Kriege von morgen

Die Rückkehr des Krieges in die Politik

Totalangriff auf das Völkerrecht

von Norman Paech
Juni 2013

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Ich bin gefragt worden, was eigentlich das Völkerrecht zu all den Kriegen und der Gewalt dieser Epoche sagt. Diese Fragestellung lässt sich mit der viel spannenderen Frage verbinden, was die Völkerrechtler zu den Kriegen sagen und was sie aus dem Völkerrecht machen. Juristen leben nicht in einem isolierten Kasten, sondern in einer Welt der Politik und Medien, die täglich der Welt ihr Weltbild aufoktroyieren. Deshalb einige Vorbemerkungen zu diesem Weltbild.

Die „neuen Kriege“ und die Neuausrichtung der
Militärstrategien

Die Mehrheit der kommentierenden Zeitgenossen ist davon überzeugt, dass wir uns in einer geschichtlichen Phase des Übergangs in ein System der Weltordnung befinden, von dem nur so viel klar ist, dass es anders als das bisherige System aussehen wird – wie allerdings, ist ziemlich unklar. Was die Beobachter im Norden wie im Süden, ob vom oberen oder unteren Teil der Weltpyramide das Weltgeschehen betrachtend, aber eint, ist die Überzeugung von der Kriegsträchtigkeit dessen, was allgemein als Globalisierung bezeichnet wird. Dieser Begriff steht nicht nur für die Verheißungen der ökonomischen und sozialen Entwicklung weltweit, sondern auch für die Erwartung, ja Unvermeidlichkeit kommender Kriege. Diese Erwartung wird nicht nur durch die tägliche Kriegsberichterstattung aus allen vier Kontinenten untermauert, sondern sie wird auch durch die Programmatik der neuesten Militärstrategien der NATO vom April 1999 und der USA vom September 2002 und März 2006 bestätigt. Selbst die Europäische Union hat sich einen mächtigen militärischen Arm zugelegt, der laut „Europäischer Sicherheitsstrategie“ von 2003 in Zukunft weltweite militärische „Verteidigungs“aufgaben übernehmen soll: „Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. .... Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.“[1]

Die Friedensforschung hat sich seit eh und je mit Kriegen beschäftigt. Immer weniger kann sie sich aber den Aufgaben ihres Namens „Friedens“forschung widmen und die Verhinderung, Eindämmung und Prävention von Kriegen zum Thema machen. Ihr Wandel zur Kriegsforschung erweist sich in der Flut von Veröffentlichungen, die sich mit der Identifizierung und Klassifikation der neuen Kriege, der Analyse neuer Kriegsformen, -methoden und -instrumente, der ansteigenden Rüstung und den neuen Akteuren beschäftigt. Damit hat sich auch die Perspektive auf den Krieg verändert, dessen absolutes Verbot (UNO-Charta) unter den Bedingungen der Globalisierungskämpfe vielfältig relativiert und angegriffen wird. Robert Kagan, Berater von Newt Gingrich und Mit Romney, spricht zu Recht von „Amerikanern“ und nicht nur „Republikanern“ wenn er zur Rechtfertigung schreibt: „Die Amerikaner werden die Bürger der Stadt verteidigen, ob es denen gefällt oder nicht. ... Die Vereinigten Staaten ... sind gezwungen, die Einhaltung gewisser internationaler Abkommen zu verweigern, die ihre Fähigkeit, in Robert Coopers Dschungel erfolgreich zu kämpfen, beeinträchtigen könnten. Sie sind gezwungen, Rüstungskontrollen zu unterstützen, können sie aber nicht immer für sich selbst gelten lassen. Sie müssen mit einer Doppelmoral leben. Und sie müssen gelegentlich einseitig agieren, ... weil den Vereinigten Staaten in Anbetracht eines schwachen Europas, das die Machtpolitik überwunden hat, nichts anderes übrig bleibt, als einseitig zu handeln.“ [2]

Es geht um die Erweiterung des Legitimationsrahmens für den Krieg als Mittel der Politik. Dies geschieht zunächst dadurch, dass der Blick auf die neuen Formen der Gewalt und des Kriegsgeschehens gerichtet wird: „internationaler Terrorismus“, „Privatisierung der Gewalt“, „Staatszerfallkriege“, „asymmetrische Kriege“ „Bandenkriege/warlords“, „low intensity warfare“, „ethnische Säuberungen“ „Kindersoldaten“, „Söldnerfirmen“ Diese neuen Formen der Gewalt werden im Anschluss an Mary Kaldor heute allgemein unter dem Begriff der „neuen Kriege“[3] gefasst und vor allem als neue Herausforderung des Westens gesehen, die seine militärische Antwort notwendig macht. Das lenkt zunächst davon ab, dass fast alle Kriegs- und Gewaltformen aus den klassischen Staatenkriegen weitgehend bekannt sind: Partisanenkrieg, Geiselerschießungen, Guerilla-Befreiungskampf, ethnische Säuberungen, Genozid und Söldnereinsatz. Nur die Unmittelbarkeit und mediale Präsens eines Terroraktes wie die Zerstörung des World Trade Centers durch zivile Flugzeuge lässt uns die Ungeheuerlichkeit und Barbarei von Terrorakten wie die Abwürfe der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki vergessen, und die Massaker an der Zivilbevölkerung in Zentralafrika überlagern die Barbarei der Massaker in Zentraleuropa im zweiten Weltkrieg wie die von Oradour, Lidice und Distomo.

Es spricht vieles für die These, dass auch in Zukunft kaum ein lokaler Krieg ohne direkte oder indirekte Beteiligung der großen NATO-Mächte stattfinden wird. Darüber hinaus geben die modernen Strategiepapiere der USA, NATO und der EU deutliche Hinweise auf militärische Interventionen in jenen Regionen, in denen die Staaten ihre zentralen ökonomischen und politischen Interessen gefährdet sehen. In den Worten ihrer akademischen Apologeten handelt es sich dabei um die „Herstellung von imperialer Ordnung zwecks Absicherung von Wohlstandszonen an den Rändern.“[4] Entsprechend der militärische Prägung jeder imperialen Ordnung wird der Krieg als unvermeidbares Mittel der Absicherung eingeplant: „Der Zwang zu einer zunehmenden Politik der Intervention ist auch die Reaktion auf die Konsequenzen der Globalisierung an der Peripherie. Es bleibt die Frage, ob es gelingt, die zentralen Bereiche in die Wohlstandszonen zu inkludieren, also in der Fläche Ordnung herzustellen, und den Rest zu exkludieren. Es steht aber außer Frage, dass an diesen neuen ‚imperialen Barbarengrenzen’ der Krieg endemisch werden wird, nämlich in Form von Pazifizierungskrieg aus dem Zentrum in die Peripherie hinein und in Form von Verwüstungskrieg aus der Peripherie ins Zentrum.“[5]

Als Proben dieses „Pazifizierungskrieges“ dürfen wir die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan, den Irak und Libyen begreifen, die nur notdürftig mit der Anrufung der Menschenrechte und dem Kampf gegen Terror und Massenvernichtungsmitteln legitimiert werden konnten. Der „Verwüstungskrieg aus der Peripherie“ meint die verschiedenen Terroranschläge seit dem 11. 9. 2001, wobei die Begriffe absichtsvoll über das jeweilige Ausmaß der Verwüstungen beider Kriegsarten hinwegtäuschen. Ja, wir werden aufgefordert, „die Kategorie des Imperiums in Zukunft [...] als eine alternative Ordnungskategorie des Politischen, nämlich als Alternative zur Form des Territorialstaates“ zu akzeptieren. Das derart installierte imperiale Gewaltverhältnis muss deshalb als „Friedensgarant“, als „Aufseher über politische, kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen“ gepriesen werden, wobei dem Autor offensichtlich sein Rückfall in Wilhelminische Vorstellungen verborgen bleibt.

Eine zentrale Rolle bei der Legitimierung des Krieges spielen die für die Öffentlichkeit bestimmten Erklärungen zur Militär- und Sicherheitsstrategie, aus denen sich die jeweiligen „Doktrinen“ ableiten. Sie sind das Ergebnis langjähriger, zwischen Politik und Militär abgestimmter Planungen, die schließlich der Öffentlichkeit zu ihrer Einstimmung und Orientierung übergeben werden. So hatte die feierliche Unterzeichnung der neuen NATO-Strategie im April 1999 in Washington durch die Staats- und Regierungschefs aller aktuellen und zukünftigen Mitgliedstaaten nicht etwa das Ziel, den endgültigen Konsens zwischen den politischen Führungen herzustellen, sondern diente allein dazu, ihre militärische Neuorientierung „urbi et orbi“ zu verkünden. Eine derartige strategische Neuausrichtung der NATO von einer ursprünglichen Verteidigungsgemeinschaft in ein offensives weltweit operierendes Krisenregulierungsinstrument hätte eine ausdrückliche Veränderung des NATO-Vertrages erfordert. Die Tatsache, dass man sich mit einem einfachen Papier und einer feierlichen Zeremonie begnügt hat, zeigt zum einen den hohen Grad der Übereinstimmung unter den transatlantischen politischen und militärischen Führungsschichten. Zum anderen gibt sie aber wohl auch ein Indiz für die Gefahren, die in einer formellen juristischen Absicherung durch die Änderung des Vertragstextes lagen. Ein solcher Prozess hätte die Ratifizierung in jedem Mitgliedsstaat verlangt, was eine Reihe von Unabwägbarkeiten mit sich gebracht hätte. Da sich die politischen Führungen auf die Verbindlichkeit der neuen Strategie für alle unterzeichnenden Regierungen verlassen konnten, verzichteten sie auf die unsichere demokratische Legitimierung durch Parlament und Volk. Diese Legitimierung wurde der NATO am 11. September 2001 in New York nachgeliefert und durch die „National Security Strategy“ der USA ein Jahr später noch einmal bestätigt. Der Schock des Terroranschlages erlaubte es der US-Regierung, nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern den ganzen Globus in den Zustand eines permanenten Ausnahmezustandes unter der weltweiten Gefahr des internationalen Terrorismus zu versetzen: Legitimation durch Drohung, die die NATO sofort nutzte, um sich in den zeitlich wie territorial unbegrenzten Antiterrorkrieg einzureihen.

Der Nutzen dieses neu entstandenen bzw. neu aufgebauten Bedrohungsszenarios für die Legitimierung erweiterter Kriegsoptionen zeigt sich in der Hilfestellung akademischer Berater, die den neuen Ansatz in vielfältigen Veröffentlichungen „wissenschaftlich“ absichern. Interessant sind z.B. die „Überlegungen für eine neue Interventionspolitik“, die vom „Centre for the Study of Global Governance“ in London im Auftrag des Außenbeauftragten der Europäischen Union, Solana, angestellt worden sind. Dort haben Marlies Glasius und Mary Caldor eine Studie zur „Human Security Strategy“[6] erarbeitet, in der sie den Abschied von der herkömmlichen Verteidigungspolitik zugunsten einer erweiterten Sicherheitspolitik vorschlagen. Die Sicherheit sei nicht mehr an den Grenzen der Länder gefährdet, sondern durch den Zustand der Welt insgesamt. Externe und interne Sicherheit seien von jetzt an nicht mehr trennbar, was die klassische Verteidigungspolitik nicht berücksichtige. Zudem erfordere das neue „Konzept menschlicher Sicherheit“ den Vorrang der Menschenrechte vor der staatlichen Souveränität, was es vom traditionellen staats-orientierten Konzept unterscheide. Am Ende dieses neuen geopolitischen Sicherheitskonzeptes öffnen die beiden Damen der militärischen Intervention die gleichen Perspektiven wie in der „National Security Strategy“ der USA, allerdings in differenzierter Diktion: frühzeitig, langfristig und ohne territoriale Begrenzung überall dort, wo die Gefahr identifiziert wird.

Alle politischen und moralischen Begründungsversuche leiden jedoch unter dem Mangel einer universellen Anerkennung und dem zumeist nicht unbegründeten Verdacht, hinter ihrer Fassade andere strategische und ökonomische Interessen zu verfolgen. Deshalb bedarf es einer Referenz, die außerhalb der nationalen Interessen und mit dem Ausweis der Universalität die Ansprüche an eine allgemein anerkannte Legitimation erfüllt. Dieses trifft nach dem Verlust allgemeiner moralischer Standards allein noch das internationale Recht, das Völkerrecht, welches in der UN-Charta die Forderung nach universeller Anerkennung einlösen kann. Deshalb fehlt in keiner Militärstrategie und keiner politischen wie wissenschaftlichen Abhandlung der Bezug auf das Völkerrecht und die UN-Charta. Selbst in den Fällen geplanter und offener Verletzung des Völkerrechts, wie in den beiden Kriegen gegen Jugoslawien und den Irak, spielte der „Kampf um das Völkerrecht“ sowohl in der Vorbereitung des Angriffs wie in der Folgediskussion um die Rechtfertigung eine zentrale Rolle.

Völkerrechtliche Legitimierung der „neuen Kriege“

Überlegungen zur politischen bzw. moralischen Rechtfertigung eindeutiger Rechtsverstöße wird in der völkerrechtlichen Literatur seit langem große Bedeutung beigemessen. Der Überfall auf Jugoslawien im Frühjahr 1999 war unter klarem Verstoß gegen das Gewaltverbot des Art. 2. Z. 4 UNO-Charta erfolgt und konnte keine der anerkannten Rechtfertigungen der Selbstverteidigung gem. Art. 51 oder des Mandats durch den Sicherheitsrat gem. Art. 39/42 UNO-Charta aufweisen. Dieser Befund war nicht zu leugnen, führte aber zu der Frage: Wie kann ein Verstoß gegen das Gewaltverbot dennoch gerechtfertigt werden, wenn die Gewaltanwendung schwerste Verbrechen beenden soll, ihre Notwendigkeit offenkundig und ihre humanitäre Absicht klar ist?

In der positivistisch orientierten Wissenschaft überwogen die Bedenken gegen die Konstruktion und Einführung einer neuen Regel, um die humanitäre Intervention zu erlauben, da damit ihrer missbräuchlichen Berufung Vorschub geleistet werden könne. Der Vorschlag von Oskar Schachter – schon 1991 – lautete: „Es ist besser, eine Verletzung des Völkerrechts einzugestehen, die wegen der besonderen Umstände notwendig und wünschbar ist, als ein Prinzip anzunehmen, welches eine weite Bresche in die Barriere gegen die einseitige Anwendung von Gewalt schlagen würde.“[7] Dieser moralische Positivismus fand auch in Europa Zustimmung, wo z.B. Bruno Simma die ausnahmsweise Verletzung der UNO-Charta durch die Bombardierung Jugoslawiens mit ihrer „overwhelming humanitarian necessity“ rechtfertigte („illegal aber legitim“), aber gleichzeitig vor einer Wiederholung wie vor einer Änderung des Rechts warnte: „Der entscheidende Punkt ist, dass wir nicht einfach die Rechtsregel wechseln sollten, um unserem humanitären Impuls zu folgen; wir sollten keine neuen Standrads einführen, nur um den richtigen Schritt in einem einzelnen Fall zu machen. Die Rechtsfragen, die durch die Kosovokrise aufgeworfen werden, sind ein eindrücklicher Beweis dafür, dass harte Fälle schlechtes Recht machen.“[8]

Lassen wir einmal beiseite, dass die faktische Basis des „humanitären Impulses” gerade beim Kosovo-Konflikt nach wie vor mehr als umstritten ist. Die Konkurrenz zwischen Recht und Moral, Legalität und Legitimität endet immer wieder in der Sackgasse, wenn die Autoren Moral und Legitimität über das Recht stellen. Zwei weitere US-amerikanische Autoren erklären das Recht lediglich als Unterfutter der Legitimität und schreiben: „Legitimität erwächst aus der Überzeugung, dass sich staatliches Handeln innerhalb eines rechtlichen Rahmens abspielt, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens muss dafür eine rechtlich gesicherte Grundlage bestehen, handeln darf also nur eine politische Institution, die ein Recht für ihr Vorgehen hat. Zweitens darf staatliches Handeln keine gesetzlichen oder ethischen Normen verletzen. Letztendlich ist Legitimität freilich in einer allgemeinen Vorstellung von Rechtmäßigkeit verwurzelt. Daher kann staatliches Handeln, auch wenn es in dem einen oder anderen Sinne gegen Gesetze verstößt, von der öffentlichen Meinung dennoch als legitim angesehen werden.“ [9] Auch hier gilt also: illegal aber legitim.

Theologen vom Schlage unseres Bundespräsidenten könnten an dieser Konstruktion Gefallen finden, für Juristen ist das jedoch klösterliche Kost.

Um diese zirkuläre Argumentation aus ihrer Sackgasse zu befreien, löst die politik-orientierte Rechtswissenschaft der New-Haven-Schule den eher statischen Rechtsbegriff des Positivismus auf und biegt ihn zu einem „fortlaufenden Prozess autoritativer und kontrollierender Entscheidungen, durch den die Mitglieder einer Gemeinschaft versuchen, ihre gemeinsamen Interessen zu klären und zu sichern.“ Dieses Zitat zeigt bereits, dass wir es auch hier mit einer schwierigen Operation zu tun haben. Hinter diesem Konzept steht die dienstbare Anpassung des Rechts an die Politik, wie sie W. Michael Reisman, einer der bekennenden Vertreter dieser Schule, in unmissverständlicher Klarheit ausdrückt: „Positivistische Rechtswissenschaft, die sich dem Entscheidungsprozess der Bürokratie auf vielen Ebenen anbietet, begreift Gesetzmäßigkeit als Einhaltung der Regeln. Die Entscheider an der Spitze denken demgegenüber nicht an die Einhaltung der Rechtsregeln, sondern in den Kategorien, die die zahlreichen Politiken optimieren... Aus der Perspektive des Juristen, der einen positivistischen rechtswissenschaftlichen Ansatz vertritt, handelt der Entscheider einseitig und rechtswidrig. Benutzen wir aber einen anderen und möglicherweise angemesseneren juristischen Blickwinkel, kann das zu der entgegengesetzten Schlussfolgerung führen.“ [10]

Angewandt auf den Jugoslawienkrieg argumentiert Reisman, dass sich ein Staat angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen gegenüber den eigenen Bürgern nicht mehr auf den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Art. 2 Z. 7 UNO-Charta berufen könne. Dieser Artikel schrumpfe und müsse dann auch eine „Anpassung“ („appropriate adjustement“) des Art. 2 Z. 4 UNO-Charta mit sich bringen, der insofern einer Intervention aus humanitären Gründen nicht entgegengehalten werden könne. Eine subversivere Auflösung der internationalen Legalität kann man sich kaum vorstellen. Sie taugt zur Legalisierung jeglicher unilateraler Intervention der starken Mächte, wenn man ihr nur einen humanitären Hintergrund verschaffen kann. Mit dieser Operation rechtfertigte Reisman die NATO-Bombardierung Jugoslawiens, die US-Intervention 1989 in Panama und jene 1983 in Grenada. Ihr Rechtsrelativismus nährt sich aus dem Realismus machtpolitischer Interessenvertretung. Diese hat sich aus nationaler Sicht um das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung und nicht der Welt zu kümmern und daher auch nicht um das internationale Recht.

Diejenigen, die den subversiven Strategien der Rechts-Jongleure misstrauen, aber dennoch einen juristischen Weg zur Legalisierung der unilateralen Kriege suchen, knüpfen an die Dynamik des Völkerrechts, an die gewohnheitsrechtliche Fortentwicklung durch die Praxis der Staaten an. Diese Form der Rechtsentwicklung vollzieht sich ohne vertragliche Änderung der großen Konventionen, wie z.B. der UNO-Charta, allein durch das Handeln der Staaten im Bewusstsein eigener Rechtsverpflichtung. Sie bedarf allerdings der Unterstützung der überzeugenden Mehrheit der Staaten. Fortentwicklung bedeutet Veränderung des überkommenen Rechts, die sich zunächst in seiner Verletzung, dem Bruch mit der herkömmlichen Rechtsüberzeugung manifestiert. Weite Bereiche des Völkerrechts haben sich auf diese Weise durch die Jahrhunderte derart fortentwickelt. In der Zeit nach 1945 hat sich allerdings die Kodifizierung durch vertragliche Übereinkunft immer mehr als Mittel der Rechtsentwicklung durchgesetzt. Insbesondere die Durchbrechung und Veränderung zwingenden Rechts (ius cogens) wie das Gewaltverbot des Art. 2 Z. 4 UNO-Charta ist nur durch Entwicklung einer dritten Ausnahme neben der Selbstverteidigung nach Art. 51 und einem Mandat des UNO-Sicherheitsrats nach 42 UNO-Charta als neues zwingendes Recht möglich. So hat es auch bisher nur vereinzelte Stimmen gegeben, die bereits im Frühjahr 1999 zu Beginn der Bombardierung Jugoslawiens die humanitäre Intervention als gewohnheitsrechtliche Ausnahme vom Gewaltverbot ausgegeben hätten.

Doch der Druck auf eine „solide“ völkerrechtliche Grundlage für humanitären und größeren Katastrophen vorbeugende Interventionen wächst. Als Reaktion auf das Scheitern des UN-Sicherheitsrats angesichts der Kosovo-Krise und des Ruanda-Völkermords forderte UN-Generalsekretär Kofi Annan die Völkergemeinschaft mehrfach auf, die Probleme der völkerrechtlichen Instrumente angesichts derartiger Katastrophen zu überprüfen und neue Prinzipien zu entwickeln: „... wenn die humanitäre Intervention in der Tat ein unakzeptabler Angriff auf die Souveränität ist, wie sollen wir dann auf Ruanda und Srebrenica und grobe und systematische Verletzungen der Menschenrechte antworten, die alle Aspekte unserer gemeinsamen Humanität verleugnen?“[11]

Die kanadische Regierung nahm die Anregung auf und bildete die „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS). Sie schlug in ihrem Bericht vom Dezember 2001 eine neue Doktrin „The responsibility to protect“[12] vor, die von der Verpflichtung der UN-Mitgliedstaaten ausgeht, das Leben, die Freiheit und die fundamentalen Menschenrechte ihrer Bürger zu schützen. Sollten sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen können oder wollen, so habe die internationale Völkergemeinschaft die Verpflichtung, einzugreifen. Diese Doktrin hat viel Beifall, aber auch manche Kritik erhalten, da sie letztlich wieder auf den Krieg zur Lösung sozialer Konflikte setze. Zudem laden derartige Entwürfe zur Erweiterung ein, was Lee Feinstein und Anne-Marie Slaughter nutzten, um die Doktrin um eine „duty to prevent“ zu ergänzen.[13] Auf dem Feld der globalen Sicherheit möchten sie den Staaten eine Verpflichtung auferlegen, „um Nationen, die von Herrschern ohne Kontrolle ihrer Macht geführt werden, davon abzuhalten, Massenvernichtungswaffen zu gebrauchen.“ Eine willkommene nachträgliche Rechtfertigung des Überfalls auf den Irak.

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Die unverblümte Ankündigung kommender Kriege bedarf starker Antikriegskräfte, um ihnen zu begegnen. Die landläufige Theorie allerdings, dass demokratische Staaten zumindest nicht gegeneinander Krieg führen werden, geht von zweifelhaften Prämissen aus und verbreitet eine trügerische Sicherheit. Bis auf wenige Ausnahmen liefert die herrschende politische und juristische Theorie keine Grundlagen, die den Widerstand gegen die Rehabilitierung des Krieges stärken könnten. Sie steuert den Angriff auf das Völkerrecht selbst. Mögen die Regeln des Völkerrechts und der UNO-Charta noch so klar und eindeutig den Krieg verurteilen und den Frieden propagieren, ihre Interpreten, die Völkerrechtler, folgen lieber den Trommeln und Töpfen ihrer Regierungen, sie sind die wahren Spindoktoren des Krieges. Die akademische Welt lässt die Friedensbewegung allein – das wäre nicht das erste Mal. Sorgen wir dafür, dass die Friedensbewegung die akademische Welt nicht den Regierungen überlässt.

* Vortrag auf dem Kasseler Friedensforum am 1. Dezember 2012.

[1] Sog. Solana-Papier, vom Europäischen Rat im Dezember 2003 als „Europäische Sicherheitsstrategie“ verabschiedet. An anderer Stelle heißt es: „Wir müssen eine Strategie-Kultur entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert... Als eine Union von 25 Mitgliedstaaten, die mehr als 160 Mrd. Euro für Verteidigung aufwenden, sollten wir mehrere Operationen gleichzeitig durchführen können.“ Diese „ Strategie-Kultur“ ist nicht allzu weit von dem Präventiv-Konzept der National Security Strategy der USA entfernt.

[2] R. Kagan, Macht und Ohnmacht, Berlin 2003, S. 108, 113.

[3] M. Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2000.

[4] H. Münkler, D. Senghaas, Alte Hegemonie und Neue Kriege. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2004, S. 539 ff., 548f..

[5] Münkler fügt hinzu: „In diesem Modell gibt es zentrale Regionen, die müssen inkludiert, also territorial kontrolliert werden – das ist zum Beispiel die Golfregion.“ (S. 549)

[6] M. Glasius, M. Caldor, Individuals first: A Human Security Strategy for the European Union, in: Internationale Politik und Gesellschaft, Heft 1/2005.

[7] O. Schachter, International Law in Theory and Practice, Boston 1991.

[8] B. Simma, NATO, the UN, and the Use of Force: Legal Aspects, in: European Journal of International Law, 10/1999, S. 14.

[9] R. W. Tucker, D. C. Hendrickson, Vom Nutzen des Völkerrechts, in: Rheinischer Merkur Nr. 45/2004.

[10] W. M. Reisman, Unilateral Actions and the Transformations of the World Constitutive Process: The Special Problem of Humanitarian Intervention, in: European Journal of International Law, 11/2000, S. 3 ff., 5 n. 2.

[11] K. Annan, Millennium Report to the General Assembly, New York 2000 (eigene Übersetzung, N.P.).

[12] ICISS, G. Evans, M. Sahnoun, The Responsibility to Protect, Ottawa 2001.

[13] L. Feinstein, A.-M. Slaughter, A Duty to Prevent. In: Foreign Affairs, January/February 2004.