Buchbesprechungen

Anarchische Komplizenschaft mit dem Herrschaftssystem?

von B.H.F.Taureck zu Unsichtbares Komitee
März 2011

Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand. (Original: Comité invisible, L'insurrection qui vient. La fabrique éditions, Paris, erweiterte Neuausgabe Juli 2009.) Deutsche Erstausgabe. Aus dem Französischen von Elmar Schmeda, Edition Nautilus, Hamburg 2010, 128 S., 9,90 Euro

Il faut imaginer Sisyphe heureux.
Je me révolte, donc nous sommes.
Albert Camus 1942, 1951
Tremblez, tyrans!
Rouget de Lisle 1792

Die Rhetorik der Feuilletons und der Sozialwissenschaften wirkt häufig so, als betreibe sie PR-Arbeit für die Betäubungsmittel-Industrie. Mit Der kommende Aufstand gelingt ein anderer, längst entwöhnter Ton. Die Hässlichkeit der Fox-News erstickte förmlich vor Konkurrenzneid, als sie fand, dies sei „möglicherweise das Böseste“, das man je las.

Die anonyme Schrift handelt vom Aufstand gegen das bestehende System im Namen anarchischer Herrschaftslosigkeit. Sie spricht von Argentinien ebenso wie von Italien, von Griechenland, von den USA, von Katalonien, von Algerien, auch von Deutschland. Sie hätte sicher auch von der Monarcho-Demokratie Thailand gesprochen, wo selbst harmloseste Meinungsäußerung (der Fall einer Frau namens Darunee Charnchoengsilpakul) exzessiv bestraft wird, ohne dass eine offenkundig selektiv um Strafgerechtigkeit bemühte Amnesty International eine sofortige Freilassung fordert. Doch vor allem spricht sie vom Land der Verfasser, von Frankreich. Vielleicht gilt: Was dort heute als Extrem ausgebrütet wird, kann morgen europäische Normalität werden. Die Franzosen blicken derzeit von allen Nationen am meisten pessimistisch in die Zukunft. Es ist bekannt, dass in der französischen Gesellschaft mehr als in jeder anderer in Europa Feuer und Wasser gegeneinander stehen. Das ancien régime und die révolution bleiben dort paradox kopräsent. Nirgendwo mehr Reglementierungsauswüchse, mehr Bürokratie bis hinein in jede kleinste Alltagsgeste, mehr Verbote und nirgendwo mehr Überschreitungen, mehr spontane Demonstrationen, mehr faktischer Ausnahmezustand, mehr regelmäßig massenweise angezündete Autos als in Frankreich. Zu wenig bekannt ist hierzulande, dass das dortige System seine Jugend weitaus würdeloser drangsaliert als in Deutschland. Die Geldpolitik mit dem Falschgeld der Schulzensuren ist dort extrem restriktiv und die Jugendlichen erhalten aus Prinzip keine zweite Chance. Die Oktoberproteste des Jahres 2010, die unter anderem für Wochen die gesamte Treibstoffversorgung lahmzulegen drohten, galten daher – wie verschiedene französische Soziologen vermerkten – lediglich vordergründig der Rentenreform. In Deutschland lässt man sich viel gefallen, in Frankreich weit weniger, weil dort das System weitaus offener gewalttätig agiert. (Die Proteste in Stuttgart und der dortige kalkulierte Gewaltrausch der Polizei im September 2010 gibt eine gewisse punktuelle Vorstellung von den eher regulären Verhältnissen in Frankreich.) Im Unterschied zu Deutschland ist allerdings zu vermerken, dass Kindertagesstätten in Frankreich so selbstverständlich sind wie die Berufstätigkeit der Frauen.

Aus Frankreich kamen im 20. Jahrhundert vier große konzeptuelle und politische Provokationen, beginnend mit der Philosophie Henri Bergsons, fortgesetzt von der Existenzphilosophie Sartres und den verdichteten Bildern von Albert Camus, gefolgt vom Strukturalismus und der Wiederentdeckung Montaignes und Rousseaus durch Claude Lévi-Strauss, wiederum gefolgt von mit dem Verlegenheitstitel „Poststrukturalisten“ bezeichneten Autoren wie Lyotard, Foucault, Derrida, Levinas. Frankreich hört offenbar nicht auf, Auslöser von etwas zu sein, das sich nicht vorwegnehmen lässt.

Selbstverständlich will der anonyme Text es nicht mit den genannten Namen und Positionen aufnehmen, sondern eher die namenlose Stimme eines Gegen-Allgemeinwillens, einer contre-volonté générale sein. Französisch – man weiß es in Europa, man weiß es in Frankreich – „is over.“ Dies liegt nicht allein an seiner schwer erlernbaren unregelmäßigen Struktur, sondern auch darin, was sich bereits im Titel des Textes manifestiert. Das Französische ist keine Aspektsprache wie das Englische mit seiner „continuous form“ und wie die anderen romanischen Sprachen mit ihren eleganten Formen des „-ando“ und „-endo“ und auch wie Deutsch, das zudem dabei ist Aspektsprache zu werden mit seinen Wendungen „am Lesen sein“, „am Arbeiten sein“ usw. Französisch (das im Mittelalter einmal eine Aspektsprache war) ist endgültig abgehängt und vermag die anderen nicht mehr einzuholen. Eine Aspektsprache verfügt über Verbalbildungen, die eigens den Handlungsverlauf markieren. Der Übersetzer Elmar Schmeda war daher richtig beraten „Der kommende Aufstand“ zu sagen für „L'insurrection qui vient“, wörtlich „Der Aufstand, der kommt“, eine müde, schleppende Angabe. Englisch lautet der Titel selbstverständlich: The Coming Resurrection. Dem Französischen fehlt die Zuspitzung des Deutschen und Englischen. Mit dem Rückzug der Sprache Molières, Rousseaus, Flauberts und Baudelaires kontrastiert, dass aus dieser Kultur in Gestalt der vorliegenden Schrift wieder ein ungewöhnlicher, sonst nirgendwo unternommener Vorstoß gewagt wird. Was das Englische mit seiner „-ing“- Form zur kommunikativen Selbstverständlichkeit werden ließ, dem gibt die Kultur, die über diese Form der Mitteilung nicht verfügt, die aufständische Deutung eines Gegen-Allgemeinwillens. (Zur Vermeidung eines Verdachts auf Frankophobie: Der Rezensent publiziert hin und wieder selbst in französischer Sprache, auch wenn er weiß, dass dies, im Unterschied zur Zeit vor 30, 40 oder noch mehr Jahren, außerhalb der frankophonen Länder nur noch selten gelesen werden kann.)

Der Reiz der Schrift liegt zunächst in seinen aphoristisch-antithetischen Paradoxien. Die Autoren beerben die hohe Kunst der französischen Moralisten, obwohl diese das politische System nicht in Frage stellten, sondern unsere Dummheiten und Bösartigkeiten entlarvten. Einige Proben: „Das Ich ist nicht das, was bei uns in der Krise ist, sondern die Form, die man uns aufzudrücken (imprimer) versucht.“ (15) „Die Immigranten haben in diesem Land eine seltsame Position der Souveränität: Wenn sie nicht da wären, würden die Franzosen vielleicht nicht mehr existieren.“ (18) „Es gibt ein ernsthaftes Risiko, dass wir schließlich doch eine Beschäftigung für unsere Untätigkeit finden werden.“ (31) „Sich jenseits und gegen die Arbeit zu organisieren, aus dem Regime der Mobilisierung kollektiv zu desertieren, die Existenz einer Lebenskraft und Disziplin in der Demobilisierung selbst zum Ausdruck zu bringen, ist ein Verbrechen, das eine Gesellschaft in Bedrängnis nicht bereit ist zu verzeihen; es ist tatsächlich die einzige Art, sie zu überleben.“(34) „Es ist nicht die Ökonomie, die in der Krise ist, die Ökonomie ist die Krise; es ist nicht die Arbeit, die fehlt, es ist die Arbeit, die überflüssig ist; nach reiflicher Überlegung ist es nicht die Krise, es ist das Wachstum, das uns deprimiert. Wir müssen zugeben: Die Litanei der Börsenkurse berührt uns etwa so wie eine Messe auf Latein.“ (45) „Fortschritt ist in seiner allgemeinen Bedeutung überall Synonym für Katastrophe geworden.“ (47) „Es gibt keine Umweltkatastrophe. Es gibt diese Katastrophe, die die Umwelt ist. Die Umwelt ist das, was dem Menschen übrig bleibt bleibt, wenn er alles verloren hat.“ (53f.) „Das gegenwärtige Paradox der Ökologie besteht darin, dass sie unter dem Vorwand, die Erde zu retten, nur das Fundament dessen rettet, was sie zu diesem trostlosen Gestirn gemacht hat.“ (60) Seit 1945 wurde vereinbart, „dass die Manipulation der Massen, die Tätigkeit der Geheimdienste, die Einschränkung der öffentlichen Freiheiten und die vollkommene Souveränität der verschiedenen Polizeieinheiten zu den spezifischen Mitteln gehören, Demokratie, Freiheit und Zivilisation zu gewährleisten (assurer).“ (64) Der Westen heute sei zum Beispiel „ein Schweizer Menschenrechts-Aktivist, der sich in alle Ecken und Enden der Welt begibt und mit allen Revolten solidarisch ist, vorausgesetzt, sie wurden niedergeschlagen.“ (68) „Die Fresse (la gueule) derer zu sehen, die in dieser Gesellschaft jemand sind, kann einem helfen, die Freude zu verstehen, in ihr niemand zu sein.“ (92) „Zwei Jahrhunderte Kapitalismus und Handels-Nihilismus haben zu extremsten Fremdheit sich selbst, den anderen und den Welten gegenüber geführt. Das Individuum, diese Fiktion, zerfiel mit derselben Geschwindigkeit, mit der es real wurde.“ (120)

Die deutschen Besprechungen suchen nach einer Gattungsbezeichnung und schlagen „Theoriebuch“ (FAZ), „eine Art Manifest“ (Spiegel), „Gesellschaftsanalyse“ (DLF) vor. Es ist keines der drei. Es bietet moralistisch-aphoristische Paradoxien als Einsatz des Handelns. Die Moralistik ging einst davon aus, dass die Verrücktheit der Gesellschaft keine Intervention mehr zulässt außer der, dass der Aphorismus sie porträtiert. Der moralistische Aphorismus war der Ausweg qua Kurztext aus dem ausweglosen Absolutismus. Diese Schrift unterstellt, dass sich mit dem Konstatieren der Ausweglosigkeit der Gesellschaft eines ergibt: Die Ausweglosigkeit ist der Ausweg. Die Schrift ist auch nicht von Heidegger oder Carl Schmitt oder Giovanni Gentile inspiriert, denn ohne Führerprinzip kein Gentile, kein Schmitt und kein Heidegger.

Die aphoristischen Paradoxien sollen zeigen, dass das System Ziele und Fortschritt lediglich propagiert und in Wirklichkeit nichts als Verwaltung von Mitteln ist. Wenn es sich so verhält, dann lautet die Botschaft: Das System hat kein Recht, die Bevölkerung für Ziele arbeiten zu lassen, die es nicht gibt und an die niemand glaubt. Es gibt, folgt man dieser Logik, noch ein und genau ein großes politisches Ziel: die aktive Enttarnung aller Ziele als Scheinziel. Herrschaft rechtfertigt sich als Lenkung nach Maßgabe von Zielen. Wenn die Ziele nicht bestehen, dann ist Herrschaft überflüssig.

Dies ist die eine Lesart der hier nahe gelegten Fundamentalkritik des Systems. Es gibt eine zweite. Sie bietet eine reductio ad absurdum der öffentlich praktizierten Normen. Würden die Individuen die öffentlich praktizierten Normen auch privat befolgen, so implodierte alle Moralität und mit ihr das Gesamtsystem. Jeder würde sich dann nämlich unrückzahlbar verschulden, und für niemand gäbe es Grenzen, sich Geld durch fortgesetzten Mord zu beschaffen. Der aus den USA in dem McCarthy-Fieber fortgeekelte Charles Chaplin hat dies mit seinem Film Monsieur Verdoux. A Comedy of Murder nach einem Konzept von Orson Welles 1947 exemplarisch, überlegen intelligent und bis heute so verstörend demonstriert, dass nicht einmal – Frankreich bietet hier eher eine rühmliche Ausnahme! - mehr der Titel des einzigartigen Streifens sonderlich bekannt blieb. Der zum Tode durch die Guillotine verurteilte Witwenmörder Verdoux (der Name ist ein Oxymoron und bedeutet: zärtlicher, alles zernagender Wurm) gibt am Ende souverän das Geheimnis preis, durch welchen Bewertungstrick sich das System erhält: „One murder makes a villain, millions a hero. Numbers sanctify.“

Der kommende Aufstand steht auch in einer unausdrücklichen Nachfolge des bereits erwähnten Albert Camus. Camus hat mehrere Generationen mit dem Schluss seines Sisyphos-Mythos (1942) verzaubert. Sisyphos verkörpert den Menschen. Ihn haben die Götter bestraft, einen Felsen einen Hang hinauf zu rollen, der ihm jedesmal auf dem Gipfel entgleitet und zurück ins Tal rollt. Sisyphos verachtet sein Schicksal und leugnet die Existenz der Götter. Die Welt verliert auf diese Weise die Herrschaft der Himmlischen, und der Mensch wird glücklich. Camus hatte außerdem 1951 in seinem L'homme révolté das Cartesische „Je pense, donc je suis“ in ein Wir übersetzt, das aus der Ich-Revolte folgt: „Je me révolte, donc nous sommes“: Ich revoltiere, also existieren wir. Der kommende Aufstand wiederholt faktisch Camus' Mythologie des Glücksgefühls im Bewusstsein der Erdherrschaftsabschaffung und der Erweiterung des tätigen Ich zum Wir, fügt aber den Appell zur Aktion hinzu, verstanden als Gewinnen und Behalten der Initiative gegenüber dem System (123f.). Die Aktion wird als Militanz von Sabotage und Waffeneinsatz und mit militärischer Metaphorik beschrieben.

Camus kannte noch nicht das moderne China, und Der kommende Aufstand ignoriert es. Dieses großartige Land scheint erblindet. Wenn Kafka bemerkte, es gebe ein Ziel, aber keinen Weg, so beweist China, dass es Wege walzt, aber von keinem Ziel weiß und Fortschritt mit Wachstum und Verfettung verwechselt. Doch auch Der kommende Aufstand bleibt gänzlich auf die Mittel fixiert. Zielerblindung als Methode?

Alle Herrschaft, welche die antiken Griechen mit dem Verb „árchein“ bezeichneten (z.B. Monarchie, Hierarchie) soll abgeschafft werden. Archein lief auf absolute Herrschaft hinaus im Unterschied zu krátein, was relative Herrschaft meinte, auf die man sich wechselseitig verständigt. Daher Demokratie, nicht Demoarchie.

Der anarchische Impuls diskutiert nicht die relationale Struktur des kratein. Die Schrift leitet am Ende zu einer Frage, welche sich mehrfach stellen lässt: Wenn die Ausweglosigkeit der Ausweg ist, läuft dann das Gesamtvotum, wie immer die Ausweglosigkeit als Flowgefühl des „Wir“ gedeutet und erlebt werden mag, auf nichts anderes als auf eine ungewollte Komplizenschaft mit dem System hinaus? Soll es darum gehen, die Verödung und das Verenden in der Hyperproduktion von Mitteln, die uns das System beschert, in dem Augenblick als unsere Welt zu bejahen, wo die Herrschaft der Schein-Ziele beseitigt wäre? Sollen wir uns darauf einstellen, die Erde zu lieben, wenn sie nichts anderes mehr sein wird als ein Schrottplatz? Zudem: Was gewinnen wir, wenn wir uns statt als Kosmopoliten als Kosmoproleten verstehen?

Bernhard H. F. Taureck