen zu Wort kommen.

Anzumerken bleibt, dass bei einer Neuauflage des vorliegenden Bandes auf jeden Fall eine Überprüfung der Zitierweise und der Quellennachweise zu empfehlen wäre.

André Leisewitz

Gerechtigkeit und
Kapitalismus

Elmar Treptow, Die widersprüchliche Gerechtigkeit im Kapitalismus. Eine philosophisch-ökonomische Kritik, Weidler-Verlag, Berlin 2012, 315 S., 44.- Euro.

Die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft ließ Karl Marx im besten Falle als heroische Selbsttäuschungen im Kampf gegen den Feudalismus gelten, generell stellten sie aber für ihn ideologische Konstrukte dar, hinter deren hochtrabenden Formulierungen sich faktisch ein kümmerlicher Inhalt verbirgt. Ihn scheint weniger ihre Existenz an sich interessiert zu haben, als die Art und Weise, wie sie sich an der Wirklichkeit blamieren (eine Sphäre, in der bekanntlich nicht Phrasen, sondern materielle Interessen den Ausschlag geben). Darüber hinaus sah er verschiedene Projekte kritisch, welche am Kapitalismus nur die schlechten Seiten abschaffen wollten und sich heutzutage im globalisierungskritischen Umfeld finden: Die Forderung nach „Gleichheit der Löhne“ erklärte er für töricht, das „Recht auf Arbeit“ in der bürgerlichen Gesellschaft für eine totale Illusion und die proudhonistische Arbeitsgeldlehre für „Stümperei“.

Selten und wenn dann kritisch widmen sich Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem Gesamtwerk auch dem Begriff „Gerechtigkeit“. Bei den wenigen Stellen, an denen der Terminus explizit Verwendung findet (in der klassischen Gerechtigkeitsschrift von Marx, der „Kritik des Gothaer Programms“ kommt das G-Wort genau einmal vor), wird dieser im pejorativen Sinne gebraucht, etwa um den theologischen und abgehobenen Charakter einer Aussage zu unterstreichen oder die Hohlheit einer Phrase herauszustellen. Auch bei einer Marxistin wie Rosa Luxemburg wird das Wort nicht positiv gedeutet, sondern im Zusammenhang mit wenig schmeichelhaften Prädikaten wie „Limonade“ oder „klapprige Rosinante“ verwendet. So verwundert es auf den zweiten Blick vielleicht nicht, dass es nach dem Tod von Karl Marx, dessen Slogans und Sentenzchen aus dem „Kommunistischen Manifest“ heutzutage gerne in den Feuilletons zitiert werden, gut 130 Jahre gebraucht hat, bis das Thema aus marxistischer Sicht in grundlegender Weise untersucht wurde.

Der Autor ist der emeritierte Münchner Philosophieprofessor Elmar Treptow, dessen Denkart - wie sich unschwer auch an diesem Buch feststellen lässt - nicht nur auf den Theorien von Karl Marx fußt, sondern auch den Einsichten von Aristoteles und Hegel Wesentliches zu verdanken hat. Treptow schiebt dem Gegenstand nicht, wie sonst üblich, eine überzeitliche Norm unter, mit dem dann die Empirie kritisiert werden soll, sondern er analysiert die Gerechtigkeit im Kapitalismus systematisch, stellt ihre spezifischen Bedingungen und Verlaufsformen dar und macht die dazugehörende bürgerliche Theoriebildung als gedankliche Komplementärbewegung zu einer besonderen historischen Praxis kenntlich, deren eigene Dynamik über sich selbst hinausdrängt. Mit seiner wissenschaftlichen Rekonstruktion kritisiert er den Gegenstand immanent.

Mit Marx kennzeichnet Treptow den entscheidenden Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaft in der Weise, dass die Menschen, die von unterschiedlichen Positionen aus am Markt teilnehmen, auf abstrakte Weise gleich gemacht werden, wodurch sich die vorhandenen Ungleichheiten potenzieren: Da die Waren auf dem Markt allgemein nach dem Wertgesetz, also nach dem Prinzip der darin durchschnittlich gesellschaftlich notwendig verausgabten Arbeitszeit getauscht werden, haben immer die Marktteilnehmer einen Wettbewerbsvorteil, die ihre Produkte mit größerer Geschwindigkeit produzieren. Denn sie können somit ihre Waren billiger feilbieten. Es wird also zu scheinbar gleichen Bedingungen getauscht, die Voraussetzungen für den Tausch sind aber ungleich, so dass aus dieser Gleichbehandlung Ungleichheit resultiert.

Dieses Strukturmerkmal kapitalistischer Gleichbehandlung findet seine Fortsetzung auf dem Arbeitmarkt, wo sich Lohnabhängige und Kapitalisten, als (scheinbar) ebenbürtige Vertragspartner gegenüberstehen: Denn da von den konkreten Bedingungen dieses Lohnarbeitsverhältnisses, der Besitz bzw. Nicht-Besitz von Produktionsmitteln, abstrahiert wird, entsteht daraus gleichfalls wachsende Ungleichheit: Der Lohnabhängige muss länger arbeiten, als zum Erhalt seiner Arbeitskraft notwendig ist, während der Kapitalist diesen Mehrwert einstreicht und wieder zum Zweck der Geldvermehrung als Kapital investieren kann. Dies führt nicht nur dazu, dass der Anteil der technologischen Komponenten im Vergleich zur menschlichen Arbeit wachsend zunimmt, sondern hat auch zur Folge, dass sich das Kapital als sachliche Gewalt konsolidiert und eine Eigenlogik entwickelt. Es kommt zu einer zunehmenden Verkehrung von Mensch und Sache: Der menschenproduzierte Waren- und Profitkreislauf entwickelt eine Eigendynamik, der sich alle unterzuordnen haben (und presst weitere Bevölkerungsgruppen unter das Kapitalverhältnis). Aus der durch das Kapitalverhältnis freigesetzten Ungleichheitsspirale, (deren Voraussetzung die der Industrialisierung vorangegangene Scheidung der ländlichen Produzenten von ihren Produktionsmitteln war) resultieren dann Diskrepanzen zwischen den produzierten Waren und der zahlungskräftigen Nachfrage, welche die Grundlage für soziale Krisen bildet.

Der Clou an Elmar Treptows Konzeption besteht nun darin, dass er diese wachsenden Ungleichheitsbeziehungen nicht von einer überhistorisch-moralischen Warte aus verwirft, sondern zeigt, dass diese dem bürgerlichen Begriff von Gerechtigkeit voll und ganz entsprechen: Denn diese basiert wesentlich auf dem Prinzip der Vertragsgleichheit, operiert mit der Tauschgerechtigkeit und ist auf die größtmögliche und kurzfristige Vermehrung der Investitionen ausgerichtet. Sobald eine bestimmte Position zwischen den Vertragpartnern ausgehandelt wurde und per Vertrag fixiert ist, ist deren Befolgung nach kapitalistischen Maßstäben gerecht. Ungerecht erscheinen dann nur noch Vorgehensweisen, die diesen Beziehungen entgegenstehen, wie etwa direkte physische Gewalt, Betrug, Sklaverei, Korruption, Insidergeschäfte, Verstöße gegen das Kartellrecht und sonstige Übertretungen vertraglicher und gesetzlicher Bestimmungen.

So ist es nach Treptow im Kapitalismus gerecht, wenn jemand, der unverschuldet arbeitslos wird, vor dem Bezug staatlicher Leistungen erst einmal sein Vermögen abschmelzen muss, während Manager, die Unternehmen an die Wand fahren, mit großzügigen Abfindungszahlungen belohnt werden. Dies ist zwar eine außerordentliche Ungleichbehandlung, gleichzeitig aber auch Ausdruck eines bestimmten Kräfteverhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital, welches – wie etwa die Lohnquote – nicht nur aus der ökonomischen Sachzwanglogik resultiert, sondern auch Ergebnis von außerökonomischen Auseinandersetzungen ist, mithin also ein Resultat von Klassenkämpfen (die ja heutzutage vorzugsweise von oben geführt werden), die einen bestimmten Rechtshorizont zur Folge haben. Solange nicht gegen bestehendes Recht verstoßen wird, stellen also die sozialen Diskrepanzen im Kapitalismus keine Ungerechtigkeit dar.

Weiter ist nach Treptow für die Auseinandersetzungen zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten charakteristisch, dass die Durchsetzung ihrer Interessen gleichzeitig dieselben untergräbt und errungene Vorteile sich mit der Zeit in Nachteile verwandeln können, weswegen eine gestärkte Nachfrage- bzw. Angebotspolitik die Interessen der Tarifparteien gleichzeitig fördert und torpediert: Bei großen Lohnzuwächsen ist es möglich, dass sich Waren verteuern und schlechter absetzen lassen, was zu Konkursen und Arbeitslosigkeit führen kann. Andererseits ist es, wenn die Löhne ein gewisses Niveau unterschreiten, nicht unwahrscheinlich, dass die hergestellten Waren keinen Absatz finden, was wiederum die Profite schmälert und ebenfalls zu Konkursen und Arbeitslosigkeit führt.

Dementsprechend wäre es also durchaus fraglich, ob beim momentanen Stand der gesellschaftlichen Produktion – die Produktivität hat die Akkumulation von Profiten deutlich überholt – und nachdem die neoliberale Angebotspolitik bei der Behebung dieses Problems gescheitert ist bzw. weiter scheitern wird, die von Teilen der Linkspartei und Gewerkschaften heftig propagierte, weiterhin auf Vermehrung der Investitionen ausgerichtete Angebotspolitik dazu angetan wäre, die aktuellen Krisenerscheinungen mehr als nur zeitweise zu kompensieren. Da von der Verteilung der Produktionsmittel bereits wesentlich die Verteilung der Konsumgüter abhängt, wäre es besser, statt für höhere Löhne allein zu kämpfen, einen Kampf gegen das Lohnarbeitsverhältnis überhaupt zu führen. Dieser Kampf, der nicht aufgrund einer abstrakten Norm, sondern der Einsicht in die in der Gesellschaft obwaltenden Tendenzen, Widersprüche und Möglichkeiten geführt wird, ist wiederum kein Unrecht, weil sich darin eine neue Gesellschaftsformation Bahn brechen kann, die eine komplexere Gerechtigkeit als die abstrakte Tauschgleichheit zur Basis haben könnte, nämlich die ungleichen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Individuen. Falls dies geschieht, würde also das Gerechtigkeitsprinzip einer spezifischen Produktions- und Gesellschaftsformation von dem einer anderen abgelöst werden.

Der emeritierte Münchner Philosophieprofessor Elmar Treptow hat in einem seiner Seminare einmal formuliert, „Gerechtigkeit“ sei „die Frage, ob und in welchem Maße gleichen und ungleichen Personen Gleiches und Ungleiches zusteht.“ In diesem Satz hat der an Hegel und Aristoteles geschulte Marxist bereits die wesentliche Komponenten benannt, die eigentlich in der aktuellen Gerechtigkeits-Diskussion enthalten sein müssten und die er in seinem Buch eingehend behandelt.

Reinhard Jellen

Revolutionäres Subjekt?

Das revolutionäre Subjekt. „Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie“, 31. Jg., 2012, Heft 55, 150 Seiten. Bezug: Tengstr. 14, 80798 München, 10,- Euro.

Heft 55 der Zeitschrift „Widerspruch“ ist dem nicht gerade kleinformatigen Thema „Das revolutionäre Subjekt“ gewidmet. Dabei stehen allerdings Positionen und Überlegungen einer bestimmten politisch-intellektuellen Strömung im Vordergrund, die der Rezensent als „postmodernen Linksradikalismus“ bezeichnen will. Sie wird u.a. von Philosophen wie Alain Badiou, Slavoj Žižek, Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy und John Holloway repräsentiert.

Den realen Kontext der erneuten Frage nach einem „revolutionären Subjekt“ der Gegenwart bildet, wie das Editorial feststellt, die Entstehung weltweiter Protestbewegungen vom Tahirplatz in Kairo über den Habima Square in Tel Aviv bis zur Wall Street in New York und der Puerta del Sol in Madrid.

Alle diese Bewegungen verweisen auf die Konstituierung eines kollektiven Akteurs, der mit der traditionellen Arbeiterbewegung kaum mehr Gemeinsamkeiten zu haben scheint. Daraus erklärt sich, warum heute vor allem Autoren in der linken Szene Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die sich nicht mehr politisch am Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit orientieren und auf das Proletariat als revolutionäre Avantgarde setzen, sondern nach einem neuen „revolutionären Subjekt“ suchen.

Von der Tonlage der meisten, theoretisch-interpretativ gehaltenen Beiträge des Hefts weicht ein kurzer Beitrag von Georg Fülberth ab, weil er sich auf reale gesellschaftliche Prozesse, genauer die Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise, bezieht und die nachdenkenswerte These aufstellt, dass bisherige Revolutionen zwar stets von unten initiiert wurden, aber durchweg mit dem Sieg des Kapitalismus und des Bürgertums endeten. Damit endeten jedoch nicht gleichzeitig die dem Kapitalismus immanenten Widersprüche, wie ökologische Krise und Finanzmarktkrise beweisen. Die daraus resultierende Notwendigkeit, die Stoff- und Energiehaushalte neu zu organisieren und den Finanzsektor zu regulieren, läge zwar eigentlich im Interesse des Gesamtsystems, bliebe aber bisher praktisch ziemlich folgenlos. Ein „schlagkräftiges Subjekt“ für die Durchsetzung einer solchen Regulierung sei nicht zu entdecken. Wer sich dagegen ein „revolutionäres Subjekt“ wünsche, das den Kapitalismus insgesamt aufhebe, dürfe das zwar tun, aber „wünschen allein hilft nicht“, wie Fülberth daraus in einer ebenso lakonischen wie schwer widerlegbaren Weise folgert.

In seinem Beitrag über „neue Erfindungen politischer Subjektivität“ geht der Literaturwissenschaftler Jan Völker vor allem auf das Politikverständnis von Alain Badiou ein, der zu den international bekannten Vertretern des postmodernen Linksradikalismus gehört. Völker zeichnet einige zentrale Vorstellungen und Begriffe Badious nach und hebt zu Recht hervor, dass Badiou die Geschichte als einen Prozess begreife, in dem die Erwartung eines egalitären Universalismus sich nicht erfülle, weshalb die „kommunistische Hypothese“ immer aktuell bleibe. Sie werde durch das empirische Scheitern revolutionärer Bewegungen wie der Pariser Kommune oder der russischen Oktoberrevolution nicht widerlegt, sondern bestätigt. Zutreffend stellt Völker dar, wie Badiou unter Rückgriff auf Platon die Idee des Kommunismus als Akt einer Subjektivierung fasst, der Reales, Symbolisches und Imaginäres integriert und sich als „Wahrheitsprozedur“ in die Geschichte einschreibt. Da sich aber, so referiert Völker Badiou, die Signifikanten der bisherigen beiden Sequenzen revolutionärer Politik (1871-1917; 1917-1968) wie Proletariat, proletarische Partei und sozialistischer Staat überlebt hätten, müsse die „kommunistische Hypothese“ neu repräsentiert werden. Den sich mit der „Wahrheitsprozedur“ identifizierenden Individuen komme dabei eine sich von den bisherigen revolutionären Ereignissen unterscheidende qualitativ neue Bedeutung zu. Sie sieht Völker bei Badiou in den Erhebungen des so genannten „arabischen Frühlings“ aufblitzen. Bewegungen, die über spontane und lokale Aufstände hinausgingen und sich so in die „Wahrheitsprozedur“ einschreiben, beinhalten sowohl ein egalitäres als auch diktatorisches Moment.

Völker zeigt sich mit wesentlichen Gedanken der politischen Philosophie Badious vertraut und vermittelt sie den LeserInnen auf adäquate Weise. Aber sein Beitrag bleibt in einigen Punkten unbefriedigend. So wäre es wünschenswert gewesen, den Begriff des Politischen bei Badiou, insbesondere die Differenz zwischen „der Politik“ („la politique“) und „dem Politischen“ („le politique“) genauer zu erläutern, weil erst so auch das Spezifische der „kommunistischen Hypothese“ verständlich werden kann. Des Weiteren verfällt Völker gelegentlich in den semantischen Code seines Gegenstandes, was die Lesbarkeit seines Textes erschwert und die kritische Distanz zu diesem Gegenstand verkürzt. Dazu eine Kostprobe: „Der imaginäre Transport ist das vorweggreifende Protokoll einer Inkorporation, ein notwendiges Medium der materialen Kreation der Idee.“ (28)

Am meisten vermisst man aber einen eigenen Standpunkt des Autors. So weiß man zum Beispiel nicht, ob Völker sich mit Badious Bejahung der „Diktatur“ im Zusammenhang der „kommunistischen Hypothese“ identifiziert oder Badiou nur deskriptiv wiedergeben will. Beides wäre allerdings gleichermaßen kritikbedürftig.

Was bei Völker fehlt, findet man dagegen in der kenntnisreichen Auseinandersetzung des Judaisten Philip Lenhard mit dem Paulusverständnis von Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Žižek reichlich. Ausgehend von der Paulus-Deutung des Religionsphilosophen Jacob Taubes, der im Verfasser der Römer-Briefe einen Vordenker einer „antinomistischen Revolte“1 als „Vorbild für einen antiliberalistischen Aufstand der Gegenwart“ (31) entdeckt haben wollte, sieht Lenhard die drei genannten postmodernen Autoren auf den Spuren dieser Taubes-Deutung wandeln. Religionsgeschichtlich informiert widerspricht Lenhard mit einleuchtenden Argumenten Badious Stilisierung des Paulus zum „kommunistisch-urchristlichen“ Universalisten (36). Während nämlich die aufständischen Juden den römischen Kaiserkult bekämpften, so stellt Lenhard fest, habe Paulus bekanntlich Unterwerfung unter die römische Herrschaft gefordert. Badiou mache jedoch aus der obrigkeitsloyalen Haltung von Paulus eine „antinomistische“ Opposition gegen die das Kollektiv der Heiden angeblich ausschließende elitäre jüdische Herrschaft. Hier stößt man aber bei Lenhard selbst auf eine problematische Auffassung; denn er fordert dazu auf, den Status der Juden als „auserwähltes Volk“, dessen Besonderheit „nicht unmittelbar in ein Allgemeines verwandelt werden kann“ (37), als ein Anderes zu tolerieren. Der „urbürgerliche Gedanke der Toleranz“ sei Badiou, dem „heideggerianischen Maoisten“ und Fürsprecher der „unterdrückten Massen“, zutiefst suspekt. Allerdings ruft Lenhard damit den Eindruck hervor, als ob das Konstrukt eines „auserwählten Volkes“ nicht nur gegen linksradikale Intoleranz geschützt, sondern generell vor jeder kritischen Reflexion bewahrt werden müsse. Sollte das tatsächlich so gemeint sein, wäre der Rezensent da ganz anderer Auffassung.

Sieht man von diesem Punkt einmal ab, so enthält Lenhards Beitrag durchaus überzeugende Einwände gegen Badiou. Ähnliches gilt auch für seine Kritik am Paulus-Buch von Giorgio Agamben, das sich zu einer bedenklichen Parallelisierung des Verhältnisses sowohl der Konzentrationslager als auch des „messianischen Ereignisses“ (in den Texten des Paulus) zum „Gesetz“ (41/41) versteige. Warum aber Žižek – offensichtlich falsche – Interpretation der Haltung Paulus als Aufstand gegen das (jüdische) Gesetz zwangsläufig in Antisemitismus umschlage, wie Lenhard unterstellt, bleibt sein Geheimnis und lässt ihn in jene Hermeneutik des Verdachts abdriften, die jede mögliche richtige oder falsche Äußerung über die Geschichte und Gegenwart Israels und seine politischen Aktivitäten zu einem Beweis von Antisemitismus umfunktioniert. Das schmälert leider den Erkenntnisgewinn seiner Überlegungen.

Mit einem dritten Beitrag von Christopher Knoll über Slavoj Žižek als Akteur einer „öffentlich-kritischen Intelligenz“ endet der Textteil des Hefts. Es handelt sich um eine Huldigung der angeblich „dialektischen Denkprozesse“ Žižek, insbesondere seiner Aktualisierung Lenins. Im ideologischen Voluntarismus Žižeks, der die Möglichkeit revolutionären Handelns für jederzeit gegeben ansieht, sofern sich die Akteure mental von jedem Determinismus befreien, sieht Knoll offensichtlich eine geeignete intellektuelle Disposition, um die Herrschaft des Kapitalismus zu brechen. Dass Žižek vor allem die Slumbewohner der globalen Megastädte als kollektives Subjekt eines Bruchs mit dem Kapitalismus ins Auge fasst, vermerkt Knoll zwar, scheint ihm aber keine kritische Überlegung wert zu sein. Auch die Form des Beitrags ist unbefriedigend. Ein Zitat Žižek folgt dem anderen, unterbrochen von meist zustimmenden oder bestätigenden Kommentaren des Autors. Die sorgfältige Differenzierung zwischen den Aspekten im Denken Žižeks, die im linken Diskurs Beachtung verdienen (wie seine Kritik der „radikalen Demokratie“ von Laclau/Mouffe, des „Multikulturalismus“ oder der „Postpolitik“), und solchen, die einer kritischen Prüfung bedürfen (wie das Postulat einer „Wiederholung“ Lenins), fällt der ziemlich apologetischen Rezeption Knolls zum Opfer.

Anerkennung gebührt der Redaktion dafür, dass es ihr gelungen ist, mit einem prominenten Vertreter der postmodernen philosophischen Linken, dem Franzosen Jean-Luc Nancy, ein Interview zu führen („Von der Geburt neuer Subjekte“).

In einer für postmoderne Intellektuelle und namentlich ihre „linksheideggerianische“ Fraktion typischen Attitüde äußert sich Nancy über revolutionäre Subjektivität in kryptischen Formulierungen. Indem er sich jeder empirisch und operativ anschlussfähigen Deutung revolutionärer Subjektivität enthält, verlieren sich seine spekulativen Suchbewegungen im Niemandsland philosophischer Kontingenz. Vage zeichnen sich die Umrisse eines Denkens ab, dem präzise Bestimmungen und jeder überprüfbare Realitätsbezug schon an und für sich ein intellektuelles Sakrileg zu sein scheint. Die LeserInnen erfahren von Nancy allenfalls, dass es ganz und gar verfehlt sei, sich politische Zwecke zu setzen. Stattdessen solle man paradoxerweise „undefinierbare Ziele definieren“ (50). Mit dieser Empfehlung dürfte sich das geneigte Publikum für die Konflikte des gesellschaftlichen Lebens ausgesprochen gut gerüstet fühlen. Nancys mit „radical chic“ präsentierte Überlegungen variieren nur das leidlich bekannte Repertoire postmoderner Philosophie: Kontingenz, Anti-Finalismus, Ambiguität, Entgrenzung, Identitätsphobie usw. Wie sich seine Einlassungen konstruktiv in eine Perspektive linker Politik einschreiben lassen, bleibt dagegen schleierhaft.

Unter den zahlreichen Rezensionen des Hefts widmet sich eine ganze Rubrik dem Thema eines „revolutionären Subjekts“. Dabei werden wiederum vor allem Autoren wie Badiou, Nancy, Virno und last but not least Žižek besprochen, der es allein auf vier rezensierte Titel bringt. Auf das Interesse des Rezensenten stößt hier beispielsweise eine Besprechung von Ottmar Mareis über „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ von Slavoj Žižek. Zu Recht moniert Mareis bei Žižek eine fragwürdige Vereinnahmung von Heidegger für linkes Denken. Er widerspricht der mehr als bizarren Mutmaßung Žižeks, dass Hitler nicht radikal genug gewesen sei, weil er es unterlassen habe, den Kapitalismus in seiner Grundstruktur anzugreifen (90). Sowohl Žižeks Deutung der Person Heideggers als „radikalem Intellektuellen“ als auch die Erwägung Žižeks, dass es Hitler und dem Nationalsozialismus an revolutionärer Konsequenz gemangelt habe, verwirft Mareis als dubiose Phantasterei. Hitler und der Nationalsozialismus hätten nicht nur den Kapitalismus nicht angetastet, sondern ihn ganz im Gegenteil zu einem ihrem Ziel nach globalen Ausbeutungssystem radikalisiert. Dass Mareis nun seinerseits quasi en passant und ohne jeden Beleg dem Stalinismus einen „antisemitischen Charakter“ (93) attestiert, gehört zu den wenigen Schwachstellen seiner Besprechung.

Insgesamt gesehen enthält Heft 55 der Zeitschrift eine Reihe lesenswerter, informativer und zur Diskussion auffordernder Beiträge, mit denen es sich auch dann auseinander zu setzen lohnt, wenn man den Auffassungen ihrer Autoren nicht folgen will.

Lothar Peter

Die Wandlungen Wolfgang Abendroths

Uli Schöler, Wolfgang Abendroth und der „reale Sozialismus“. Ein Balanceakt. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2012, 216 S, 19,95 Euro.

In seiner 2008 erschienenen Schrift „Die DDR und Wolfgang Abendroth. Wolfgang Abendroth und die DDR“ trat Uli Schöler der von Anne Nagel verbreiteten Lüge, Wolfgang Abendroth habe mit dem Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik kooperiert, entgegen. Er untersuchte dessen Verhältnis zu diesem Staat und seine eigene Wahrnehmung und Behandlung durch diesen. Nunmehr unternimmt er den Versuch, darüber hinaus die grundsätzliche Haltung Abendroths zum Staatssozialismus zu analysieren. Im Mai 2013 stellte er in der Buchhandlung Vorwärts im Berliner Willy-Brandt-Haus sein Buch im Gespräch mit Helga Grebing und Wolfgang Thierse vor.

Uli Schöler arbeitet in der neuen Publikation die Gesamtheit der Schriften Wolfgang Abendroths durch, soweit sie mit dem Staatssozialismus befasst sind, und kommt zum Ergebnis einer ihn irritierenden Inkonsistenz.

Der junge Abendroth sei ein linkskommunistischer Kritiker der sowjetischen Politik gewesen (auch wenn sich dies organisatorisch ab 1928 in seiner Mitgliedschaft in einer von der KPD-Führung als „rechts“ bezeichneten Gruppierung – der Kommunistischen Partei Deutschlands Opposition, KPO – niederschlug). Unter dem Eindruck des Stalinschen Terrors trennte er sich organisatorisch von der kommunistischen Bewegung und wurde Mitglied der SPD. Zutreffend stellt Uli Schöler fest, Abendroth habe sich in den fünfziger Jahren in seiner Auseinandersetzung mit der UdSSR und der DDR eines Vokabulars bedient, das „er selbst in späteren Jahren als durch den Kalten Krieg geprägt scharf kritisiert hätte, etwa wenn er von der ‚sowjetzonalen sogenannten DDR’ spricht“. (27) Nach 1956 konstatiert der Autor eine „Tendenz, stattgefundenen Prozessen und Ereignissen das Etikett des ‚Unvermeidlichen’ aufzudrücken.“ (31) Allerdings sei zunächst der Argumentation „noch eine gewisse Offenheit inhärent, etwa in der Formulierung des Begreiflichen, das nicht zugleich entschuldigt. Ihr fehlt noch weitgehend der – wie wir noch sehen werden – spätere Duktus des Unvermeidlichen.“ (41; kursiv: Schöler) 1962 sei eine Neubewertung des Hitler-Stalin-Pakts, den Abendroth vorher abgelehnt habe, erfolgt. Einen Schnittpunkt der beiden Entwicklungen: Kritik und Hinnahme, sieht der Autor in dem 1965 erschienenen Buch „Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung“, ab 1968 behauptet er einen Absturz in eine Position, in der Abendroth die DDR und UdSSR vor allem verteidigt, ihre Deformationen zwar nicht geleugnet, aber als Resultat ihnen von außen aufgezwungener Verhältnisse bezeichnet habe. Schöler ist der Auffassung, „dass sich in dieser kurzen Zeit keinesfalls realpolitische Entwicklungen vollzogen haben, die ein solches verändertes Urteil gerechtfertigt hätten. Dass in diesen Texten also der Wissenschaftler Abendroth spricht, lässt sich wohl ohne Weiteres verneinen.“ Jetzt spreche „ohne Zweifel der politische Akteur“. (128) Ab Mitte der siebziger Jahre dagegen ließen sich in der Haltung zum „realen Sozialismus“ „neuerliche Veränderungen daran feststellen, deren Akzentuierungen nochmals in eine andere, kritischere Richtung weisen.“ (156) Abendroth habe sich von einer „halbapologetischen Haltung“ wieder gelöst. (158)

Schölers Tatbestands-Erhebungen sind – jenseits seiner Wertungen – zutreffend, mit einer Ausnahme, auf die später noch eingegangen werden soll. Er lässt keinen Kern von Abendroths Haltung erkennen, zu dem die von ihm nachgezeichneten Positionsveränderungen in ein Verhältnis gesetzt werden könnten. Anders urteilte Abendroths Schüler und zeitweiliger Weggefährte in der SPD, Hanno Drechsler (1931 – 2003), der sich ab 1970 von ihm politisch (wenngleich wohl nicht menschlich) entfernt hatte. Bei einer Gedenkveranstaltung des Instituts für Politikwissenschaft in Marburg aus Anlass des 90. Geburtstages seines Lehrers im Mai 1996 war er gefragt worden, wie dieser zu charakterisieren sei. Seine Antwort lautete: „Das lässt sich in einem Satz sagen: Wolfgang Abendroth war ein revolutionärer Kommunist.“ Sein gesamtes Leben sei in jeweils veränderten Situationen dadurch bestimmt gewesen.

Bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre hinein bewegten sich Abendroths politische Vorstellungen im Aktionsraum einer gesamtdeutschen, wenngleich in Parteien, Fraktionen und ab 1949 auch durch eine Staatsgrenze gespaltenen Arbeiterbewegung. Eine der Handlungsformen in ihr war für ihn seit der Weimarer Republik der Fraktionskampf. In der KPD und KPO kämpfte Abendroth gegen die Fraktion Stalin/Thälmann, nach 1945 von der SPD aus gegen die Fraktion Ulbricht. (Noch in seinem Abschiedsschreiben an die thüringische Ministerin für Volksbildung anlässlich seines Wechsels nach Wilhelmshaven 1948 bekennt er sich zur Oktoberrevolution.)

Die Einheit Deutschlands gehörte in dieser Zeit – dies mag Jüngere überraschen – zu Abendroths sozialistischem Konzept. Deren Wiederherstellung durch die deutsche Arbeiterklasse sei ein Weg zur Niederlage Adenauers und der Fraktion Ulbricht. Hier befand er sich in Übereinstimmung mit Kurt Schumacher und Herbert Wehner. Aufschlüsse gibt u. a. das Protokollbuch des Kreisverbandes Marburg der SPD 1946 – 1960. In diesem wirkte Abendroth seit 1951, zeitweilig auch im Vorstand. Seine Diskussionsbeiträge sind u. a. wiedervereinigungspolitisch bestimmt. Ein spätes Dokument seiner Position in dieser Frage ist eine Rede, die er am 17. Juni 1966 auf Einladung der Marburger Studierendenschaft gehalten hat. Hier stellt er den Arbeiteraufstand in die Perspektive des Zwanzigsten Parteitags der KPdSU von 1956 und der Aussichten auf eine sozialistische Wiedervereinigung Deutschlands. Das Titelbild der Broschüre Uli Schölers ist insofern gut gewählt. Es zeigt Abendroth bei einer Kundgebung in Solingen 1954 vor einem Transparent mit dem Text: „Aufrüstung verhindert friedliche Wiedervereinigung“. Letztere war für ihn kein nationales, sondern ein sozialistisches Projekt.

Ab 1968 veränderten sich Abendroths Perspektiven über das von Uli Schöler Hervorgehobene hinaus.

Er war solidarisch mit der Studierendenbewegung, aber der Sieg des antiautoritären Flügels, den er für anarchistisch hielt, war wieder einmal eine Niederlage im Fraktionskampf, den er gegen von ihm als abenteuerlich abgelehnte Positionen im SDS lokal schon einmal, um 1960, als er die Gründung eines „USDS“ verurteilte, geführt hatte. Die von dieser Richtung propagierte Relativierung oder gar Ablehnung von Verfassungspositionen stand in Gegensatz zu seiner eigenen Grundgesetzinterpretation. Die Ostpolitik Brandts unterstützte er aus friedenspolitischen und sozialistisch-strategischen Gründen. Seit 1956/1957 hatte er darauf gesetzt, dass die Abnahme des äußeren Drucks des Kapitalismus auf den Sozialismus (auch durch ein etwaiges sich anbahnendes Waffengleichgewicht) und die interne Stärkung der sozialistischen Länder dazu beitragen könnten, ihre Deformationen abzulegen. Eine stabile außenpolitische Ordnung in Europa war eine günstige Voraussetzung hierfür. Mit der befestigten deutschen Zweistaatlichkeit entfiel allerdings der territoriale Rahmen, innerhalb dessen Abendroth seit seinem Eintritt in die Arbeiterbewegung seine Fraktionskämpfe geführt hatte. Die Fraktion Ulbricht hatte gesiegt und sich zugleich – in seinen Augen – in der Fernwirkung des Zwanzigsten Parteitags und unter dem Einfluss der Entspannung gewandelt. In seinem Kondolenzschreiben an Albert Norden anlässlich Ulbrichts Tod 1973 werden die alten Auseinandersetzungen noch einmal angedeutet und wird die damalige Kritik angesichts veränderter Umstände für obsolet erklärt.

Es ist aber insgesamt kein optimistisches Bild, das Abendroth ab 1968/1969 von der politischen Gesamtlage entwirft. Negativ beurteilte er – trotz der sozialliberalen Koalition – die innenpolitische Situation der Bundesrepublik. Seinen Kampf gegen die Notstandsverfassung hatte er mehr als die meisten anderen Kritiker mit Parallelen zum Weg der Weimarer Demokratie in den Faschismus begründet. Die Grundgesetzänderung war für ihn eine Katastrophe. Mit großer Verbitterung nahm er die Berufsverbote zur Kenntnis. Die von ihm tatkräftig unterstützte Hochschulreform war für ihn keine Offensive, sondern ein Abwehrerfolg in der Auseinandersetzung mit der Entdemokratisierung.

Mit dem Neueinsetzen des Kalten Krieges seit Carters Ankündigung der Neutronenbombe und dem Beschluss der NATO zur Stationierung neuer Mittelstreckenraketen 1979 entfiel für Wolfgang Abendroth eine zentrale Voraussetzung für eine innere Lockerung in den sozialistischen Ländern. Deren demokratiepolitische Defizite hat er auch in der Periode der von Schöler behaupteten Halb-Apologetik nach 1968 nie geleugnet, aber er hatte die Beseitigung der von ihm benannten Schäden für möglich gehalten. Diese Hoffnung gab er jetzt auf, nicht, wie Ulrich Schöler annimmt, durch eine Rückwendung zu früheren Positionen – niemals seit 1945 stand er der SPD ferner als in der Zeit der Berufsverbote –, sondern aufgrund der von ihm jetzt mehr als je pessimistisch eingeschätzten Kräfteverhältnisse im neu ausgebrochenen Kalten Krieg. Insofern behielt er das kritisierte „Unvermeidlichkeits“-Paradigma bei, das in Wirklichkeit ja nichts anderes war als nüchternes Kausalitätsdenken.

Indem Uli Schöler Wolfgang Abendroth nicht als revolutionären Kommunisten wahrnimmt, sondern ihn auf seine Kompatibilität mit Hermann Heller eingrenzen will, trifft auf ihn ein Spott zu, den 1986 Willy Brandt für seinen Büroleiter Klaus-Henning Rosen und für Hans-Ulrich Klose nach einer Nicaragua-Reise, von der diese enttäuscht zurückgekommen waren, übrig hatte: da seien wohl zwei Staatsanwälte unterwegs gewesen. Weniger feuilletonistisch ausgedrückt: der Autor unterlag offenbar bis zur Veröffentlichung von Wolfgang Abendroths Kondolenzkarte zu Walter Ulbrichts Tod von 1973, die 2007 erfolgte, und der wohl dadurch veranlassten Re-Lektüre einem Missverständnis, das er jetzt beklagt.

Auf drei Flüchtigskeitsfehler in der im Ganzen soliden Arbeit sei hingewiesen. Der Verfassungsrichter Martin Drath wird ständig falsch geschrieben: Draht (34 f.; 202, 213). Abendroths Aufenthalt in der SBZ (1947/48) wird unrichtig – 1948/49 – datiert. (62) Der Putsch in Chile fand nicht 1972 statt, sondern 1973. (160)

Georg Fülberth

Westdeutscher Staatsschutz

Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Wallstein, Göttingen 2013, [= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 13], 524 S., 39,90 Euro.

Die Lektüre dieser 2010 an der FU Berlin vorgelegten und überarbeiteten Dissertation des 1975 geborenen Zeitgeschichtlers Dominik Rigoll ruft angesichts der Fülle des Materials zu Personen, politischen Entscheidungen und gerichtlichen Urteilen Irritationen hervor. Folgendes Resümee von Rigoll provoziert Widerspruch: „in der Bundesrepublik der Berufsverbote und des Deutschen Herbstes“ hätte sich der „Rechtsstaat, in dem sich die Gesellschaft mittels Verrechtlichung unaufhörlich selbst diszipliniere“ (478), offenbart.

Im ersten Teil „Innere Friedenssicherung und antitotalitärer Dissens“ geht es um die unterschiedlichen Interpretationen von Demokratie-, Verfassungs- und Staatsfeinden. Als solche galten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund des Potsdamer Abkommens und der verschiedenen Kontrollratsgesetze ehemalige hohe Nationalsozialisten, Militaristen, Wirtschaftsführer und andere Funktionsträger des faschistischen Staates. Ihr Einfluss auf den neu zu bildenden deutschen Staat sollte mithilfe der Entnazifizierung ausgeschaltet werden. Nachdem die Entnazifizierung mit dem „Befreiungsgesetz“ Ende 1946 der Verantwortung der Deutschen übertragen wurde, entwickelte sie sich durch ihre Ausrichtung an einem rechtlichen Verfahren zu einem Instrument „der Rehabilitierung fast aller entlassenen Zivilbediensteten“ (38).

Die 1945 neu gebildete „Auftragsverwaltung“ bestand in den Westzonen vorwiegend aus bürgerlichen Politikern und rechten Sozialdemokraten sowie aus Antifaschisten, Sozialisten und Kommunisten. Letztere standen damals noch nicht unter Verdacht, Staatsfeinde zu sein. Vielmehr stellten sie in den neu eingesetzten Regierungen Minister, kamen in kommunale Verwaltungspositionen und waren Lizenzträger von Presseorganen. Sie beteiligten sich auch an der Erarbeitung des Grundgesetzes und der Länderverfassungen.

Mit Marshallplan, Währungsreform, zunehmender politökonomischer Westorientierung und dem Beginn des Koreakrieges kamen wieder ehemalige NS-Funktionäre zu Einfluss in Ministerien der Adenauerregierung, in staatlichen und kommunalen Polizeibehörden und im Justizapparat. Zugleich wurden Antifaschisten, Sozialisten und Kommunisten aus ihren Positionen verdrängt. Bei diesem erneuten „Elitenaustausch“ spielte der angeblich fehlende Sachverstand eine zentrale Rolle – wobei der juristische Sachverstand im Besonderen in der Übernahme nationalsozialistischer Rechts- und Organisationskenntnisse bestand.

Nach 1950 setzte eine politisch gesteuerte und von der Presse begleitete massive Kampagne gegen angeblich einen Aufstand planende Kommunisten ein, um die Wiederbewaffnung durchzusetzen und eine Bundespolizei zu gründen. Tatsächlich erlaubten die westlichen Alliierten im September 1950 die Gründung eines Außenministeriums, eines Bundeskriminalamtes, eines Inlandsgeheimdienstes und den Aufbau einer Bereitschaftspolizei in den Ländern. Am 19. September 1950 wurde der „Adenauererlass“ verkündet: unter Bezug auf § 3 des Vorläufigen Bundespersonalgesetzes für öffentliche Bedienstete wurde nun die Mitgliedschaft in Organisationen wie etwa der KPD, VVN, SRP (Sozialistische Reichs-Partei), Schwarze Front als „schwere Pflichtverletzung“ und „Bestreben gegen die freiheitlich demokratische Staatsordnung“ gewertet.

Die Zeit der Remilitarisierung schien gekommen. Die auf Bitten der Alliierten erstellte „Himmeroder Denkschrift“ über den Beitrag Westdeutschlands zu einer „europäischen Wehrmacht“ wurde „unter maßgeblicher Mitwirkung einst am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion beteiligter Wehrmachtsgeneräle“ (91) erstellt. Sie forderte die „Freilassung der als ‚Kriegsverbrecher‘ verurteilten Deutschen“ (91); dem kamen die USA mit der Begnadigung der inhaftierten Militärs im Januar 1951 nach. Auch ein politisches Strafrecht wurde zugestanden; dieses trat mit „der Verabschiedung des Ersten Strafrechtsänderungsgesetzes am 31. August 1951“ mit den Stimmen „der Regierungskoalition und der Mehrheit der SPD-Abgeordneten“ (106) in Kraft. Durch dessen Bestimmungen in §§ 80 bis 101 war „alles, was Kommunisten unterstützten, sofort verfassungsfeindlich“ (106).

Der BGH definierte in seinem Urteil vom 8. April 1952 die Verbindung zu SED, KPD und ihren Umfeldorganisationen als Hochverrat. Aufgrund dieser rechtlichen Bestimmungen wurde in der Zeit von Frühjahr 1952 bis Mai 1968 gegen 125.000 Personen ermittelt; etwa 7.000 Personen wurden zu – auch mehrjährigen – Haftstrafen verurteilt; es gab zahlreiche Berufsverbote im Staatsdienst (107). Schließlich wurden die im Adenauererlass und im Strafrechtsänderungsgesetz geprägte fdGO-Formel ins Presse- und Versammlungsrecht, ins Bundesentschädigungsgesetz (1953), ins Staatsangehörigkeitsgesetz (1957) und ins Ausländergesetz (1965) aufgenommen und auch über Urteile des Bundesdisziplinargericht exekutiert.

Es muss niemand wundern, dass dieses gesellschaftspolitische Klima rechtsextreme und paramilitärische Organisationen wie die „Organisation Peters“ und nationalsozialistische Unterwanderungspläne bürgerlicher Parteien wie der nordrheinwestfälischen FDP („Naumannaffäre“) begünstigte.

Der grundlegende staatspolitische Restaurationsprozess wurde abgeschlossen mit der Ernennung des ehemaligen NS-Juristen Hubert Schrübber zum Präsidenten des BfV nach dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrages (1955), dem KPD-Verbot (1956) und dem Prozess gegen das Friedenskomitee (1959-1960), dem „größten politischen Prozess seit Nürnberg“ (139). Diese Politik lässt sich an einem BGH-Urteil veranschaulichen: 1956, im Jahr des KPD-Verbots, entschied der Große Zivilsenat des damals obersten (bundesdeutschen) Strafgerichts im Zusammenhang mit der (Wieder-) Beschäftigung von im deutschen Faschismus „belasteten“ Staatsdienern, den nach Artikel 131 des Grundgesetzes sogenannten Hunderteinunddreißigern, dass der nationalsozialistische Staat 1933-1945 „im Kern ein Rechtsstaat“ war.[1]

Gewiss gab es in diesem gesellschaftspolitischen Prozess auch abweichende Haltungen von Juristen, Politikern und Journalisten. Rigoll stilisiert diese in falscher Verallgemeinerung zum „antitotalitären Dissens“ und verortet sie unzulässig vor allem in der Rechtsprechung zwischen BVG (Bundesverfassungsgericht) und BGH.

Im zweiten Teil seines Buches geht es um die „Neujustierung des Staatsschutzes in den sechziger Jahren“. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Anpassung der SPD an die CDU/CSU-geführte Regierungspolitik wurden einerseits Repressionen gegen Opponenten dieser Politik fortgesetzt und gerichtlich ausgeweitet: so etwa durch das BVG-Urteil von 1960, das auch Beamten auf Widerruf die Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei, die sich „nicht für die bestehende demokratische Staatsauffassung einsetzt“ (149) untersagte. In den Blick von Sicherheitsorganen und antikommunistischer Presse gerieten so Menschen, die brieflich Ostkontakte pflegten.

Andererseits formierte sich erneut eine Oppositionsbewegung gegen die Atombewaffnungspläne der Bundeswehr, gegen Notstandspläne und gegen den Einbezug ehemaliger exponierter Nationalsozialisten in Justiz, Politik und Verwaltung. Rigoll verweist in diesem Zusammenhang auf die Karlsruher Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz (1959), auf Texte von Ulrike Meinhof, Reinhard Opitz und Klaus-Rainer Röhl in der Zeitschrift konkret, auf Artikel in Die Zeit und in Der Spiegel sowie auf Rolf Seelingers Dokumentation in den Heften Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute (1966). Die öffentliche Thematisierung von Aufrüstungspolitik und personeller NS-Kontinuität begünstigte die Gründung der Deutschen Friedensunion (DFU) 1960 und führte zur Einstellung des Prozesses gegen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) durch Änderung des Vereinsgesetzes 1964.

Von einer „Liberalisierung“ kann bis Mitte der 1960er Jahre nicht gesprochen werden: Vielmehr verfolgte der ehemalige NS-Jurist Hermann Höcherl als Innenminister weiterhin das VVN-Verbot und legte 1962 den Entwurf eines Notstandsgesetzes vor. 1964 wurde Heinrich Lübke zum Bundespräsidenten gewählt. 1965 propagierte Ludwig Erhard das Konzept „Formierte Gesellschaft“. 1966 lief der Entwurf des politischen Strafrechts auf „Verschärfung der Repressionen“ (190) hinaus. Und unter der im Dezember 1966 gebildeten großen Koalition auf Bundesebene von CDU/CSU und SPD wirkten mit Kurt Georg Kiesinger (CDU; 1933-1945 NSDAP) als Bundeskanzler und Karl Schiller (SPD; 1937-1945 NSDAP) als Wirtschaftsminister an exponierter Stelle des bundesrepublikanischen Staates erneut NS-Parteigenossen.

Kulminationspunkte der Proteste wurden jedoch seit 1965 der Kampf gegen die Notstandsgesetze und Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg der USA.

Parallel mit der Neuausrichtung der Ostpolitik zur Entspannungspolitik gab es 1968 „die wohl umfassendste Neujustierung der inneren Sicherheit seit 1950, zu der neben der Notstandsverfassung auch zwei Amnestiegesetze gehörten“ (203), und die Entschärfung des politischen Strafrechts sowie im Oktober 1968 die Gründung der Deutschen Kommunisten Partei (DKP). Zugleich erfolgte durch das neue Ordnungswidrigkeitsgesetz die Amnestierung von „Staats- und Blutsschützern“. Die zeitliche Koinzidenz verleitet Rigoll zur Vermutung, dass „westdeutsche 49er und ostdeutsche 45er-Interessen“ (469) zusammengespielt hätten.

Der Handlungsraum der legalen DKP wurde schon im Januar 1969 wieder eingeengt: das BVG übernahm den Begriff der „streitbaren Demokratie“ (Kurt Behnke), eine Verkehrung von militant democracy, um verbürgte Grundrechte weiter auszuhöhlen: „Und indem das Gericht den von der politischen Justiz vor 1968 geprägten Verfassungsfeind-Begriff erstmals übernahm, nannte es auch die künftigen Objekte seiner derart neujustierten streitbaren Demokratie gleich bei Namen: Angehörige und Sympathisanten der KPD-Nachfolgepartei.“ (221)

Im dritten Teil der Studie verfolgt Rigoll den Weg bis zur Verabschiedung des Radikalenerlasses am 28. Januar 1972. Mitte 1971 wurde auf Vorschlag des Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet. Sie sollte erneut Dienst- und Strafrechtsänderungen diskutieren. Gleichzeitig ging es um die Gestaltung des Hochschulrahmengesetzes, den Wahlkampf in Bremen und um die Bändigung der Linken, vor allem der „Stamokap“-Jungsozialisten in der SDP. Im November 1971 legte dann die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ihren Bericht vor. Es ging in ihm weniger um „effektive Säuberung als um einen Einschüchterungseffekt“ (296). Rigoll vermutet, dass dabei die soziale Öffnung der Universitäten für Arbeiter- und Angestelltenkinder eine nicht unwesentliche Rolle gespielt habe. Der AG-Vorschlag ähnelte im Wortlaut und in der angehängten Organisationsliste dem Adenauererlass von 1950.

Der am 16. Dezember 1971 in Hamburg durch Senatsbeschluss verabschiedete Radikalenerlass verpflichtete jeden Beamten dazu, dass er „durch sein gesamtes Verhalten die Gewähr dafür bieten muss, dass er sich jederzeit zu der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennt und für ihre Erhaltung“ eintritt (300). An der Junglehrerin Heike Gohl wurde wegen Mitgliedschaft in der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) ein Exempel statuiert, auch um auszutesten, ob der Einschüchterungsversuch stärker als der Solidarisierungseffekt wirkte. Am 28. Januar 1972 wurde der Radikalenerlass (auch Extremistenbeschluss) der Ministerpräsidenten der Länder und des Bundeskanzlers Willy Brandt gefasst. Im Gegensatz zum Hamburger Erlass, der den Ausschluss aus dem öffentlichen Dienst aus den als „verfassungsfeindlich“ erklärten Organisationen ableitete, zielte der Januarbeschluss auf die Einzelfallprüfung und -entscheidung von Beamten, Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienst sowie die Möglichkeit ihrer gerichtlichen Überprüfung. Gleichwohl zirkulierte intern eine von der Innministerkonferenz im April 1972 erstellte Liste mit Organisationen (wie etwa DKP, SDAJ, KPD/ML, NPD), die die Regelfallanfrage bei Verfassungsschutzbehörden erleichtern sollte.

Die Wirkung des Beschlusses und der Regelanfragen reichte über die Säuberung des Personalbestandes im öffentlichen Dienst von sogenannten „Verfassungsfeinden“ hinaus: Es ging um weiteren Ausbau der Verfassungsschutzämter, Einschüchterungseffekte, Verhinderung inhaltlich radikaler, kontroverser Ausein­andersetzungen, die präventive Erfassung von Protestbewegungen und um Auswirkungen auf nichtstaatliche Verbände, Organisationen und Berufsfelder (etwa Gewerkschaften, private Bildungseinrichtungen, Verlage).[2]

Als sich Widerstand auch in der SPD regte und sich Mitte April 1973 auf ihrem Bundesparteitag in Hannover ausdrückte, „stilisierte Brandt die anstehende Abstimmung zu einem Votum gegen ihn und die anderen sozialdemokratischen Regierungschefs“ (374) – und brachte damit die Kritiker zum Schweigen.

Der in- und ausländische öffentliche Protest, organisiert etwa von der Initiative „Weg mit den Berufsverboten“, dem „Internationalen Russel-Tribunal“ und anderen Initiativen hielt an. Er führte angesichts der massenhaften Anfragen an Verfassungsschutzämter – 1978 gab es etwa 1,3 Millionen Anfragen und 15.000 Erkenntnisse, die zu etwa tausend Bewerberablehnungen führten (444) – auch zum Meinungsumschwung in der westdeutschen Bevölkerung. Die Konsequenz war die Abschaffung der Regelanfrage am 1. April 1979. Tatsächlich aber war die „‚Liberalisierung‘ der Ablehnungspraxis … eine ‚optische Täuschung‘“(475), zumal und nachdem die Berufsverbotspraxis ihren Zweck erreicht hatte: „Der Radikalenerlaß hat erreicht, was er erreichen sollte: Der Zustrom zu kommunistischen Parteien wurde sichtbar verringert.“[3]

Mit Begriffen wie „Verfassungsfeindlichkeit“ wurden kommunistische und sozialistische Parteien, Initiativen und Personen politisch ausgegrenzt, Aktivisten in ihrer bürgerlich-erwerbsbezogenen Existenz bedroht, linkspolitisch agierende studentische Organisationen verhindert; gesellschaftliche Folgen waren Misstrauen, Anpassung und die Rücknahme systemkritischen Engagements innerhalb der Jugend, junger Erwachsener und der Intelligenzschicht. Und dies in den 1970er Jahren des vergangenen „kurzen“ Jahrhunderts, als die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems in Form der „Ölkrise“ seit 1973/74 erstens sichtbar wurde und zweitens von links Alternativkonzepte erforderte.

Was Rigoll inhaltlich vorträgt, ist so neu nicht. Verwiesen werden kann auf eine richtungsweisende Entnazifizierungsstudie (1972)[4] und eine kritische Arbeit über Politische Justiz gegen Kommunisten (1978)[5] sowie Dokumentationen gegen Berufsverbote.[6]

An den Büchern von Niethammer und v. Brünneck gemessen bedeutet Rigolls personalistischer Ansatz ein Rückschritt. Es ist zu einfach gedacht, den „Radikalenerlass … als Koproduktion zwischen 49ern und ihren Nachfolgern aus der Kriegsgeneration“ (474) zu deuten, das Ende der Regelanfrage zurückzuführen auf „einen Lernprozess“ der „westdeutschen Sicherheitspolitiker“ oder „auf die Furcht der 49er … die jungen Linken könnten Erkenntnisse über ihre NS-Vergangenheit in Archiven und Bibliotheken sammeln und gegen sie in Stellung bringen“ (474), zurückzuführen. Allgemeiner ausgedrückt: Nachdem es die Verantwortlichen nicht mehr gibt, sind (nicht selten wohldotierte) Aufarbeitungskommissionen heute, wenn überhaupt, von begrenzt zeitgeschichtlichem Interesse und politisch überflüssig. Und entweder, wie am Auswärtigen-Amt-Beispiel herausgearbeitet,[7] politikhistorisch dürftig. Oder aber, wie das aktuelle Beispiel der „Rosenburg“[8] des Bundesjustizministeriums und dessen „erfolgreicher“ Renazifizierung bis Mitte der 1960er Jahre zeigt,[9] inzwischen praktisch-politisch folgenlos.

Dem Rigoll-Buch ermangelt es in Inhalt und Form an Weiterem: Zunächst fehlen sowohl klar formulierte Thesen als auch zusammenfassende Ausblicke. Zweitens wird teilweise in sujetfremdem sprachlichem Jargon geschrieben. Drittens kann Geschichte nicht narrativ in Geschichten aufgelöst werden. Viertens vernebelt personales Denken den auch zeitgeschichtlich nötigen Zugang zu Strukturen: Das zeigt sich beispielhaft am fehlenden Rückbezug auf wirtschaftliche Entwicklungen,[10] auf (inner)gewerkschaftliche Auseinandersetzungen und auf jugendliche Protestbewegungen. Und fünftens scheut Rigoll die Anstrengung des Begriffs, sowohl was das Totalitarismus-Antitotalitarismusdogma als auch was den Charakter des Staates betrifft: Auch – und gerade – in staatlichen Herrschafts- und Repressionsapparaten wie Militär und Polizei, Justiz und Verwaltung drücken sich sozio-ökonomische Verhältnisse aus.

Wilma Ruth Albrecht

Krisen und die Spielarten des Kapitalismus

Ian Bruff/Matthias Ebenau/Christian May/Andreas Nölke (Hrsg.), Vergleichende Kapitalismusforschung: Stand, Perspektiven, Kritik, Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, Westfälisches Dampfboot, Münster 2013, 288 S., 24,90 Euro.

Die Wirtschaftswissenschaften werden derzeit global von neoklassischen Ansätzen dominiert, deren Gegenstand die Analyse von Marktprozessen ist. Andere wissenschaftliche Paradigmen haben es dagegen schwer, sich im akademischen Betrieb – von der medialen Präsenz ganz zu schweigen – zu behaupten. Daneben hält sich eine andere Position, die sich „um das wachsende institutionalistische Paradigma“ gruppiert (23). Dabei geht es darum, dass auch Märkte Institutionen sind, d.h. dass Marktprozesse und ihre Ergebnisse je nach ihrer institutionellen Einbettung durchaus unterschiedlich sein können. Gesellschaftliche Institutionen sind, um mit Douglass C. North, einem der Hauptautoren des Institutionalismus zu sprechen, Spielregeln des gesellschaftlichen Zusammenhangs („rules of the game“), während Organisationen die Akteure („players of the game“) bezeichnen.

Nun ist der Institutionalismus (oder auch: Neuer Institutionalismus) eigentlich ebenfalls marktradikaler Provenienz – viele der dem Institutionalismus verpflichteten Autoren behaupten, Marktprozesse seien nur dann effizient, wenn ganz bestimmte Institutionen wie z.B. individuelles Privateigentum, Vertragssicherheit, freie Lohnfindung usw. gegeben seien. So finden sich dort durchaus auch massiv gewerkschaftsfeindliche Positionen, die Organisationen der abhängig Beschäftigten als marktfeindliche Eingriffe ablehnen. In diesem Sinne ergänzt die Institutionentheorie also lediglich die Neoklassik.

Allerdings bietet der Institutionalismus auch Ansatzpunkte für kritische Positionen, die dem Marktradikalismus insofern eine Absage erteilen, indem sie unterstreichen, dass Institutionen durchaus ein gesellschaftliches Eigenleben führen, dass sie von einer Vielfalt von sozialen und kulturellen Elementen bestimmt werden, dass Märkte, eben weil diese selbst Institutionen sind, immer gesellschaftlich und politisch eingebettet sind. Eine der sich auf kritische Elemente der Institutionentheorie beziehende Forschungsrichtung ist die „Vergleichende Kapitalismusforschung“ (VKF), die sich aktuell mit der Bestimmung von „Spielarten des Kapitalismus“ bzw. „Varieties of Capitalism“ (VoC) befasst. Der vorliegende Sammelband gibt im Wesentlichen die Ergebnisse einer Konferenz der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung und der Goethe-Universität Frankfurt/M. 2011 wieder, welche sich kritisch auf aktuelle Tendenzen der VKF bzw. des VoC-Ansatzes bezieht.

Es kann im Rahmen einer Rezension nicht auf alle 15 Beiträge des Bandes eingegangen werden, die thematisch und qualitativ sehr breit gestreut sind. Auch die von der Redaktion vorgenommene Aufteilung in die drei Hauptabschnitte „Vergleichende Kapitalismusforschung – Kritische Bestandsaufnahme“, Neoinstitutionalismus – Varianten und Entwicklungen“ und „Jenseits des Neuen Institutionalismus – Radikale Alternativen und neue Ansätze“ ist nicht wirklich hilfreich. Denn fast alle Beiträge beginnen mit einer mehr oder weniger ausführlichen Darstellung und Kritik des VoC-Mainstreams und entwickeln Ideen für eine Überwindung der festgestellten Schwächen. „Stand“ und „Kritik“ des VoC-Ansatzes sind dabei oft gut ausgearbeitet, während sich die „Perspektiven“ meist auf der Ebene von oft recht vage formulierten Forschungsfragen bewegen, d.h. wenig handfeste Alternativen bieten.

Ausgangspunkt der Konferenz bzw. des Sammelbandes ist die Feststellung, dass die VKF bzw. der VoC-Ansatz kaum taugliche Antworten auf die globale Wirtschaftskrise geben konnten – die Autoren der Beiträge teilen also eine mehr oder weniger kritische Haltung gegenüber den Hauptthesen dieser Forschungsrichtung. Die VKF ist im Prinzip ein sehr alter Ansatz, in gewissem Sinne könnte man z.B. Lenin, Hilferding oder Bucharin zu Vertretern der VKF erklären, da sie die inneren Strukturveränderungen kapitalistischer Gesellschaften analysierten, sich also bewusst waren, dass die allgemeinen Bestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise sich konkret durchaus unterschiedlich (hier im Zeitverlauf) darstellen. Einer der Autoren, Terrence McDonough, bezieht sich explizit auf die marxistischen Stadienanalysen (211). Wirkliche Breite erreichte die VKF in Gestalt der VoC-These aber erst nach 1989, dem Zusammenbruch des ‚realen’ Gegenbilds zum Kapitalismus. Dem kapitalistischen Triumphalismus, der den weltweiten Siegeszug des marktradikalen ‚Washington Consensus’ bejubelte, hielt ein Teil der Institutionalisten entgegen: Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus, es gäbe ganz unterschiedliche Varianten, die jeweils erfolgreich sein könnten. Am bekanntesten wurde diese Position durch das Buch von Michel Albert, „Kapitalismus contra Kapitalismus“ (1992), der wesentlich zwei Typen von Kapitalismen identifizierte: Das Modell des „rheinischen Kapitalismus“ Mitteleuropas und Japans einerseits (Coordinated Market Economies – CME) und das angelsächsische (oder neo-amerikanische) Modell des liberalen Kapitalismus (Liberal Market Economies – LME) andererseits. Beide Modelle seien in jeweils unterschiedliche nationale Institutionen von Arbeitsmärkten, Unternehmensverfassungen, Kreditsystemen usw. eingebettet und verfolgten jeweils eigene Entwicklungslogiken. Albert begründete damit insbesondere die These, dass es nicht ein einziges effizientes Modell gäbe, das die nationalen kapitalistischen Ökonomien durchaus mit unterschiedlichen Strategien wettbewerbsfähig sein könnten. Bruff/Hartmann verweisen auf eine Kernaussage der VKF, welche die These zurückweist „dass die Globalisierung zu einer Konvergenz institutioneller Systeme führen würde.“ (37) Die verschiedenen Spielarten des Kapitalismus – deren Zahl und Unterscheidungsmerkmale in der VKF-Forschung inzwischen Legion sind – verfolgten ihre jeweils eigenen Entwicklungswege.

Fast alle Beiträge verweisen auf folgende Schwachstellen: Obwohl es um Spielarten des Kapitalismus geht, fehlt ein Verständnis von Kapitalismus – die meisten Autoren nennen Faktoren wie Privateigentum, Wettbewerb und Märkte, d.h. Merkmale, die für viele Produktionsweisen zutreffen. Lohnarbeit, insbesondere den Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital, findet kaum ein VoC-Vertreter erwähnenswert.

Dies ist insofern erklärlich, als die VoC-Forscher sich nur für die Stabilität, nicht etwa für Veränderungen, geschweige denn für Krisenfaktoren ihrer ‚Spielarten’ interessieren. Der VoC-Ansatz ist daher oft statisch und hat Schwierigkeiten, Veränderungsprozesse einzubeziehen. Krisen und Krisenanalysen passen nicht ins Untersuchungsraster.

Die meisten VoC-Vertreter beschränken sich bei ihren empirischen Untersuchungen auf die hoch entwickelten Wirtschaftsmächte der ‚Triade’ Nordamerika, Westeuropa und Japan. Die aufstrebenden Länder der Peripherie werden selten einbezogen.

Die untersuchten Spielarten und Modelle orientieren sich am Nationalstaat, es fällt den meisten Forschern schwer, Globalisierungsprozesse bzw. andere räumliche Kategorien neben dem Nationalstaat einzubeziehen.

Die meisten Autoren des Sammelbandes wollen Wege aufzeigen, auf denen diese Mängel entweder im Rahmen der VKF oder aber durch andere Paradigmen überwunden werden können. David Coates verweist auf die Notwendigkeit, „das jeweilige Wesen der Klassenbeziehungen“ (32) als formgebend zu begreifen, wobei es für ihn vor allem um die Periodisierung in der Entwicklung des Kapitalismus als durch Widersprüche gekennzeichnete Produktionsweise geht. Diese Widersprüche äußern sich u.a. in Form von sozialen Auseinandersetzungen – aber merkwürdigerweise befasst sich keiner der Autoren mit der Frage, wie Form, Schärfe und Entwicklungstendenz von sozialen Auseinandersetzungen, die wesentlich durch nationale Milieus und Beziehungen gekennzeichnet sind, mit dem VoC-Ansatz vermittelt werden könnten. Der Anspruch, den Kapitalismus nicht nur als allgemein krisenhaft darzustellen sondern dies mit den verschiedenen ‚Spielarten’ in Beziehung zu setzen, kann letzten Endes nicht eingelöst werden. Der Beitrag von Becker/Jäger (163ff.) befasst sich zwar explizit mit der europäischen Wirtschaftskrise, die Autoren stellen aber (offensichtlich bewusst) keinen Bezug zur Typenbildung der VoC her. Sie unterscheiden zwar zwischen verschiedenen europäischen Ländergruppen, gruppieren diese aber nicht nach institutionellen, sondern nach Kriterien der ökonomischen Stärke. Ohne sich explizit auf VoC-Ansätze zu beziehen, scheinen sie davon auszugehen, dass es zumindest im Rahmen der EU zu einer gewissen Vereinheitlichung auf der Ebene der Regulation kommt, was zugleich aber zu einer Verschärfung der ökonomischen Gegensätze führt.

Einige Autoren setzen sich mit der ‚eurozentristischen’ Sichtweise der VKF auseinander, d.h. sie kritisieren deren Beschränkung auf die entwickelten kapitalistischen Länder. Merkwürdigerweise klammern sie dabei historische Zugänge zur nachholenden Entwicklung weitgehend aus. Eine Ausnahme ist der Beitrag von Jane Hardy, die sich auf die marxistische Theorie der ungleichen Entwicklung stützt (die sie Trotzki zuschreibt): Sie verweist darauf, dass in der nachholenden Entwicklung die ‚rückständigen’ Länder oft Entwicklungsetappen überspringen und Elemente aus den fortgeschrittensten Ländern übernehmen, ohne dass sich dadurch ihre Strukturen ändern, d.h. „… innerhalb der eigenen internen Strukturen kann ein Land moderne und archaische Bestandteile kombinieren und dadurch eine neue spezifische Mischform hervorbringen, durch die es sich von konkurrierenden Ländern unterscheidet.“ (201) Hardy nennt das (mit Trotzki) „kombinierte Entwicklung“. Die übrigen Beiträge, die versuchen, den VoC-Ansatz für andere Länder und Regionen nutzbar zu machen verweisen – wie z.B. Matthias Ebenau und Drahokoupil/Myant – auf die Notwendigkeit, ungleiche Machtbeziehungen in die Analyse einzubeziehen. Ohne dies explizit zu formulieren halten sie offensichtlich an der Annahme fest, die Schwellen- und Entwicklungsländer befänden sich weiter in Abhängigkeit vom entwickelten Zentrum. Ebenau zufolge stellt „das Konzept ‚abhängiger Marktökonomien’ … für empirische Untersuchungen kapitalistischer Organisation in peripheren Kontexten einen guten ersten Ansatzpunkt dar.“ (82) Es fällt allerdings schwer, Länder wie China oder Brasilien weiter als „abhängige Marktökonomien“ zu begreifen.

Die unzureichende Berücksichtigung der Globalisierungsprozesse in der VKF wird von vielen Autoren beklagt. Bob Jessop fordert: „Statt sich auf abstrakte Spielarten zu fokussieren, sollte vielmehr die Art und Weise, in der die globale Kapitalakkumulation innerhalb des Weltmarktes von der Reproduktion vielfältiger Akkumulationsregime abhängig ist, im Zentrum stehen.“ (56) Wie genau das zu erfolgen hat und welche Rolle die verschiedenen Kapitalismusmodelle (die man sich Jessop zufolge dynamisch vorzustellen hat) spielen, bleibt aber einigermaßen unklar. Der Satz „die Temporalitäten verschiedener Kapitalismusmodelle sind durch eine Beurteilung ihrer Kompatibilität zu untersuchen“ (59) gibt jedenfalls einige Rätsel auf. Die wichtige Frage, wie der Weltmarkt die national definierten Kapitalismusmodelle letzten Endes verändert, ob es tendenziell doch zu einer institutionellen ‚Vereinheitlichung’ kommt (Becker/Jäger scheinen dies zumindest für die EU anzunehmen) bzw. wie die institutionell unterschiedlichen Kapitalismusspielarten die Weltmarkteinflüsse (möglicherweise jeweils unterschiedlich?) verarbeiten, verbleibt im Ungefährem. Immerhin bestreitet Jessop explizit, „dass es auf globaler Ebene eine singuläre Logik gebe, die mit einer singulären Direktionalität operiert.“ (69) Im Gegensatz zum VoC-Mainstream stehen Jessop zufolge die verschiedenen national verstandenen ‚Spielarten’ nicht in einem friedlichen Wettbewerb miteinander, sondern befinden sich in einem durch Machtbeziehungen geprägten Gegensatz, bei dem bestimmte Akkumulationsregime auf andere einwirken (Jessop nennt das „ökologische Dominanz“).

Der Leser des Sammelbands gewinnt am Ende einen recht guten Überblick über die wichtigsten Aussagen der VKF und des VoC-Ansatzes und vor allem über ihre Schwächen und Leerstellen. Wie diese Schwächen – innerhalb oder außerhalb der VKF – zu überwinden wären, bleibt hingegen offen. Teilt man die Grundüberzeugung der modernen VKF – dass es verschiedene institutionell unterschiedliche ‚Spielarten’ von Kapitalismus gibt – so wäre u.a. zu untersuchen, ob bzw. wie sich das auf den Verlauf und die Verarbeitung der globalen Krise in den jeweiligen Ländern oder Regionen/Lokalitäten (wenn man den Nationalstaat als Untersuchungseinheit für unzureichend hält) widerspiegelt. Dabei müssten die sozialen Auseinandersetzungen, ihr Verlauf und ihre Wirkungen im Mittelpunkt stehen.

Jörg Goldberg

Deutsche Wirtschaft seit 1990

Hans Mittelbach, Lohn und Kapitaleinkommen in Deutschland 1990 bis 2010. Zur Kritik neoklassischer und neoliberaler Modelle, PapyRossa Verlag, Köln 2013, 589 S., 36,- Euro.

Hans Mittelbach hat sein Buch über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der vereinigten Bundesrepublik nach einem verblüffend einfachen Rezept geschrieben: Man nehme die vom „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ zwischen 1990 und 2012 vorgelegten Jahresgutachten, füge die jährlichen Memoranden der Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik hinzu und vergleiche sie untereinander und miteinander über die Jahre. Das Ergebnis ist – gemessen an den Voraussagen neoliberaler Ökonomen über die positiven Folgen des konsequenten Ausräumens planwirtschaftlicher Strukturen zugunsten marktwirtschaftlicher – verblüffend: Die „sofortige fast hundertprozentige Angleichung des Wirtschaftssystems führte auch mehr als 20 Jahre nach der deutschen Vereinigung noch nicht zu einer quantitativen Angleichung der Wirtschaftsleistung und der Einkommen und Vermögen“. (8)

Das Buch gewinnt gegenüber seinen Vorlagen eine ganz eigene Qualität durch Herausarbeitung der langfristigen Entwicklungstrends und der Offenlegung ihrer Ursachen. Bei der Suche nach den allen neoklassischen Modellen widersprechenden Ergebnissen verarbeitet Mittelbach auch die in den vergangenen zwei Jahrzehnten veröffentlichten vielen affirmativen und die in geringerer Zahl entstandenen kritischen Veröffentlichungen zur Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und insbesondere zum „Aufschwung Ost“. Immer wieder beschäftigt sich Mittelbach mit der Frage, wie erfolgreich die theoretischen Strategien und Konzepte der Vereinigungspolitik waren und scheut sich nicht, ins Detail zu gehen, wenn er fragt: „War die schnelle Privatisierung via Treuhandanstalt der beste Weg für die Modernisierung und Erweiterung des ostdeutschen Produktionsvermögens, hat die Politik der Lohnzurückhaltung wirklich mehr Arbeitsplätze im Inland geschaffen und stimmt es, dass die Mehrgewinne für mehr beschäftigungswirksame Investitionen verwendet werden?“ (8) Mittelbachs Antwort ist eindeutig: Es gab „ein gravierendes Versagen bei der Modernisierung und Erweiterung der ostdeutschen Industriebetriebe. Das Fazit der Erfahrungen mit der Privatisierung des ostdeutschen Produktionsvermögens durch Etablierung neuer Eigentümer zeigt, dass eine überdehnte Privatisierung ebenso kontraproduktiv ist wie eine überdehnte Verstaatlichung, wie sie in der DDR besonders seit den 70er Jahren praktiziert wurde.“ (13)

Aus der konkreten Darstellung des ökonomischen Geschehens der 90er Jahre und des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts gelangt Mittelbach immer wieder zu Ergebnissen, die für linke, um Wege aus der Krise, die in eine Transformation münden könnten und um das zukünftige Sozialismusbild ringende Wirtschaftswissenschaftler Denkanstöße liefern.

Dabei bedient sich Mittelbach wiederholt der Komparation. Von unmittelbarem Interesse sind seine Vergleiche der deutschen „Währungsunion“ von 1990 mit der Einführung einer einheitlichen Währung im Euro-Raum knapp zwei Jahrzehnte später. Mit der Übernahme der DM durch die DDR im Juli 1990 habe in Deutschland (Ost wie West) ein intensiver Verteilungskampf zwischen Lohn- und Kapitaleinkommen seinen Anfang genommen. Dieses sozial relevante Resultat einer auf den ersten Blick rein finanzpolitischen Maßnahme habe unerwartet an Aktualität gewonnen, da einige Jahre nach der Einführung einer einheitlichen Währung im Euro-Raum in den weniger entwickelten Ländern ähnliche wirtschaftliche Probleme entstanden sind wie in Ostdeutschland 1990/1991. Anders als in der planwirtschaftlich organisierten DDR, wo die Folgen der Zusammenführung unterschiedlich entwickelter Ökonomie in einem Währungsraum sofort spürbar waren, seien die Probleme innerhalb des Euroraums erst nach einer Reihe von Jahren, dann aber auch mit voller Wucht aufgetreten. (18)

Diese Erfahrung wird im ersten der sechs Kapitel des Buches behandelt. Kapitel 2 analysiert den erreichten Stand der Produktions- und Produktivitätsentwicklung Ostdeutschlands mehr als 20 Jahre nach der Vereinigung. Mittelbach stellt fest: „In Ostdeutschland bildeten sich eine weitgehend fremd bestimme Dependenzökonomie und eine extrem produktionsschwache Wirtschaftsstruktur heraus.“ (11). Im dritten Kapitel geht es Mittelbach um die Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse in Ostdeutschland und die damit verbundenen wirtschaftstheoretischen und -praktischen Probleme. Kapitel 4 handelt von den Ursachen unzureichender Investitionsbereitschaft des deutschen Kapitals in den neuen Bundesländern. In diesem wie in anderen Kapiteln präsentiert Mittelbach handfeste Vorschläge, wenn er z. B. die Kapitaltransfers in den Osten unter Effizienzgesichtspunkten untersucht und zu dem Schluss kommt: „Effekte können besser erreicht werden, wenn die Fördermittel nicht verschenkt, sondern in Form einer öffentlichen Beteiligung an privaten Investitionen bzw. Unternehmen in der Regel als stille Beteiligung unter 50% vergeben werden.“ (15) Kapitel 5 ist den Zusammenhängen zwischen Einkommen und Beschäftigung gewidmet. Mittelbach setzt sich mit der These des Sachverständigenrates von der beschäftigungsorientierten Lohnpolitik auseinander, die davon ausgeht, dass durch Lohnzurückhaltung Mehrbeschäftigung erreicht werden könne. Der Autor vertritt dagegen die Auffassung, dass nur eine leistungsgerechte Differenzierung der Einkommen und Vermögen eine hohe Wirtschaftsleistung ermögliche, diese jedoch unter den gegebenen ökonomischen Machtverhältnissen nicht erreicht werden könne. Im 6. Kapitel wird der Zusammenhang zwischen Familien- und Renteneinkommen einerseits und der Überalterung der Bevölkerung andererseits untersucht. Die daraus entstehenden Probleme würden sich ganz besonders in Ostdeutschland häufen. Der Autor warnt davor, vom Umlageverfahren der Rentenfinanzierung, das sich (auch während der Wiedervereinigung) bewährt habe, zugunsten von Kapitaldeckungsverfahren abzugehen.

Mittelbach illustriert seine Analysen durch eine Vielzahl von Graphiken, belegt seine ordnungspolitisch relevanten Schlüsse mit aufschlussreichen Tabellen. Der Leser wird nicht nur über das in der deutschen Wirtschaft seit 1990 Geschehene informiert, ihm werden immer wieder auch darüber hinausreiche wirtschafstheoretisch relevante Erkenntnisse vermittelt. Es ist diese Kombination von Empirie und Theorie, die Mittelbachs Publikation auszeichnet.

Jörg Roesler

Marxistische Analyse des Mensch-Natur-Verhältnisses

John Bellamy Foster, Brett Clark, Richard York, Der ökologische Bruch. Der Krieg des Kapitals gegen den Planeten. Aus dem us-amerikanischen Englisch von Klaus E. Lehmann, LAIKA-Verlag, Hamburg 2011, 494 S., 39,90 Euro.

Wie Marx im Kapital festhielt, ist der Stoffwechsel – oder wie der Chemiker Justus Liebig Mitte des 19 Jahrhunderts schrieb: der Metabolismus – zwischen Menschen und Natur eine „ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam“ (MEW 23: 198). Die historischen Formationen gesellschaftlicher Beziehungen unterscheiden sich allerdings dadurch, wie sie dieses gesellschaftliche Naturverhältnis organisieren.

In der kapitalistischen Produktionsweise, soweit entwickelt Marx diesen Gedanken bereits, ist der Arbeitsprozess, in dem die menschliche Gesellschaft ihren Austausch mit der Natur praktiziert, grundsätzlich dem Verwertungsprozess des Kapitals unterworfen. Die „Tendenz des Kapitals“ besteht darin, „die natürlichen Bedingungen zu verletzen, die die Lebenskraft der Natur gewährleisten, indem es die Grundlagen untergräbt, von der die ökologische und menschliche Nachhaltigkeit abhängt“ (76). „Die metabolische Sozialordnung des Kapitalismus“ ist folglich „immanent antikökologisch“ (74). Die Verwüstungen der Umwelt für Foster und seine Kollegen also „letzten Endes vorrangig eine Frage der politischen Ökonomie“ (149).

Nichtsdestotrotz dauerte es laut Foster, Clark und York bis zum 19. Jahrhundert, bis die „zerstörerische metabolische Beziehung des Kapitalismus zur Natur“ (76) ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Bis dahin schien es, als könnten die Rückwirkungen der systematischen Naturzerstörungen vernachlässigt werden. Heute hat sich das geändert.

Aus „den Konflikten und Widersprüchen der modernen kapitalistischen Gesellschaft“ (15f.) entspringt ein „allumfassender Bruch in der menschlichen Beziehung zur Natur“ (20). Dieses „entscheidende Problem“ (155) erwächst im Wesentlichen aus „der Tretmühle der kapitalistischen Akkumulation“ (190), das heißt aus dem Zwang zum „exponentiellen ökonomischen Wachstum“ (155), das aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hervorgeht. Im Zuge dieser beständigen Anhäufung von Kapital werden die beiden „Springquellen alles Reichtums“ (MEW 23: 530) – die Erde und der Arbeiter – systematisch ausgehöhlt, um sie wie in „der griechisch-römischen Midas-Sage“ (108) in Gold zu verwandeln. Dadurch dass die kapitalistische Ökonomie „keine absoluten Grenzen seines eigenen Fortschreitens“ (31) kennt, das personifizierte Kapital die Natur als „freie Geschenkgabe“ (412) und ihre Gesetzmäßigkeiten „als einfache Schranken (statt als Grenzen) seiner eigenen Selbstausdehnung“ (269) behandelt, überschreitet sie systematisch die objektiven Grenzen der Natur. „Der ökologische Bruch ist“ also letztlich „das Produkt eines gesellschaftlichen Bruchs“ (50): der Herrschaft der Kapitalistenklasse über das Proletariat.

Entsteht in einem konkreten metabolischen Prozess einmal ein „unheilbarer Riss“ (77), bspw. durch die übermäßige Entnahme von Stickstoff aus der Luft oder die Ausrottung anderer Lebewesen, entwickelt sich eine „ökologische Krise“ (73). Da kapitalistische Gesellschaften die Ursachen für die einzelnen Krisen nicht an ihrer Wurzel beheben, kommt es zu räumlichen und zeitlichen Verschiebungen. Das heißt, der ökologische Riss wird nicht gekittet und die ökologische Krise nicht gelöst, sondern verlagert. Dies hat zur Folge, dass sich andernorts und zu einer anderen Zeit ein weiterer „irreparabler Bruch“ (119) in der „komplexen Koevolution von Natur und menschlicher Produktion“ (30) bildet, der in der Regel gravierendere Konsequenzen für Gesellschaft und Natur besitzt als der ursprüngliche Spalt im Metabolismus. Die sozialökologischen Probleme potenzieren sich.

Solange die Störungen im Stoffwechsel „lediglich“ lokalen oder regionalen Charakter hatten, waren Verschiebungen eingeschränkt möglich – trotz ihrer verheerenden Auswirkungen. Die Entwicklung des „Monopolkapitalismus“ (173), den die Autoren in Anlehnung an Paul Sweezys theoretische Überlegungen konzipieren, „hat den metabolischen Bruch auf globalen Maßstab ausgeweitet“ (77). „Die globale Ausdehnung des Kapitals führt zur Schaffung einer planetarischen ökologischen Krise“ (85), zu einem „globalen ökologischen Bruch“ (331).

Wenn die „planetarischen Grenzen“ (49) einmal überschritten worden sind, werden die ökologischen Brüche und ihre Folgen von den imperialistischen Kernstaaten wie den USA oder der EU durch einen „ökologischen Imperialismus“ (329) auf die Staaten und Bevölkerungen der globalen Peripherie abgewälzt. Darin erschöpft der ökologische Imperialismus sich allerdings nicht. Die Kernstaaten versuchen zudem mit Hilfe von politisch-ökonomischen Mitteln, sich bevorzugten Zugang zu knappen Rohstoffen zu sichern und Bedingungen für einen ungleichen Tausch herzustellen, über den sie zu Vorzugspreisen Zugriff auf Ressourcen erhalten. „Die Natur des ökologischen Imperialismus“ liegt also letztlich darin, „die ökologischen Bedingungen weltweit kontinuierlich zu verschlechtern“ (355).

Foster et al. veranschaulichen diese theoretische Argumentation sowohl an einem Modell, dem Marx schon im 19. Jahrhundert seine Aufmerksamkeit gewidmet hat, – dem durch die industrielle Landwirtschaft hervorgerufenen Nährstoffverlust kultivierter Böden in Großbritannien – als auch an einem aktuellen Modell – dem globalen Bruch im „Kohlenstoff-Metabolismus“ (116), der gegenwärtig im Klimawandel kulminiert.

„Die einzige vernünftige Antwort“ auf soziale Ausbeutung und die sukzessive Vervielfältigung ökologischer Destruktionen kann den Autoren zufolge „nur durch eine neue revolutionäre Umgestaltung in den menschlichen, sozialen und ökologischen Beziehungen“ (52) gegeben werden. Folglich kann es „keine wirkliche ökologische Revolution geben, die nicht sozialistisch wäre, keine wahrhaft sozialistische Revolution, die nicht ökologisch ist.“ (419) „’Naturrevolution’ und Sozialrevolution müssen vereint sein.“ (52) Der Zweck des Bruchs mit dem Kapitalismus ist der Aufbau eines „Metabolismus des Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (379), in dem nicht nur die Menschen, sondern wie Marx Thomas Müntzer zitierend schreibt, „alle Lebewesen (…) befreit werden“ (61). Auch wenn es in Marx’ „Zur Judenfrage“ (MEW 1: 347-377) heißt, „die Kreatur müsse frei werden“ (MEW 1: 375) und die Übersetzer sich offensichtlich nicht an dieses Original hielten, ist es bemerkenswert, dass sowohl Marx als auch Foster und seine Ko-Autoren mit Müntzers Aussage übereinstimmen.

Die „Hauptkraft für eine ökologische Revolution“ (417) soll das „Umweltproletariat“ (51) der Südhalbkugel, ein Zusammenschluss des klassischen Proletariats mit den ökologischen Bewegungen, die „Massen der Dritten Welt“ (418) bilden. Dieses müsse für eine „neue ökologische Hegemonie innerhalb der Zivilgesellschaft“ (378; Herv. i.O.) streiten, indem es eine ökologische und soziale „Gegenhegemonie auf der Grundlage sozialistischer Prinzipien“ (378) errichtet.

Christian Stache

Ökosozialistische Potenziale

Hans Thie, Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft, VSA-Verlag, Hamburg 2013, 176 S., EUR 16,80 (als Download auf den Seiten von www.rosalux.de).

Hans Thie beginnt seinen Essay mit einem hervorragenden Schachzug: Er entwirft ein konkret utopisches Bild einer radikal egalitären Gesellschaft, Egalitaria genannt. „Materiell und finanziell geht es allen gut... Wer im erwerbsfähigen Alter ist, arbeitet 30 Stunden in der Woche – mit 3.500 Euro brutto gut bezahlt. Reichlich Erholung ist garantiert...“ Die Wohnungen sind ausreichend groß und sehr günstig, die Sozialsysteme gut finanziert, die staatliche Maschinerie im Schrumpfen begriffen und Banken und Versicherungen nur noch Randerscheinungen. Die materiellen Voraussetzungen für Egalitaria sieht der Autor gegeben, weil das Beschriebene sich auf die statistische Realität der reichen deutschen Verhältnisse stützt.

Wunderbar, denkt der Leser, in dieser Welt möchte er auch leben, dafür lohnt es zu kämpfen. Doch dann kommt die Wende: Egalitaria ist in einer Welt mit ökologischen Grenzen schlicht nicht denkbar. Sie überdehnt die natürlichen Ressourcen in nahezu jeder Hinsicht. Die ökologische Katastrophe erscheint am Horizont.

Dieser Trick des Verfassers – man könnte es auch einen Brechtschen Verfremdungseffekt nennen – führt zu einem Lerneffekt und zu einer Schlussfolgerung: „Die Linke ist derzeit ohne Strahlkraft, weil sie nicht verstanden hat, dass das gesamte sozialistische Erbe nur noch dann einen Sinn hat und nur dann neu Kraft entfalten kann, wenn es im Angesicht ökologischer Grenzen neue buchstabiert wird.“ (57) Obwohl um die alten Gedanken der Arbeiterbewegung „viele kleine Satelliten moderner Programmatik wie demokratische Partizipation, Energie- und Verkehrswende“ kreisten, die Partei Die Linke sogar ein Parteiprogramm habe, welches „über weite Strecken den Geist egalitär-ökologischer Erneuerung atme, sei, so Thie, in den Köpfen der Mitgliedschaft als auch der Funktionsträger das ökologische Zeitalter noch nicht wirklich angekommen (56).

Wie Recht Thie hat, zeigt sich insbesondere angesichts der jüngsten Vorschläge von sich als links oder als alternativ verstehenden Ökonomen oder Politikern. Mit dem (neo)liberalen Mainstream teilen sie den Fetisch Wachstum. Der Unterschied liegt in der Wahl der Mittel, wie dieser zu erreichen ist. Wollen jene mit Keynes im Gepäck – zumindest mit einer bestimmten Interpretation seines durchaus auch anders auszulegenden Werkes – den Binnenmarkt stärken, Lohnzuwächse für die ArbeitnehmerInnen erstreiten, Ungleichheit abbauen und für eine antizyklische Ausgabenpolitik einstehen, setzen die Neoliberalen auf eine restriktive Haushaltspolitik und die Liberalisierung von Märkten.

Natürlich ist der Weg der von Thie scharf kritisierten Keynesianer progressiver, hätte er doch zur Folge, dass die soziale Frage unmittelbar entschärft würde. Aber eben auf Kosten eines infolge des Wachstums deutlich erhöhten Verbrauchs an Naturstoffen und eines massiv erhöhten Ausstoßes von Schadstoffen – allen voran des Treibhausgases CO2. Mittel- bis langfristig sinkt somit die Lebensqualität.

Thie sieht die Linke daher auf dem falschen Dampfer – der Titanic –, auf welchem sie Rettungsboote für alle einfordere. Die keynesianische Denkweise insbesondere kritisiert er, da sie angesichts ihrer ökologischen Umnachtung „den Untergang beschleunigt,“ indem sie mit „richtiger Wirtschaftspolitik“ für einen höheren Wachstumstrend sorgen wolle und damit das Gewicht der Ladung noch weiter erhöhe (138). Etiketten wie qualitatives, grünes, entkoppeltes oder intelligentes Wachstum seien daher nur zynisches Marketing oder aus der Not geborene Illusionen (124).

Grundlage für ein linkes emanzipatorisches Projekt, so ließe sich Thies Grundanliegen zusammenfassen, müsse daher Kenneth Bouldings vor 40 Jahren formulierter Ausspruch sein: „Wer glaubt, dass in einer endlichen Welt immerwährendes Wachstum möglich sei, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom.“

Doch freilich kritisiert Thie nicht nur die traditionelle sozialistische und kommunistische Linke. Die grünen Strömungen und die in den letzten Jahren präsenter gewordene Wachstumskritik werden gleichermaßen einer kritischen Analyse unterzogen. Thies Kritik an diesen Strömungen ist, dass sie vor den antikapitalistischen Schlussfolgerungen ihrer Kritik zurückschreckten. So blieben Märkte, Preise und von Preisen abgeleitete Einkommen der Mittelpunkt nicht nur der konservativ-liberalen, sondern auch der reformistischen und selbst der linken Überlegungen (132). Wachstumskritiker und ökologische Ökonomen wie Hermann Daly machen nicht die Wirtschaftsordnung, die Zwänge der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse zum Gegenstand ihrer Kritik.

Da beide Extreme der Debatte, die Anklage des Wachstums als Grund allen Übels sowie die Lobpreisung des Wachstums als Voraussetzung aller Lösungen, ihren spezifischen Mangel hätten, läuft Thies Argumentation auf eine Synthese hinaus: Sattes Grün braucht kräftiges Rot (vgl. 12). Rotes Grün also, sprich die Lösung der ökologischen Frage ist nur jenseits des Kapitalismus und die Beantwortung der sozialen Frage ist nur noch ökologisch ausbuchstabiert vorstellbar.

Natürlich, dieser Gedanke ist nicht ganz neu: Eine marginale ökosozialistische bzw. ökomarxistische Strömung vertritt diesen schon seit Längerem; insbesondere im angelsächsischen Raum wird diese Debatte lebhafter geführt als im Deutschen. Thie geht auf diese Debatten nur am Rande ein. Das ist ein wenig schade, schmälert aber den Wert dieses glänzend und pointiert geschriebenen Essays kaum. Traditionellen Linken, neuen Wachstumskritikern sowie Umweltbewegten und Grünen, die sich nicht vor neuen Gedanken scheuen, sei dieses Buch dringlich angeraten. Neben den hier erwähnten Aspekten finden sich ebenso geistreiche Gedanken über ein ökologisches Menschenrecht (One (wo)man, one piece of Nature), über das Wachküssen ökosozialistischer Potenziale (vor allem in Gestalt der Commons) und zur Frage, warum es kein revolutionäres Klassensubjekt mehr gibt. Bei der Diskussion dieser Frage schlägt Thies Argumentation vielleicht zu sehr ins Grüne – für Diskussionsstoff ist also gesorgt.

Fabian Westhoven

Fragen des Gesundheits
systems

Harald Weinberg/Pascal Detzler, Wettbewerb schadet der Gesundheit. Eine Analyse der Gesundheitspolitik in Deutschland, isw Spezial, Nr. 27, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V., München, Juni 2013, Schutzgebühr 3,00 Euro.

Das rührige isw legt ein weiteres Heft seiner „Spezial-Reihe“ vor, welche im A-4-Format eng bedruckt gute, kritische und preiswerte Einführungen bieten. Thema des Heftes 27 ist die Gesundheitspolitik in Deutschland. Autoren sind Harald Weinberg, Obmann der Partei Die Linke im Gesundheitsausschuss sowie sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Pascal Detzler. Auf knapp 23 Seiten werden die wichtigsten Struktur- und Organisationsmerkmale des deutschen Gesundheitssystems einführend dargestellt und kritisch beleuchtet. Im Vordergrund stehen dabei Fragen der Finanzierung und der politischen Regulierung des Gesundheitswesens – der Obertitel des Heftes – Wettbewerb schadet der Gesundheit – legt dies auch nahe.

Viele Publikationen zum deutschen Gesundheitswesen nähern sich ihrem Gegenstand historisch. Weinberg und Detzler beginnen mit dem Augenscheinlichen: der Fragmentierung des Gesundheitssystems sowie der Vielzahl an Akteuren im System (3f.). Als wichtige Akteure identifizieren sie Lobbyorganisationen (4). Ausgehend von der Feststellung, dass deren Handwerkszeug Informationen und Fehlinformationen sind (4), starten die Autoren eine erste ideologiekritische Aufklärung. Im Anschluss an Reiners´ Destruktion von Mythen der Gesundheitspolitik sollen weitere Mythen und Irrtümer in Exkursen dargestellt werden (4). Zunächst jedoch wird materialistisch einführend kurz die Bedeutung der Arbeit im Gesundheitswesen referiert, bevor grundsätzlich die Finanzierungsform über Krankenkassenbeiträge erläutert wird (5). Ein Merkmal des Heftes wird bereits auf den ersten Seiten deutlich: Zahlreiche in den Textfluss eingebundene Grafiken illustrieren statistisch und empirisch die Aussagen der Autoren. Mithilfe derselben wird auch in diesem Text der „Mythos Kostenexplosion“ aufgeklärt (6f.). Vom recht allgemeinen der Erörterung der Finanzierung kommen die Autoren hier schnell zum speziellen der politischen Vorschläge der Partei Die Linke: Für manchen Leser wird der Sprung hin zu verschiedenen Bürgerversicherungskonzepten der Parteien und ihrer Details hier etwas unvermittelt erfolgen (7).

Ein zweiter Abschnitt des Heftes beginnt – anschließend an Esping-Andersen – mit einer knappen Skizze der drei Welten des Wohlfahrtsstaates (9). Hier stellen die Autoren historisch die spezifische Pfadabhängigkeit von Gesundheitssystemen nachvollziehbar dar. Sodann erläutern sie zentrale Merkmale des deutschen Gesundheitssystems: Das Solidarprinzip, die paritätische Finanzierung, den Leistungskatalog und das Sachleistungsprinzip (10f.). Wiederum wird diesem „Idealtyp“ der Entwicklung des Gesundheitswesens ideologiekritisch die „reale Entwicklung“ entgegengehalten (11f.). Hier stellen die Autoren – zu Recht – fest, dass der „Idealtyp“ der Grundprinzipien mehrfach durchbrochen wurde und wird (12). Diese „Deformationen der Grundprinzipien“ werden im Folgenden in einem weiteren Exkurs beleuchtet (13ff.): Zuzahlungen und Zusatzbeiträge, der Wettbewerb der Kassen um günstige Risiken sowie die schiere Existenz der Privaten Krankenversicherung werden hier kursorisch gebrandmarkt.

Ein wenig unvermittelt erfolgt der Übergang zum dritten Abschnitt des Heftes, in welchem die Autoren zunächst die Finanzierungsgrundlagen des ambulanten- und sodann des stationären- und des pharmazeutischen Sektors skizzieren (16ff.). Die reformbedürftige Krankenhausfinanzierung, die Arbeitsbedingungen in beiden Sektoren und die kapitalistische Pharmaindustrie kommen analytisch leider relativ kurz.

Denn Abschnitt vier dient bereits einem politischen Ausblick: Weinberg und Detzler stellen die gegenwärtigen gesundheitspolitischen Interessen und Absichten der Parteien vor der Bundestagswahl 2013 detailliert dar. Dieser Abschnitt ist ausgesprochen lesenswert, da politisch aktuell und klar akzentuierend, wo es um die tatsächlichen Ungereimtheiten der Sozialdemokratie und der Grünen geht (21ff.). Ein wiederum etwas unvermittelter Exkurs zum Wettbewerb im Gesundheitswesen und seinen fatalen Schwächen (25) leitet zu den ausführlich vorgetragenen Ideen und Forderungen der Partei Die Linke über. Gerade hier wünschte man sich jedoch etwas differenziertere, weniger politisch intendierte, plakative Argumentation.

Der letzte Exkurs des Heftes hat das griechische Gesundheitssystem zum Thema (27f.): Atemlos wird ein kurzer Reisebericht eines der Autoren dokumentiert. Auch hier wäre eine Einordnung in politische und organisatorische Zusammenhänge nützlich. Da es sich aber um ein Einführungsheft mit begrenztem Raum handelt, ist diese Engführung völlig in Ordnung. Allerdings geraten bestimmte gesundheitspolitische Bereiche und Perspektiven, die den materialistisch an der Philosophie der Praxis interessierten Leser während der Lektüre des Heftes zwangsläufig in den Sinn geraten, kaum in den Fokus der Autoren: Gesundheitspolitik ist in diesem isw-Heft Politik „von oben“. Die Versorgung selbst, die Vernetzung von Akteuren, die Bewegung innerhalb der Berufe u.a. spielt hier weniger eine Rolle.

Nichtsdestotrotz ist das vorgelegte Heft eine ausgesprochen nützliche ideologiekritische Einführung in gegenwärtig in ihrer politischen und ökonomischen Brisanz oftmals unterschätzte Fragen des Gesundheitssystems.

Wolfram Burkhardt

Die Abwicklung des IML

Günter Benser, Aus per Treuhand-Bescheid. Der Überlebenskampf des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung. Mit einem Dokumentenanhang. Edition bodoni, Berlin 2013, 238 S., 18,- Euro.

Die Abwicklung der früheren DDR-Geschichtswissenschaft an den Universitäten, den Instituten der Akademie der Wissenschaften der DDR sowie den Forschungseinrichtungen der SED ist als Folge der Herstellung der staatlichen deutschen Einheit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nahezu vollständig vollzogen worden. Als rechtliche Grundlage dafür wurden in der Regel einschlägige Bestimmungen des Einigungsvertrages herangezogen. Damit verschwand für viele Historiker unterschiedlichen Alters binnen kurzer Frist ihre wissenschaftliche Existenzgrundlage. Während an den Universitäten die Fachbereiche, Institute bzw. Lehrstühle weiterhin existieren – allerdings zumeist mit Wissenschaftlern aus dem Westen besetzt – sind die Akademieinstitute ersatzlos aufgelöst worden. Auch mit den Forschungseinrichtungen der früheren Staatspartei SED verfuhr man auf ähnliche Weise. Über diesen Abwicklungsprozess an DDR-Wissenschafts-einrichtungen ist bereits an verschiedener Stelle publiziert worden.1

Günter Benser, Professor für Zeitgeschichte und letzter auf einer Institutsversammlung am 21. Dezember 1989 gewählter Direktor des in Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung umbenannten früheren Instituts für Marxismus-Leninismus, legt nun eine auf Quellen und persönlichen Erinnerungen basierte Untersuchung über den „Überlebenskampf“ seines Instituts vor und ergänzt die gut 100 Seiten umfassende Darstellung mit insgesamt 29 Dokumenten aus dem Zeitraum vom 3. November 1989 bis 20. März 1994.

Benser bezeichnet seine Publikation als „Bericht eines unmittelbar Beteiligten und Betroffenen“ und fügt hinzu, „wenngleich er keinen autobiographischen Charakter trägt, sind doch nicht wenige Vorgänge mit der Person des Autors verbunden, weshalb subjektive Sichten nicht zu vermeiden und teils auch gewollt sind“. Natürlich urteilen Insider in stärkerem Maße betroffen, Benser bemüht sich jedoch in seiner Darstellung, die auch ihn persönlich betreffenden Vorgänge weitgehend objektiv darzustellen, auch wenn er seine Sicht auf das „Erbe des Instituts für Marxismus-Leninismus“ beschreibt.

Auf größeres Interesse dürften vor allem die hier beschriebenen „Bemühungen um einen Rettungsschirm für Archiv und Bibliothek“ des Instituts sein. Vor allem die Bestände des Zentralen Parteiarchivs der SED enthalten erstrangige Zeugnisse der Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung aus dem 19. und vor allem 20. Jahrhundert. Die Überführung dieser Bestände in die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv gehört zu den wichtigsten Ergebnissen, auf die Benser in seiner Direktorenzeit zurückblicken kann. Damit ist der Forschung ein wichtiger Dienst erwiesen worden. Erfreulich ist auch, dass es gelang, Forschung und Publikation der MEGA weiter zu betreiben.

Außerdem erfährt der Leser interessante Details über den Umgang der Leitung der Treuhandanstalt sowie der „Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ mit den Vertretern des Instituts aber auch mit den an der Vorbereitung einer Stiftungsgründung arbeitenden Vertreter des Bundesarchivs. In dem in verschiedener Hinsicht interessanten Dokumentenanhang findet sich als Dokument Nr. 27 eine Aktennotiz über Verhandlungen mit der „Unabhängigen Kommission“ am 10. und 16. März 1992, also unmittelbar vor der Schließung des Instituts. Daraus wird deutlich, dass Treuhand und „Unabhängige Kommission“ offenbar in einem untereinander ungeklärten Kompetenzverhältnis gegenüber der Institutsleitung und den Vertretern des Betriebsrates agierten und sich die Schuld für die mehrere Monate überfällige Freigabe der Gehaltszahlungen an die verbliebenen Mitarbeiter wechselseitig zuschoben. Dies führte zu einer kurzzeitigen Besetzung von Räumlichkeiten der „Unabhängigen Kommission“ durch Institutsmitarbeiter, die die Hinhaltetaktik der Kommissionsvertreter nicht mehr hinnehmen wollten. Benser zieht aus den letztlich erfolglosen Auseinandersetzungen mit Treuhand und „Unabhängiger Kommission“ folgendes Fazit: „Was durch Treuhand und Unabhängige Kommission ausgeschaltet wurde, war nicht ein verkrustetes Überbleibsel des Instituts für Marxismus-Leninismus, sondern eine in ihren Inhalten selbstbestimmte wissenschaftliche Einrichtung mit einem Profil, das den damaligen und bis heute anhaltenden geistigen Auseinandersetzungen Rechnung trug.“

Auch der Tag der Schließung des Instituts blieb vielen nachhaltig in Erinnerung. Henryk Skrzypczak schrieb dazu: „Hundestaffeln im Einsatz gegen eine Stätte der Forschung. Polizeistiefel in den Magazinräumen. Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter uniformiertes Geleit beim Gang zur Toilette – wo hätte es das je in einem Kulturstaat gegeben. Am 31. März 1992 allerdings musste es sein. So jedenfalls versichern uns die Repräsentanten einer Justiz, über die ehedem Otto Kirchheimer befand, dass ihre Anbindung an die Zwecke der Politik zur organisierten Zerstörung von Gerechtigkeit führe.“

Und dennoch haben nicht wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des nunmehr abgewickelten IfGA zu verschiedenen Themen weiter geforscht und publiziert. Insbesondere zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und zur DDR-Geschichte legten sie wichtige Publikationen vor. Dazu zählen auch die Arbeiten von Günter Benser, die der seinerzeit in Großbritannien lehrende Historiker Stefan Berger als „zweite deutsche Geschichtswissenschaft“ bezeichnet hat.2

Detlef Nakath

Ohrfeigen für bundesdeutsche Historiographie

Alexander Bahar, Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Geschichte einer Provokation, PapyRossa Verlag, Köln 2013, 360 S., 17,90 Euro.

Alexander Bahar, Wilfried Kugel veröffentlichten 2001 in der edition q ihren Band „Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird.“1 Er basierte auf langjährigen Forschungen, wobei sie erstmals auch die über 50.000 Seiten Originalakten, die nach 1990 zugänglich wurden, vollständig auswerten konnten (mit Feuerwehr- und Polizeiprotokollen, brandtechnischen Gutachten und Vernehmungsprotokollen der Voruntersuchung der von den Brandstiftern selbst eingesetzten Reichstagsbrandkommission) und ebenso die Prozeßakten des Leipziger Prozesses (Anklageschrift, stenographische Protokolle, Urteilsschrift). Ihr 860 Seiten starker Band ist die bisher beste, gründlichste und detaillierteste Rekonstruktion des Brandes selbst, seiner Täter und Mitwisser. Außerdem behandelten die Autoren jene Kriminalgeschichte bürgerlicher deutscher Geschichtswissenschaft, in der die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes von den Medien zur informellen Norm erhoben und davon abweichende Auffassungen von einer Mafia aus Verfassungsschutz, Medien (Der Spiegel) und einigen Historikern mit allen Mitteln, geheimdienstlichen eingeschlossen, und mafiosen Methoden verfolgt wurde.

Für die nun von PapyRossa veranstaltete Taschenbuchedition haben die Verfasser ihr Buch von 2001 auf die Hälfte gekürzt und aktualisiert sowie neu zugängliche Quellen und seither erschienene Arbeiten einbezogen. Der Schwerpunkt ihrer Darstellung liegt auf der Rekonstruktion der Brandstiftung vom 27. Februar 1933. Welche Leistungen der Autoren überzeugen besonders? Erstens die minutiöse Rekonstruktion der Brandstiftung und des Brandgeschehens, zweitens die Einbeziehung und Analyse der brandtechnischen Gutachten von 1933 bis 1970, drittens die Analyse der Inszenierung und des Verlaufs des Leipziger Prozesses, viertes die Dokumentation der Ermordung bzw. des Verschwindens fast aller unmittelbaren Brandstifter und Mitwisser, fünftens die Produktion und Durchsetzung der Alleintäterlegende als Kriminalgeschichte bundesdeutscher Historiographie.

Das Reichsgericht hatte in seinem Urteil vom 23. Dezember 1933 festgestellt, daß nicht der im Reichstag aufgegriffene Marinus von der Lubbe allein, sondern nur mehrere Täter den Reichstag in Brand gesetzt haben konnten. Es stützte sich dabei entscheidend auf brandtechnische und chemische Gutachten, unterstellte aber als Mittäter Kommunisten, obwohl diese Zuweisung sich im Prozess blamiert hatte. Die wirklichen Brandstifter zu ermitteln, auf die zwei „Braunbücher“, ein Londoner Gegenprozess und die Weltöffentlichkeit hinwiesen, auf die aber auch in den Prahlereien von später ermordeten SA-Männern angespielt wurde, war weder der von Göring eingesetzten Reichstagsbrandkommission noch dem Reichsgericht erlaubt. 1970 erstellte das Thermodynamische Institut der TU Berlin eine neue Expertise, die zum selben Ergebnis kam.

1933 war die politische Weltöffentlichkeit davon überzeugt, dass die Nazis von Görings Reichstagspräsidentenpalais aus den Brand selbst gelegt hatten – als politisches Fanal für die Errichtung ihrer terroristischen Herrschaft. Die heute aufgrund der Forschungslage gezogenen Schlussfolgerungen, Goebbels als Ideengeber, Göring als Auftraggeber, ein Sonderkommando der Berliner SA unter Gruppenführer Karl Ernst als Kommandeur und Hans Georg Gewehr als brandtechnischem Leiter, die Verwendung selbstentzündlicher Brandmittel zur Präparierung des Plenarsaales, die von der SA durch den unterirdischen Gang ins Gebäude transportiert worden waren, all das war im Kern schon 1933 der Weltöffentlichkeit bekannt. Der halbblinde, verwirrte und zudem von der SA-Führung manipulierte Brandstifter Marinus van der Lubbe hatte mit seinen Kohlenanzündern ein paar kleine Feuer in Nebenräumen anzünden dürfen, im eichengetäfelten Plenarsaal fand man Brandbeschleuniger ganz anderen Kalibers.

Auch wenn ein direkter Beweis für diese Brandstiftung durch ein SA-Kommando nicht mehr zu erbringen sein wird, weil nicht nur alle diese Täter, sondern auch die meisten Mitwisser sehr bald tot waren, führen die Autoren einen überzeugenden Indizienbeweis. Die an der Brandstiftung beteiligten SA-Männer starben ebenso eines unnatürlichen Todes wie ihre Anführer, die meisten wurden in den Tagen des 30. Juni/1. Juli 1934 ermordet, so Ernst Röhm, Karl Ernst Heines, Erwin Villain. Nur der technische Leiter der Brandstiftung, SA-Sturmführer Hans Georg Gewehr, überlebte. Wer von den SA- oder SS- Führern oder den Konservativen die Inszenierung des Verbrechens zu genau kannte und die wahren Brandstifter angedeutet oder ausgesprochen hatte, dem wurde sein Wissen zum Verhängnis, so starben Dr. Ernst Oberfohren, Dr. Georg Bell, Kobelinski, Hans Peter von Heydebreck, Eugen von Kessel, Dr. Fritz Gerlich, Paul Röhrbein, von Detten, Erich Klausener und weitere, die meisten ebenfalls am 30. Juni 1934. Auch jene Zeugen, Sachverständige oder Personen, deren Aussagen auf die Brandstiftung durch die SA schließen ließen oder sie direkt bestätigten, starben eines unnatürlichen Todes, angefangen von dem Hellseher Erik Jan Hanussen 1933 bis zum Berliner Oberbranddirektor Karl Heinz Gempp 1939. Zuletzt starb noch der erste Direktor der Gestapo, Rudolf Diels, der 1957 bei einem „Jagdunfall“ umkam, nachdem er seine Beschuldigungen öffentlich ausgesprochen hatte.

Informativ und treffend ist die Auseinandersetzung der Autoren mit dem Kreuzzug der Anhänger der Alleintäterthese im Kapitel „Die Kontroverse um den Reichstagsbrand seit 1945“. Sie wurde als Chronik und Polemik auf den neuesten Stand gebracht und seit 2001 fortgeführt. Auch das Kapitel über den Reichstagsbrandprozess wurde aktualisiert, da 2006 die vollständige Urteilsbegründung veröffentlicht werden konnte.2

Im deutschen Sprachgebrauch gibt es die Wendung „päpstlicher als der Papst“. Im Zuge der Entnazifizierungsfarce in der Bundesrepublik gingen einige jener Polizeioffiziere, die Göring seinerzeit für die Ermittlungen eingesetzt hatte, dazu über, die Nazis von der Reichstagsbrandstiftung zu entlasten und „Hitler zu überhitlern“: Van der Lubbe habe am 27. Februar 1933 den Reichstag allein angezündet, die Nazis hätten dies nur sekundär ausgenutzt. Die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes war historisch eine Reaktion auf die Enthüllungen von Hans Bernd Gisevius 1946 über die Brandstiftung durch die Nazis. 1959/60 leitete Rudolf Augsteins Nachrichtenmagazin Der Spiegel mit einer elfteiligen Artikelserie einen Paradigmenwechsel ein, der die westdeutsche Geschichtswissenschaft über Jahrzehnte dominieren sollte. Frontschreiber dieser Version wurde der niedersächsische Verfassungsschutzbeamte und Hobby-Historiker Fritz Tobias: Er adelte frühere Kriminalbeamte, die im Auftrag Görings an den Ermittlungen zur Brandstiftung mitgewirkt hatten, zu wahrheitsliebenden und unbezweifelbaren Quellen und erhob die beiden Kriminalkommissare Walther Zirpins und Helmut Heisig zu Kronzeugen der Alleintäter-Legende. Ausgerechnet der Reichstagsbrand sollte mit Hilfe der Geschichtsfälschungen ehemaliger Gestapobeamter aufgeklärt werden. Die Spiegel-Serie von Fritz Tobias erschien 1962 auch als Buch.3

Um die Tobias-These von der Alleintäterschaft van der Lubbes schloss sich eine politisch heterogene Gruppierung zusammen, deren Vorgehen kaum anders als mafiös bezeichnet werden kann: Der Verfassungsschutzbeamte Tobias verfolgte die wissenschaftlichen Gegner seiner These mit amtlicher Hilfe, so nutzte er seinen Zugang zum Berlin Document Center zu ihrer Erpressung bzw. öffentlichen Diffamierung. Ihm schlossen sich der ehemalige Kriminalkommissar Walter Zirpins, die politisch in reaktionären Lagern stehenden „Extremismusforscher“ Eckhard Jesse und Uwe Backes sowie der Westberliner Historiker Henning Köhler und der Geschichtsredakteur der Zeit, Karl-Heinz Janßen, an. Sie unterstellten ihren Kontrahenten schlichtweg Geschichtsfälschung. Paroli boten ihnen Walther Hofer von der Universität Bern und andere Historiker, die sich im Luxemburger Komitee zusammenschlossen, um die geschichtliche Wahrheit politisch nicht eskamotieren zu lassen. In jüngerer Zeit gesellte sich der ehrenwerten Tobias-Gefolgschaft noch der Welt-Redakteur Sven Felix Kellerhoff zu, der alsbald den Anspruch erhob, mit seiner Publikation alle Zweifel an der Alleintäterthese endgültig behoben und alle brandtechnischen Rätsel gelöst zu haben.4 In dieser Gesellschaft durfte auch „ZDF-Geschichtspapst“ Guido Knopp nicht fehlen, der sich der Spiegel-Fraktion anschloss.

Schließlich erteilte 1964 Hans Mommsen in einem Gutachten des renommierten Münchner Instituts für Zeitgeschichte dem fragwürdigen Buch von Fritz Tobias die Weihe quellengestützter Wissenschaft. Mommsen kam die Tobias-These sehr zupaß für seine Konstruktion, nach der die Naziführung die faschistische Diktatur so nicht angestrebt habe, die Chance ihr durch Zufall in den Schoß fiel und deren Eskalation gewissermaßen automatisch erfolgte. Erst nach Jahrzehnten hat sich das Münchner Institut von Mommsens Gutachten distanziert.

Überblickt man die bundesdeutsche Promotion der Alleintäterthese durch eine Liaison von Massenmedien mit einigen Historikern mit dem Abstand von Jahrzehnten von neuem und analysiert man das Kapitel der Autoren des vorliegenden Bandes hinsichtlich der Kontroversen über den Reichstagsbrand, stechen folgende Sachverhalte hervor:

Die Platzierung der These von der Alleintäterschaft van der Lubbes, ihre wiederholte Propagierung und Erhebung zur informellen Norm der Publizistik und der Geschichtswissenschaft wurde von Medien wie dem Spiegel initiiert, vorangetrieben und durchgesetzt. Nicht Forschungsergebnisse, sondern politische Gründe waren dafür maßgebend. Nicht die Historiker, sondern diese Medien entwickelten die erforderliche Durchschlagskraft.

Die Publikationen der Historiker der Tobias-Gruppe zum Reichstagsbrand sind in einem eigenartigen Kreuzzugsstil verfasst. Sie suchen nicht durch die Logik ihrer Argumentation und die Beweiskraft historischer Dokumente, nicht durch praktische oder brandtechnische Experimente zu überzeugen, sondern durch den Vorwurf an ihre Gegner, mit Dokumenten zu fälschen und zu betrügen. Dabei ist Tobias, auf dessen „unwiderlegbare Beweise“ all seine Anhänger schwören, kein seriöser Historiker gewesen: Weder konnte er solche Beweise vorlegen, noch genügte seine Argumentation elementaren Anforderungen der Logik. Sein Umgang mit zeitgenössischen Dokumenten zum Brand und mit Texten seiner Gegner war absolut inkorrekt. In kaum zu überbietender Arroganz erklärten die Autoren der Gruppe ganz einfach die Auffassung von Tobias für tabu und deren Kritik oder Negation für ein Sakrileg und jegliches Streitproblem für erledigt. Folglich reagierten sie auf Kritik nicht wie Kritiker, sondern wie beleidigte Hohepriester auf die Verletzung eines geheiligten Dogmas.5 Deshalb waren sie auch nicht bereit, sich auf wissenschaftlichen Tagungen der Kritik zu stellen. Als Dieter Deiseroth 2004 eine wissenschaftliche Tagung zum Reichstagsbrandprozess vorbereitete und Verfechter beider Gruppen der Kontroverse dazu einlud, lehnten die Verfechter der Alleintäterthese eine Teilnahme ab.

Zu dieser Truppe stieß als jüngster Vertreter der leitende Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte in der Springer-Tageszeitung Die Welt, Sven Felix Kellerhoff. Er legte zum 75. Jahrestag des Reichstagsbrands eine, wie Hans Mommsen im Vorwort schrieb, „gut lesbare und schlüssige Schilderung des Ereignisses und seiner bis heute anhaltenden publizistischen Nachspiele“ vor und gelangte zu dem Ergebnis, dass „an der alleinigen Täterschaft des Holländers Marinus van der Lubbe nicht gezweifelt werden kann“. (7) Mommsen bescheinigt seinem Adepten eine „sorgfältige Auswertung der Quellen“. Tatsächlich aber zieht Kellerhof die damaligen Polizeiakten in der von Fritz Tobias entstellten Form heran – ohne die gebotene historische Quellenkritik.

Nannte Kellerhoff sein Buch „Die Karriere eines Kriminalfalls“, so handelt es sich in Wirklichkeit um zwei Kriminalgeschichten: einmal die Geschichte des Verbrechens der Brandstiftung und seiner Folgen, zum anderen um die Kriminalstory westdeutscher Historiker, die die Reinwaschung der Nazis von der Reichstagsbrandstiftung und die Geburt und Durchsetzung des Dogmas vom Alleintäter van der Lubbe mehrheitlich übernahmen. Zur Kontroverse um den Reichstagsbrand, zur Rolle des Spiegel dabei und zur wundersamen Kehrtwende von Hans Mommsen gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Veröffentlichungen. Bahar und Kugel liefern für beide Kriminalfälle die überzeugendste Analyse.

Im Sommer 1957 begann der erste Chef der Gestapo, Rudolf Diels, gegenüber dem Journalisten des Stern, Curt Ries, auszupacken: Die SA habe doch den Reichstag in Brand gesetzt. Das kostete ihn das Leben, er starb infolge eines mysteriösen Jagdunfalls im November 1957. Nach Diels Äußerungen 1957 war der Bundestag aufgefordert worden, sich zur Klärung der Sachlage des Gegenstandes anzunehmen. Damals vermied er jede Parteinahme. Doch inzwischen ist der von der CDU gestellte Bundestagspräsident offen auf die Seite der Tobias-Gemeinde getreten, als er die Präsentation von Kellerhofs Buch nicht nur unter seiner Schirmherrschaft im Hause veranstaltete. Quo vadis, CDU?

Werner Röhr

Hungersnöte im
Staatssozialismus

Felix Wemheuer, Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao, Rotbuch, Berlin 2012, 256 S., 19,95 Euro.

Als dem chinesischen Schriftsteller Mo Yan im vergangenen Herbst der Literaturnobelpreis verliehen wurde, wurde Kritik an Mos zu konformistischer politischer Haltung laut. Kaum zur Sprache kam, dass Mos Werk und insbesondere seine Kurzgeschichten vor einem anderen Hintergrund überaus interessant sind: nämlich dem der Hungerkatastrophe Chinas infolge des Großen Sprungs nach vorn in den Jahren 1958-1961. Hierauf weist der in Wien lehrende Sinologe Felix Wemheuer in seinem jüngsten Buch über Hungersnöte unter Stalin und Mao hin. Denn wer in China Auskunft über die verheerenden Folgen des Hungers, dem Schätzungen zufolge ca. 32 Millionen Menschen zum Opfer fielen, bekommen möchte, der findet diese eher in Büchern von Mo Yan als in wissenschaftlichen Studien. Das Thema ist in China noch immer tabuisiert; in offiziellen Dokumenten ist lediglich von den drei Jahren der Naturkatastrophe die Rede.

Wemheuers Leitfrage ist die nach dem Verständnis von Hunger in der Geschichte des Realsozialismus. Wie kann es etwa sein, dass 80 Prozent aller Hungeropfer des 20. Jahrhunderts in der UdSSR und der Volksrepublik China zu verzeichnen sind? In Staaten also, die sich die Überwindung von Hunger auf die Fahnen geschrieben hatten. Der Autor hofft damit, einen Beitrag zur Diskussion über das Scheitern des Sozialismus leisten zu können.

Gelingt ihm das? Ja, weil seine Skizzierung – mehr kann es aufgrund des Umfanges des Buches und der Weite des Themas nicht sein – ausgewogen und auf die wesentlichen Entwicklungen fokussiert ist. Die vergleichende Betrachtung offenbart zudem interessante Parallelen und Unterschiede. Eine gravierende Besonderheit stellt Wemheuer bei der sowjetischen Hungersnot 1921 infolge einer schweren Dürre fest. Lenin und die Bolschewiki machten dieses Desaster – im Gegensatz zu folgenden in der Sowjetunion und in China – öffentlich. Maxim Gorki z.B. appellierte an das Weltproletariat, Hilfe zu leisten. Und tatsächlich kam dieses dem Aufruf nach, doch Millionen Menschen, vornehmlich Kinder, konnten nur aufgrund der Hilfe der American Relief Administration (ARA) gerettet werden. Gleichwohl verloren fünf bis zehn Millionen Menschen ihr Leben. Die Hilfe der „US-Imperialisten“ verlief freilich nicht ohne Konflikte. Lenin soll über die Amerikaner im Land geschimpft haben und Stalin warnte vor der Hilfe von außen.

Es nimmt daher nicht wunder, dass Stalin in späteren Fällen die Existenz von Hungersnöten öffentlich schlichtweg verleugnete. Ihm, wie übrigens auch Mao Zedong, war das Ansehen in der Weltöffentlichkeit wichtiger, als die Chance, zahllosen hungernden Bauern zu helfen.

Als infolge der Kollektivierung der Landwirtschaft und der forcierten Industrialisierung in den Jahren 1931 bis 1933 schätzungsweise sechs bis acht Millionen Menschen in der UdSSR verhungerten, wurde darüber nicht nur Stillschweigen bewahrt, sondern sogar noch Getreide zur Devisenbeschaffung ins Ausland exportiert. So war es auch 1946, als einige Sowjetrepubliken erneut infolge einer Dürre am Hungertuch nagten. Ähnlich in China: Wemheuer zeigt, dass im Falle eines chinesischen Exportstopps von Getreide ab 1959 immerhin 25,9 Millionen Menschenleben hätten gerettet werden können. Für die Sowjetunion 1932/33 beziffert er diese Zahl auf 8,2 Millionen potenziell gerettete Betroffene. Hierin sieht der Autor demzufolge auch die schwere Schuld von Stalin und Mao. Er schließt sich aber nicht der These vom geplanten Genozid an, wie sie einige Historiker mit Bezug auf die Ukraine 1932/32 vertreten (sog. Holodomor). Als stärkstes Argument führt er an, dass das Politbüro zwischen Februar und Juli 1933 „nicht weniger als 35 streng geheime Entscheidungen traf, um Lebensmittelhilfen in die Ukraine und in den Nordkaukasus zu schicken.“ Dieses Beispiel zeige, dass Stalin das Schicksal der Bauern nicht völlig gleichgültig war.

Als „sicher wichtigen Grund“ für das Scheitern des Sozialismus im 20. Jahrhundert erachtet Wemheuer resümierend die Eskalation des Konflikts zwischen Staat und Bauern um das Getreide. Beide Staatsführungen gingen davon aus, dass nur durch eine Steigerung der Agrarproduktion die Industrialisierung vorangetrieben werden könne. Insofern sei die Landwirtschaft die Achillesferse der staatssozialistischen Ökonomie geblieben. Der Verfasser rekurriert hier auf die sogenannte ursprüngliche Akkumulation aus dem Marxschen „Kapital“. Das haben vor ihm schon andere getan und auch darauf verwiesen, dass in der UdSSR und der Volksrepublik dieser Prozess im Gegensatz zu bürgerlichen Gesellschaften nicht Jahrhunderte, sondern lediglich wenige Jahrzehnte währte – daher die besondere Brutalität. Durch die vergleichende Darstellung der staatssozialistischen Hungerkatastrophen kann man diesem Ansatz indes noch Neues abgewinnen. So ordnet Wemheuer die Hungersnöte unter Stalin und Mao in den größeren historischen Zusammenhang der industrialisierten Moderne ein, indem er etwa auf die Zahl der verhungerten Menschen unter der britischen Königin Victoria (1819-1901) verweist: In den britischen Kolonien Indien und Irland seien den niedrigsten Schätzungen zufolge mehr Menschen an Hunger verstorben als in der Sowjetunion. Keineswegs sei dies relativierend gemeint, betont der Autor, denn Stalin und Mao hätten Millionen von Menschenleben retten können, hätten sie die schließlich doch vollzogenen Politikwechsel je ein Jahr früher in die Wege geleitet.

Wemheuers Buch stellt somit eine gut geschriebene, durch persönliche Einsprengsel ergänzte, Zusammenschau der Hungerkatastrophen unter Stalin und Mao dar. Die Diskussion über die Ursachen des Scheiterns des Sozialismus wird hingegen nur angerissen.

Guido Speckmann

1 Franz Mehring: Karl Marx. Geschichte seines Lebens. Berlin 1918. - Eine Neuausgabe von 1960 im Rahmen der Gesammelten Schriften Mehrings benannte ausführlich die Mängel diesen großen ersten Versuchs.

2 Heinrich Gemkow u.a.: Karl Marx. Eine Biographie. Berlin 1967.

1 Karl Kautsky, Die Vorläufer des neueren Sozialismus, Stuttgart 1895, Berlin 1947; Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, Berlin 1919 ff., 8. A. 1932; beide fehlen übrigens im Literaturverzeichnis (S. 200), vielleicht weil sie im Buchhandel nicht verfügbar sind – aber im Internet sind sie komplett zugänglich.

2 J. Höppner/W.Seidel-Höppner, Von Babeuf bis Blanqui. Französischer Sozialismus und Kommunismus vor Marx, 2 Bände, Leipzig 1975.

1 „Antinomismus“: in der Theologie die Leugnung eines allgemein verbindlichen Gesetzes.

[1] BGHZ 13: 265-319.

[2] Marie Jahoda. Schwarze Listen in der Unterhaltungsindustrie (1956), in: dies., Sozialpsychologie der Politik und Kultur. Ausgewählte Schriften. Hrsg. Christan Fleck. Graz-Wien 1994, S. 128-167; Anm. 361f.

[3] Peter Glotz, Die Innenausstattung der Macht. Politisches Tagebuch 1976-1978. München 1979, S. 299.

[4] Lutz Niethammer, Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung. Frankfurt/M. 1972.

[5] Alexander von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968. Frankfurt/M. 1978.

[6] Als erste Aufarbeitung: Berufsverbote in der BRD. Eine juristisch-politische Dokumentation. Hrsg. Institut für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF). Informationsbericht 22. Frankfurt/M. 1975; zuletzt http://www.berufsverbote.de/

[7] Wilma Ruth Albrecht, Das Außenamt und die Vergangenheit vom Diplomaten; in: Hintergrund, 23 (2010) IV, S. 50-58; auch in: Aufklärung und Kritik, 18 (2011) 3: 287-293; sowie WeltTrends, 76/2011, S. 105-111 (gekürzt).

[8] Die „Rosenburg“ im Bonner Stadtteil Kessenich war von 1950-1973 Sitz des Bundesjustizministeriums. Dort befanden sich auch die Akten der Nürnberger Prozesse (1945-1949) gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof sowie zwölf Nachfolgeprozesse vor einem US-amerikanischen Militärgerichtshof im Nürnberger Justizpalast.

[9] Manfred Görtemaker; Christoph Safferling (Hrsg.), Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme. Göttingen 2013.

[10]Wilma Ruth Albrecht, Nachkriegsgeschichte/n. Sozialwissenschaftliche Beiträge zur Zeit(geschichte). Aachen 2007, mit Aufsätzen zur sozioökonomischen Interessenskonstellation nach 1945, zur Entnazifizierung und zur Kritik der Rechtsstaatsideologie.

1 Vgl. dazu am ausführlichsten: Werner Röhr: Abwicklung. Das Ende der Geschichtswissenschaft der DDR. Bd. 1 und 2, Berlin 2011. Außerdem: Ingrid Matschenz, Kurt Pätzold, Erika Schwarz, Sonja Striegnitz (Hrsg.): Dokumente gegen Legenden. Chronik und Geschichte der Abwicklung der MitarbeiterInnen des Instituts für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1996; Stefan Bollinger, Ulrich van der Heyden (Hrsg.): Deutsche Einheit und Elitenwechsel in Ostdeutschland. Berlin 2002.

2 Vgl. Stefan Berger: Was bleibt von der Geschichtswissenschaft in der DDR? Blick auf eine alternative historische Kultur im Osten Deutschlands. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 11/2002. Außerdem: „Wie Aussätzige behandelt. Die ostdeutsche Geschichtswissenschaft zwölf Jahre nach dem Ende der DDR“, in: Neues Deutschland, 21./22. Dezember 2002.

1 Alexander Bahar, Wilfried Kugel, Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird“, Berlin 2001.

2 Vgl. Dieter Deiseroth (Hg.), Der Reichstagsbrand und der Prozeß vor dem Reichsgericht, Berlin 2006.

3 Fritz Tobias: Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit, Rastatt 1962.

4 Sven Felix Kellerhoff: Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines Kriminalfalls. Mit einem Vorwort von Hans Mommsen, Berlin-Brandenburg 2008.

5 Vgl. z.B. Uwe Backes, Karl-Heinz Janßen, Eckhard Jesse, Henning Köhler, Hans Mommsen, Fritz Tobias: Reichstagsbrand. Aufklärung einer historischen Legende, Piper München 1986.