Die EU-Oberen haben sich im Selbstlob schier überschlagen, als die EU zu Unrecht den Friedensnobelpreis 2012 erhalten hatte. Nach Herman Van Rompuy, Präsident des Europäischen Rats, ist die EU die „größte friedensstiftende Institution, die jemals bestanden hat“. Noch vor den Vereinten Nationen?
Ich will nicht ungerecht urteilen. Es ist eine zivilisatorische Errungenschaft des kapitalistischen Staatenverbundes EU und seiner Völker, die hoch gewertet werden muss, dass Kriege und militärische Auseinandersetzungen zwischen seinen Mitgliedstaaten aufgehört haben und selbst in Krisenzeiten wie den heutigen als ausgeschlossen gelten können, jedenfalls gegenwärtig und in absehbarer Zukunft. Der Frieden als Abwesenheit von Anwendung und Androhung militärischer Gewalt im Verhältnis der ansonsten in vieler Hinsicht zerstrittenen EU-Staaten erscheint als ein großer historischer Fortschritt, wenn man sich daran erinnert, dass das kleine Stück unseres Planeten, das wir Europa nennen, über zwei Jahrtausende Schauplatz von verheerenden gewaltsamen Auseinandersetzungen und Kriegen zwischen Staaten und Völkern war, im letzten Jahrhundert mit 72 Millionen toten Soldaten und Zivilisten in zwei Weltkriegen. Oskar Negt meint: „Es ist unwahrscheinlich, dass dieses Europa erneut zu einem Schlachtfeld werden kann.“[1] Unwahrscheinlich ja, aber nicht sicher. Es gibt keine Garantien dafür, dass Mitgliedstaaten der EU nie wieder Waffen gegeneinander in Anschlag bringen werden.
Der relative Frieden innerhalb der Union steht im groben Kontrast mit einer imperialistischen militärischen und „zivilen“ Aggressivität nach außen. 30 Jahre lang haben die (West-)Europäischen Gemeinschaften – die erste war die 1951 gegründete Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gefolgt von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft 1957 – als zivile Zusammenschlüsse kapitalistischer Staaten Europas funktioniert. Diese Verbünde hatten von Anfang an eine antisowjetisch-antikommunistische Stoßrichtung. Sie haben die Spaltung Europas in Ost und West zementiert. Sie dienten der Sicherung von Monopolherrschaft und Maximalprofit und der Ausbeutung der Dritten Welt. Aber sie hatten zivilen Charakter. Die militärische Konfrontation des Westens gegen den Osten vollzog sich auf einer anderen Schiene, nämlich über die NATO unter Führung der USA, zeitweise und wenig effizient über die Westeuropäischen Union. Der Versuch, 1952 eine „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ zu gründen, scheiterte am Widerstand der französischen Assemblée Nationale. Der Deutsche Bundestag hatte den Vertrag schon voreilig ratifiziert.
Ausgerechnet mit dem Untergang des realen Sozialismus in Europa, der Auflösung der Sowjetunion, des Warschauer Pakts und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, als allenthalben vom Ende des Kalten Krieges eine „Friedensdividende“ erwartet und ein „neues Europa“ proklamiert wurde, nahm die Militarisierung der EU ihren Anfang. Diese Militarisierung ist aus dem Wesen des staatsmonopolistischen Kapitalismus der EU heraus gewachsen, das sich nach der „Wende“ voll entfalten konnte.
Mit dem EU-Vertrag von Maastricht 1992 begann der aufhaltsame Aufstieg der EU zur Militärmacht. Es wurde die so genannte zweite Säule der EU eingeführt, nämlich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die auf lange Sicht die gemeinsame „Verteidigung“ einschließen sollte. Unter dem irreführenden Begriff „Verteidigung“ lief dann kontinuierlich der Ausbau der EU zu einem zweiten imperialistischen Militärbündnis neben der NATO. Diese Entwicklung vollzog und vollzieht sich ohne viel Aufhebens in der Öffentlichkeit, man kann schon sagen: klammheimlich und „beiläufig“, über die Änderungsverträge zum EU-Vertrag von Amsterdam 1997, Nizza 2001 bis Lissabon 2007, mit dem Zwischenspiel des am Widerstand der Franzosen und Niederländer gescheiterten Verfassungsvertrags 2004, von einer Tagung des Europäischen Rats zur anderen, vor allem jenen in Köln und Helsinki 1999, ohne dass eine nennenswerte öffentliche Diskussion über Sinn und Zweck „europäischer Verteidigungspolitik“ stattgefunden hätte.
Der Lissabonner Vertrag
Der gegenwärtig rechtsverbindliche EU-Vertrag in der Lissabonner Fassung vom 13. Dezember 2007 (EUV) hat die zwei Kernpunkte der Militarisierung mit faktischem Verfassungsrang[2] festgeschrieben[3]:
Erstens die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“ (Art. 42 Abs. 3 EUV), also ständig aufzurüsten und die militärische Schlagkraft zu erhöhen. Dabei hilft die Europäische Verteidigungsagentur mit 110 Beamten und einem Jahresbudget von über 30 Millionen Euro.[4] Es gibt (noch) keine eigene EU-Armee und nichts deutet darauf hin, dass sie so schnell kommt. Nebenbei: Die Bundestagsparteien außer der LINKEN, auch SPD und Grüne, wollen eine solche Armee. Viele Mitglieder der EU, darunter Frankreich und England, machen da nicht mit. Aber je zwei so genannte Battle-groups sind für sechs Monate ständig einsatzbereit. Das sind multilaterale Truppenverbände mit einer Stärke von 1.500 Mann, die 10 Tage nach einer entsprechenden Entscheidung des Rates der EU losschlagen und vier Monate durchhalten können. Der Aufbau einer Europäischen Lufttransportflotte ist im Gange.[5]
Zweitens die Auflassung zur Durchführung von militärischen „Missionen“, darunter von „Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich friedenschaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten“. Damit kann „zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung von Drittländern bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“ (Art. 43 Abs. 1 EUV). Erlaubt sind damit militärische „Missionen“ ohne geografische Begrenzung, also weltweit, ohne dass ein bewaffneter Angriff auf ein EU-Mitglied, also ein Fall von Selbstverteidigung vorliegt und ohne Bezug auf die Charta der UN und das Kapitel VII, also auch ohne den Segen des UN-Sicherheitsrats. Der EUV erlaubt völkerrechtswidrige Militäreinsätze, Aggressionen und Kriege.
Die Militarisierung der EU steht nicht bloß auf geduldigem Papier von EU-Verträgen und -Beschlüssen. Sie hat ihre verhängnisvolle Geschichte und gefährliche Gegenwart und eine zwar nicht unvermeidliche, aber mögliche, ja wahrscheinliche Zukunft.[6]
Militär-„Missionen“ der EU
Die EU hat bisher in eigener Regie – man nennt das „autonom“ – 29 militärische und „zivile“ Polizei-„Missionen“ durchgeführt. 16 „Missionen“ laufen noch. Von diesen „Missionen“ haben sechs militärischen Charakter: in Mazedonien 2003, in der Demokratischen Republik Kongo 2003, in Bosnien und Herzegowina 2004, die gemischt militärisch-polizeiliche Aktion in Darfur (Somalia) 2005, die militärischen „Missionen“ im Grenzgebiet Tschad-Zentralafrikanische Republik 2007 und vor und an den Küsten Somalias seit Dezember 2008. Angeblich waren und sind das alles „friedenerhaltende oder friedenschaffende“ Aktionen. Sie können sich zwar auf mehr oder weniger dubiose Beschlüsse des Sicherheitsrats stützen, die durch Stimmenthaltungen Russlands und Chinas möglich wurden. In Wirklichkeit handelt es sich aber um völkerrechtswidrige, zumindest völkerrechtlich bedenkliche interventionistische Gewaltakte, die Frieden weder erhalten noch geschaffen haben.
Die EU-Operation „Atalanta“ vor und in Somalia soll nach dem Beschluss des Rats der EU „als Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen vor der Küste Somalias“ wirken[7] und damit der Durchsetzung einschlägigen Völkerrechts, insbesondere des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982, und der Umsetzung entsprechender Resolutionen des Sicherheitsrats dienen. Einschlägig ist vor allem die Resolution Nr. 1838 vom 7. Oktober 2008, die „die interessierten Staaten“ dazu auffordert, „Marinefahrzeuge und Militärluftfahrzeuge [zu] entsenden“ und „die erforderlichen Mittel anzuwenden“, „im Einklang mit dem Völkerrecht, wie in dem Seerechtsübereinkommen festgelegt“ und zwar „auf Hoher See und im Luftraum vor der Küste Somalias“. Die Sicherheitsratsresolution Nr. 1851 vom 16. Dezember 2008 hat Atalanta ausdrücklich begrüßt. Gegenwärtig kreuzen im Auftrag der EU abwechselnd Kriegsschiffe aus Spanien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Griechenland, Belgien, Norwegen und Schweden mit Hubschraubern und Aufklärungsflugzeugen im Einsatzgebiet. Der Beschluss des Rats der EU hat sie über die Auflagen des Sicherheitsrats hinaus mit der Befugnis zur „Durchführung der erforderlichen Maßnahmen, einschließlich des Einsatzes von Gewalt“ und zur Überwachung der Küsten Somalias „einschließlich der somalischen Hoheitsgewässer“ ausgestattet.
Der Erfolg ist mäßig. Die Überfälle auf zivile Schiffe sind zwar zurückgegangen, aber die Piraterie floriert nach wie vor. Sie lässt sich mit militärischen Mitteln nicht ausrotten. Bekämpft werden müssten die gesellschaftlichen, vor allem sozialen Ursachen der Piraterie. Aber gerade daran fehlt es. Wenn die Menschen in Somalia in Frieden und auskömmlich leben könnten, wenn der Waffenhandel, der den Bürgerkrieg in Somalia schürt, unterbunden würde, wenn die somalische Fischerei nicht durch fremde Überfischung ruiniert würde, dann könnte die Piraterie als Erwerbsquelle zurückgedrängt und überflüssig gemacht werden.
Am 23. März 2012 hat der Rat der EU beschlossen, den Atalanta-Einsatz bis 12. Dezember 2014 zu verlängern und das Einsatzgebiet auf die somalischen Küstengebiete und die inneren Küstengewässer zu erweitern.[8] Eine Grenze, wie weit ins Innere des Landes die zur Piratenverfolgung durch Atalanta freigegebenen Küstengebiete und inneren Küstengewässer reichen, wird nicht gezogen. Statt endlich die Ursachen von Piraterie wegzuräumen, verschärft die EU das militärische Vorgehen, indem das Kampfgebiet von der See auf somalisches Landgebiet ausgedehnt wird. Die ersten Lufteinsätze gegen angebliche Einrichtungen von Seeräubern wurden geflogen. Der Verdacht erhärtet sich, dass Atalanta als Brücke für die geostrategische Einnistung der EU, faktisch ihrer Vormächte Deutschland und Frankreich, am Horn von Afrika und im angrenzenden Raum dient.
Der Kampf gegen die Seeräuberei ist im Rahmen des Völkerrechts legitim. Aber Atalanta ist juristisch dubios. Das Aufbringen eines Seeräuberschiffs oder eines unter der Gewalt von Seeräubern stehenden Schiffs durch Kriegsschiffe oder andere im Staatsdienst stehende Schiffe ist nach Art. 105 und 107 des Seerechtsübereinkommens auf offener See erlaubt. Es ist aber zweifelhaft, ob die Situation vor den Küsten Somalias – so wie das der Sicherheitsrat in der Resolution Nr. 1816 vom 2. Juni 2008 behauptet – eine Bedrohung des Friedens darstellt, die allein militärische Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta rechtfertigen könnte. Militärische Großeinsätze wie Atalanta sind vom Seerechtsübereinkommen nicht gedeckt. Piraterie ist ein internationales Verbrechen, gegen das sich zivile Schiffe schützen können und das mit polizeilichen Mitteln verfolgt werden muss. Kriegsschiffe üben bei der Verfolgung von Piraterie Polizeifunktionen aus. Ein Großeinsatz von Militär geht aber über polizeiliche Aufgaben hinaus. Ob die Verfolgung ohne weiteres auf die Küstengewässer eines Staates ausgedehnt werden darf, selbst wenn dessen Regierung zustimmt, ist fraglich. Auf keinen Fall ist die Verfolgung von Piraten auf dem Landgebiet eines Staates vom Völkerrecht gedeckt. Es gibt zudem im Falle Atalanta keine Garantien für menschenrechtlich und rechtsstaatlich einwandfreies Vorgehen gegen Piraten. Atalanta ist weder geeignet noch legitimiert, die Piraterie wirksam zu bekämpfen.
Indirekte Kriegsbeteiligung
An den imperialistischen Kriegen in Afghanistan, im Irak und in Libyen war und ist die EU als Organisation nicht direkt mit eigenen Truppen beteiligt. Aber sie hat diese Kriege gebilligt und unterstützt.
Der Afghanistan-Krieg begann als eine völkerrechtswidrige Aggression der USA, die damals unter Bush zeigen wollten, dass sie unilateral handeln konnten. Schon 12 Tage nach dem Beginn der Aggression hat der Europäische Rat „seine uneingeschränkte Solidarität mit den Vereinigten Staaten“ und „seine ganz entschiedene Unterstützung für die am 7. Oktober [2001] eingeleiteten militärischen Operationen“ bekräftigt.[9] Seit Dezember 2001 führte die NATO unter dem Kommando der USA den Krieg. Nur zwei Mitglieder der EU nehmen nicht an diesem „ISAF-Einsatz“ genannten Krieg teil: Malta und Zypern. Seit 2007 gibt es zusätzlich zu den NATO-Truppen, die bis auf einen „Rest“ in diesem Jahr abgezogen werden sollen (oder auch nicht), zwei Polizeimissionen der EU mit etwa 700 Polizeioffizieren.
Der Irak-Krieg hat die EU zunächst gespalten. Die NATO-Mitglieder Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg, Griechenland und die Neutralen Österreich, Finnland, Schweden und Irland haben nicht mitgemacht. Die EU hat jedoch gegen diesen Krieg nichts unternommen. Als „Aufbauhelfer“ nach den Verwüstungen durch die Aggression der USA und ihrer Verbündeten war und ist die EU fleißig dabei. Seit Juli 2012 agiert im Irak die „zivile“ EU-Mission EUJUST LEX-Irak mit 66 Beamten, um ein irakisches Kriminaljustiz-System aufzubauen.
In anderen aktuellen mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikten spielt die EU keineswegs eine friedensfördernde Rolle.
Als Mitglied des so genannten Nahost-Quartetts (UNO, USA, Russland und EU) pflegt die EU zusammen mit den USA Duldsamkeit gegenüber der aggressiven Politik Israels gegen Palästina.
Im syrischen Bürgerkrieg, für den das völkerrechtliche Verbot der Einmischung von außen gilt, hat die EU einseitig zugunsten einer diffusen Opposition Partei ergriffen und sogar die USA beim Verhängen von Restriktionen und Sanktionen gegen Assad und sein Regime übertroffen. Der Europäische Rat hat im Dezember 2012 den Rat beauftragt, „sich mit allen Optionen zu befassen“[10], also auch mit den militärischen. Die EU verlangt unverblümt einen Regimewechsel, was nach allem Recht und Gesetz nicht ihre Sache ist. Sie und ihre Mitglieder mischen sich unter Bruch des Völkerrechts zugunsten der bewaffneten Opposition in den syrischen Bürgerkrieg ein. Im Rahmen der Restriktionen war auch ein Waffenembargo gegen Syrien verhängt worden, das formal für alle Seiten des Konflikts gilt, aber zugunsten der Aufständischen durchlöchert wurde. Durch einen Beschluss des Rats der EU vom 28. Februar 2013[11] wurde das Embargo insoweit aufgehoben, dass nicht dem Kampfeinsatz dienendes „nichtletales“ militärisches Gerät an die Aufständischen geliefert werden darf, darunter Fahrzeuge, die nicht zum Kampfeinsatz bestimmt, aber mit einer Kugelsicherung ausgerüstet sind. Es wird darüber gestritten, ob das Waffenembargo, das am 1. Juni 2013 ausläuft, wenn es nicht durch einstimmigen Beschluss des Rats verlängert wird, gänzlich aufgehoben werden sollte. Frankreich und Großbritannien drängen darauf, andere, darunter Deutschland zögern. Unbegrenzte Waffenlieferungen der EU an die Opposition würden zweifellos den martialischen Bürgerkrieg verschärfen – mit nicht voraussehbaren tödlichen Folgen für die ganze Region.
Gegenwärtig hat eine Militärmission der EU (EUTM Mali) zur Ausbildung und Beratung der bewaffneten Kräfte Malis begonnen. Sie umfasst 450 militärische Kräfte, davon 200 Ausbilder und 250 Kampfsoldaten, die die Ausbilder schützen sollen. Der UN-Sicherheitsrat hat das sanktioniert. Die malische Armee soll dazu befähigt werden, das zerrissene Land zu stabilisieren. Der Rat der EU hat beteuert, dass die „Mission“ nicht in operative Aktionen und Kampfeinsätze verwickelt werden wird. Es bedarf eines hohen Grades an Naivität zu glauben, dass sich die EU damit nicht in die Gefahr begibt, in ein neues Afghanistan-Abenteuer hineingezogen zu werden. Es ist zu bezweifeln, ob die militärische Einmischung der EU in afrikanische Angelegenheiten ein geeignetes Mittel ist, die Konflikte in Mali und in der gesamten Sahel-Zone beizulegen. Dazu bedarf es politischer Anstrengungen und ökonomischer und humanitärer Unterstützung. Der Rat der EU hat das militärische Eingreifen Frankreichs pflichtschuldigst begrüßt, obwohl es ein Alleingang Frankreichs ohne den Segen des UNO-Sicherheitsrats und ohne Beschluss der EU war. Militärische Lösungsversuche mit Hilfe der EU werden nicht funktionieren.
In den Kosovo, den gefährlichsten Überrest der Balkankriege, hat die EU, trotz gegensätzlicher Auffassungen ihrer Mitglieder in der Frage der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo, eine so genannte EULEX-Mission mit 1.400 Polizisten, 420 Juristen und 76 Zöllnern geschickt, die in Arbeitsteilung mit der fortbestehenden KFOR-Militäraktion der NATO handelt, an der fast alle EU-Mitglieder teilnehmen. Damit ist ein Protektoratsverhältnis der EU zu Kosovo hergestellt worden.
Zivil-militärische „Missionen“
Wir stoßen hier auf einen „Vorzug“, den die EU gegenüber der NATO für sich geltend macht. Die NATO kann „nur“ militärisch auftrumpfen, sie hat keine Polizei und keine Justizbeamten, die sie zusammen mit ihren Truppen zu gemischten zivil-militärischen „Missionen“ in andere Länder schicken könnte. Die EU kann das. Sie hat auch ein ziviles „Krisenmanagement“ mit vier Prioritäten. Polizei: 5.000 Polizeibeamte werden bereitgestellt. Rechtstaatlichkeit: 300 Richter, Staatsanwälte und Gefängniswärter stehen zur Verfügung. Zivilverwaltung: Dafür gibt es einen Stab von Experten. Zivilschutz: Teams, die kurzfristig eingesetzt werden können. Die zivilen „Missionen“ sind in der Regel untergeordnete Begleit- und Nachsorgekommandos militärischer Interventionen. Sie verfolgen das Ziel, den Völkern in Krisengebieten westlich-kapitalistische Verhältnisse beizubringen und den Fuß der EU und ihrer mächtigen Mitgliedstaaten in Gebieten der Dritten Welt in die Tür zu bekommen, die für den Westen wegen ihrer Rohstoffvorkommen und aus geopolitischen Gründen wichtig sind.
Brüsseler Militärbürokratie
Zur Ausprägung der Militärmacht der EU sind – subkutan und wenig beachtet von einer kritischen Öffentlichkeit, leider auch von der Friedensbewegung – perfekte Institutionen und Mechanismen unterhalb der Ebene des EU-Rats der Minister und ihm unterstellt, geschaffen worden. Dieser EU-eigene Militärapparat besteht zusätzlich zu dem der NATO. Die NATO behält die Oberhand. Die EU darf nur in Situationen militärisch „autonom“ handeln, aus denen sich die NATO – sprich: die USA – aus welchem Grund auch immer heraushalten will. Die Suprematie der NATO ist schon dadurch gesichert, dass von den 27 EU-Mitgliedern 21 zugleich Mitglieder der NATO sind.[12]
Für alles Militärische ist in der EU die Hohe Vertreterin/der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig. Diese Funktion übt gegenwärtig die englische Baroness Ashton aus. Sie ist dem Europäischen Rat und dem Rat der EU unterstellt, zugleich ist sie Vizepräsidentin der EU-Kommission und eine Art Oberkommissarin für das auswärtige Handeln der EU. Das ist ihr „Doppelhut“. In der GASP und der GSVP (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik) hat sie auf dem Papier eine geradezu beängstigende Machtfülle. Ohne sie geht dort nichts. Sie ist Quasi-Außen- und Verteidigungs-Ministerin. Diese Personalunion ist ein rechtsstaatliches Unding, das zur Dominanz des Militärischen in der Außenpolitik führt. Lady Ashton ist ständige Vorsitzende des Rates der EU in der Formation der Außenminister, dem auch die Verteidigungsminister angehören. Sie sitzt dem Leitungsgremium der Europäischen Verteidigungsagentur vor. Sie ist Chefin des neu gegründeten Europäischen Auswärtigen Dienstes. Auf militärpolitischem Gebiet geschieht nichts ohne ihre Mitwirkung. Gott sei Dank hat sie nicht das persönliche Format, um ihre Befugnisse gehörig auszuspielen.
In die Zentrale des Auswärtigen Dienstes der EU eingeordnet sind folgende sicherheitspolitischen, militärischen und semimilitärischen Institutionen, von deren Existenz und Tätigkeit in der Öffentlichkeit wenig oder nichts bekannt ist, die aber ein emsiges Eigenleben entwickeln: Das Politische und Sicherheitspolitische Komitee, der Militärausschuss aus den Stabschefs der Mitgliedstaaten und ihren Vertretern, der Militärstab, der unter anderem die Beziehungen zur NATO unterhält, der Ausschuss für nichtmilitärische Aspekte der Krisenbewältigung, ein „EU-Operationszentrum“ für begrenzte militärische und zivilmilitärische Operationen. Ein Satellitenzentrum, das auch militärisch verwendbar ist, ein dubioses Vereinigtes Lagezentrum, das ist eine Arbeitseinheit von Geheimdiensten der EU-Länder. Es fehlt eigentlich nur noch die EU-Armee und ihr Oberkommando.
Aufhaltsam, aber kontinuierlich
Die Debatten und Auseinandersetzungen um die Wirtschafts-, Finanzmarkt- und Eurokrise haben das Thema Militarisierung der EU weitgehend ins Abseits gedrängt. Wenn man nicht genauer in den Dokumenten der EU stochert, könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich in der GSVP wenig Bemerkenswertes ereignet. Kein Medium hat Notiz davon genommen, dass sich der Europäische Rat am 13./14. Dezember 2012 neben dem „Fahrplan zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion“ auch mit der GSVP beschäftigt hat. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats wird mitgeteilt, dass die EU „dazu aufgerufen ist, größere Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu übernehmen“. Die Wirksamkeit und Effizienz der GASP-Einsätze müsse gesteigert werden. Die „derzeitigen militärischen Engpässe“ erforderten „eine Verstärkung der europäischen Zusammenarbeit zur Entwicklung militärischer Fähigkeiten und zur Schließung der kritischen Lücken“. Die europäische Verteidigungsindustrie soll gestärkt werden durch „Bündelung und gemeinsame Nutzung militärischer Fähigkeiten“ und durch „Erleichterung von Synergien“. Ungeachtet der Krise schreitet die Militarisierung der EU zwar aufhaltsam, aber kontinuierlich voran. Im Dezember 2013 soll sich der Europäische Rat speziell mit der GSVP befassen. Nichts Gutes ist zu erwarten.
Trotz allgemeiner Finanznot und rücksichtsloser Sparpolitik wird viel Geld für die Militarisierung der EU ausgegeben. Aus dem EU-Haushalt werden die Verwaltungsausgaben für die Organe der GASP und der GSVP finanziert. Für den gesamten Europäischen Dienst waren das 2012 488,7 Millionen Euro. Das ist nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der 148 Milliarden Euro Ausgaben der EU. Man muss aber wissen, dass die Kosten für die operativen Militäreinsätze nicht die EU als Organisation trägt, sondern dass sie von den Mitgliedstaaten aufgebracht werden müssen. Sie sind in den Militärhaushalten der Mitglieder versteckt. Unter den Sparzwängen werden seit 2008 zwar auch die Militärhaushalte gekürzt. 2011 blieben in den EU-Staaten aber immer noch über 190 Milliarden Euro für Unterhalt, Modernisierung und Einsatz von Militär. Ein erhebliches Einsparpotential, das nicht konsequent der ansonsten rabiaten „Austeritätspolitik“ unterworfen wird! Die Kürzung der Militärausgaben geht vor allem auf Einsparungen beim militärischen und zivilen Personal zurück. Die Ausgaben für militärische Technik pro Soldat sind eher gestiegen. Am Geldmangel soll die Militarisierung der EU nicht scheitern. Vor Pleiten unter Rettungsschirmen Schutz suchenden Euro-Mitgliedern wurden bisher von der Austeritäts-Troika aus EU-Kommission, Zentralbank und Währungsfond keine drastischen Sparmaßnahmen abverlangt. Griechenland wird vor allem auf sozialem Gebiet kaputtgespart, durfte sich aber 2011 nach Angaben von SIPRI 5,855 Milliarden Euro fürs Militär leisten, das ist mit 2,8 Prozent ein höherer Anteil am Bruttoinlandsprodukt als in Frankreich, Großbritannien und Deutschland.
„Gemeinsame“ Verteidigungspolitik?
Die GASP und die GSVP sind nach dem Vertrag von Lissabon nicht „vergemeinschaftet“, die Zusammenarbeit auf diesen Gebieten bleibt „intergouvernemental“. Das heißt, auf diesen Gebieten haben die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten behalten und nicht an die EU übertragen. Weder das Europäische Parlament, noch die Europäische Kommission, noch der Europäische Gerichtshof dürfen auf diesen Gebieten etwas entscheiden. Lady Ashton kann als Vizepräsidentin der Kommission dort mitbestimmen. In ihrer Eigenschaft als Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik handelt sie aber ausschließlich im Auftrag des Europäischen Rats und des Ministerrats. Die zwei Räte, also die Staats- und Regierungschefs und die Außen- und Verteidigungsminister, haben allein das Sagen. Die Beschlüsse müssen einstimmig gefasst werden. Das bedeutet, dass jedes Mitglied ein Veto-Recht hat. Im Lissabonner Vertrag ist allerdings Vorsorge getroffen, dass man das Einstimmigkeitsprinzip im Notfall umgehen kann. Ein wichtiger Umgehungsweg ist die so genannte „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“. Hinter diesem harmlosen Namen verbirgt sich die Möglichkeit, ein militärisches Sonderbündnis der zu Militärmissionen besonders willigen und fähigen Mitglieder zu bilden, ein Sonderbündnis, das unwillige Mitglieder nicht aufhalten und beeinflussen können. Ein anderer Weg ist die „konstruktive Enthaltung“. Das heißt, ein Mitglied enthält sich der Stimme und gibt zugleich eine förmliche Erklärung ab, dass er die bindende Wirkung des Beschlusses für die EU akzeptiert und die Durchführung des Beschlusses nicht behindern wird. Die „willigen“ Mitglieder akzeptieren dann den Standpunkt des Abweichlers. Dänemark und Irland haben sich durch Protokolle zum Lissabonner Vertrag für ständig aus der GASP und der GSVP ausgeklinkt.
Im Grunde gibt es keine wirklich gemeinsame GASP und GSVP. Jeder Staat vertritt die besonderen Interessen der in ihm politisch und ökonomisch Herrschenden. Das Einstimmigkeitsprinzip kann Beschlüsse zu strittigen Fragen verunmöglichen, war aber kein Hindernis dafür, dass sich die EU neben der NATO zu einer eigenständigen Militärmacht gemausert hat, nicht so stark wie die NATO, aber auch nicht zu unterschätzen. Sollen auch GASP und GSVP unter der Losung „Mehr Europa“ vergemeinschaftet werden? Ein linker Klassenstandpunkt und politischer Realismus lassen mich dazu Nein sagen. Eine wirklich gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU könnte nach dem Kräfteverhältnis in der EU nur eine aggressive imperialistische Politik sein, keine auf Frieden und internationale Sicherheit gerichtete.
Alternative
Die Militarisierung der EU ist weit fortgeschritten. Aber sie ist noch nicht so verfestigt, dass ein „Rückbau“ der EU zu einer zivilen Organisation nicht mehr realistisch oder gar illusorisch wäre. Auch der EU-Vertrag in der Lissabonner Fassung schließt das nicht aus. Er kann geändert oder durch einen neuen Vertrag ersetzt werden. Eine zivile, antimilitaristische Europäische Union ist möglich und notwendig. Die Militarisierung kann rückgängig gemacht werden.
Eine militarisierte EU wird in der Politik der Herrschenden und in der veröffentlichten Meinung als selbstverständliche Normalität hingestellt. Ohne eine glaubwürdige und durchsetzungsfähige militärische Komponente könne die EU angeblich nicht als „global Player“ agieren und sich auf Dauer nicht gegen die USA, China, Indien, Russland usw. behaupten. Das Argument ist nicht stichhaltig.
Die internationale Rolle und Glaubwürdigkeit der EU hängen nicht davon ab, dass sie mit militärischer Gewalt drohen und sie einsetzen kann. Die EU hätte die historische Chance zu zeigen, was ein ziviler Staatenverbund, der über enorme friedliche Potenzen in Ökonomie und Ökologie, Wissenschaft, Technik, Bildung und Kultur verfügt, auch ohne Militär leisten kann. Den neuen Bedrohungen, wie Terrorismus, Zerfall von Staaten, Verbrechen gegen die Menschenrechte kann ohnehin mit militärischen Mitteln nicht wirksam begegnet werden. Mit der absoluten Militärmacht USA kann die EU bei Strafe ihres ökonomisch-sozialen Bankrotts nicht gleichziehen. Die EU-Mitglieder müssten dazu ihre Militärausgaben verdoppeln. Ein sicherheitspolitisches Risiko ist mit dem Verzicht der EU auf Militarisierung nicht verbunden. Kein Mitglied der EU wird von außen militärisch bedroht
Man mag einwenden, ein „Zurück“ sei wegen des fortgeschrittenen Stadiums der Militarisierung nicht mehr möglich. Wenn der Wille dazu bei den Regierenden vorhanden wäre, ginge das durchaus. Sie müssen durch antimilitaristische Bewegungen in den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene dazu gezwungen werden. Eine zivile Union muss zugleich eine soziale, ökologische und demokratische Union sein. Eine neue Union erfordert gemeinsamen Kampf der Linken und Demokraten in ihren Ländern wie in der Union.
[1] Oskar Negt, Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen, Göttingen 2012, S. 17.
[2] Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags war unter der Regie der deutschen Bundeskanzlerin auf undemokratische Weise ein Änderungsvertrag zu den bisherigen zwei EU-Verträgen zustande gekommen, durch den alle wesentlichen Bestimmungen des Verfassungsvertrags in die alten EU-Verträge hinüber gerettet wurden, ohne das Wort „Verfassung“ oder verfassungsverwandte Begriffe zu verwenden.
[3] Ich knüpfe an meine Aufsätze in Z 59, September 2004, S. 80ff. über „Militarisierung der Europäischen Union. Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Konventsentwurf des Vertrags über ein Verfassung für Europa“, und in Z 78, Juni 2009, S. 159ff „Der Vertrag von Lissabon und die Militarisierung der Europäischen Union“, an.
[4] Der Agentur gehören alle EU-Mitglieder außer Dänemark an.
[5] Der US-Publizist Jacob Heilbrunn hat in einem Artikel mit dem Titel „All Roads Lead to Berlin“ in der Zeitschrift „The National Interest“ (Nov./Dec. 2012) sinniert: „Vielleicht wird eines Tages eine deutsch-geführte Armee in ein Land wie Syrien marschieren, um Ordnung herzustellen.“ Schließlich – so erinnert er – wäre es um 1990, also eine Dekade früher, „weit hergeholt erschienen, dass Deutschland Truppen jenseits seiner Grenzen und in Bergfestungen Afghanistans schicken würde“.
[6] Ich behandele das Thema ausführlich in meinem Buch „Der Aufstieg der EU zur Militärmacht“, Berlin, Spotless Verlag 2012.
[7] Vgl. Gemeinsame Aktion 2008/851/GASP des Rates vom 10. November 2008, Amtsblatt der EU vom 12.11.2008, L 301/33.
[8] Vgl. Beschluss 20122/174/ GASP des Rates vom 23. März 2012, Amtsblatt der EU vom 27.3.2012, L. 89/69.
[9] Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und des Präsidenten der Kommission vom 19. Oktober 2001, SN 4296/2/01 REV 2.
[10] Europäischer Rat, Tagung vom 13./14. Dezember 2012, Schlussfolgerungen, CO EUR 19; CONCL 5.
[11] Beschluss 2013/109/GASP, Amtsblatt der EU L 58/8 vom 1. März2013.
[12] Im Juli wird ein weiterer NATO-Staat Mitglied der EU werden: Kroatien. Vor der Tür der EU stehen die NATO-Mitglieder Türkei und Island als offizielle Beitrittskandidaten.