Militarisierung der EU

EU und USA: Ihre militärischen Beziehungen und die Frage einer transnationalen Bourgeoisie

von Iraklis Oikonomou
Juni 2013

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„Kapital existiert und kann nur existieren als viele Kapitalien …”

K. Marx, Grundrisse[1]

Gibt es eine transnationale Bourgeoisie?[2] Ich stelle in diesem Artikel die Frage, was sich hinsichtlich dieser Kategorie aus einer Analyse der transatlantischen Militärbeziehungen schlussfolgern lässt. Ausgangspunkt ist dabei eine Kritik der Konzeption von Transnationalisierung, wie sie von William Robinson (2004) vertreten wird. Bei der Beantwortung der hier gestellten Frage gehe ich davon aus, dass der Begriff von Transnationalität problematisch ist und die Komplexität der transatlantischen Beziehungen nicht richtig erfasst. Empirisch beziehe ich mich auf die Bemühungen der Europäischen Union (EU), eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP)[3] aufzubauen, und auf die Anstrengungen der USA, deren Orientierung, Ausrichtung und Ziele zu beeinflussen. Dabei soll die Vorstellung von Robinson hinterfragt werden, wonach es in erster Linie die militärische Macht der USA ist, die die Interessen des transnationalen Kapitals zur Geltung bringt. Darüber hinaus wird die Bedeutung nationaler und EU-bezogener Überlegungen beim Agieren des europäischen militärisch-industriellen Kapitals hervorgehoben.

Gebrauch und Missbrauch des Konzepts von Transnationalem Kapital

Eine der entwickeltsten Theorien von transnationalem Kapital und dessen Bedeutung für die zwischenkapitalistischen Beziehungen stammt von William Robinson. Grob gesagt geht er davon aus, dass der Übergang von einer Welt- zu einer Global-Ökonomie – d.h., der Übergang von einer territorial basierten Ökonomie nationaler Märkte im Rahmen von Nationalstaaten zu einer de-territorialisierten Ökonomie globalisierter Produktion, die nationale Produktionssysteme integriert – zur Entstehung einer transnationalen Kapitalistenklasse und eines transnationalen Staatsapparats führt. Der entscheidende Schritt von der Welt- zur Globalökonomie wird durch die Transnationalisierung der Produktion bewirkt: durch die Auflösung nationaler Produktionssysteme und ihre Integration in ein global vernetztes Produktionssystem. Dieser Prozess erreicht seinen Höhepunkt mit der Expansion transnationaler Unternehmen und der Etablierung des transnationalen Kapitals als „dominante oder hegemoniale Fraktion des Kapitals in globalem Maßstab“ (Robinson 2004: 21, Hervorh. im Orig.).

An dieser Stelle muss deutlich gemacht werden, dass zwischen „Transnationalisierung“ und „Internationalisierung“ von Kapital ein konzeptioneller Unterschied besteht. „Transnationalisierung“ bezeichnet das Aufkommen einer Form von Kapital, dessen Zusammensetzung nicht mehr territorial oder national geprägt ist. Im Gegensatz dazu bezeichnet „Internationalisierung“ einen Anstieg grenzüberschreitender Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, die ihre spezifischen Unternehmensidentitäten behalten, oder den Zusammenschluss von Unternehmen unterschiedlicher nationaler Provenienz. „Internationalisierung“ bezieht sich auf die Zusammensetzung von Kapital, das national differenziert ist, während „Transnationalisierung“ sich auf Kapital bezieht, das „national abstrakt“ ist, also keine nationale Basis mehr hat.

Robinson zufolge muss man davon ausgehen, dass die Formierung einer transnationalen Kapitalistenklasse auch zur Herausbildung eines transnationalen Staatsapparates führt. Er bestimmt den transnationalen Staat als „ein sich entwickelndes Netzwerk, das aus transformierten und in äußere Abhängigkeitsverhältnisse eingebundenen Nationalstaaten in Kombination mit supranationalen ökonomischen und politischen Foren besteht“, ein Netzwerk, „das noch keine zentralisierte institutionelle Form gefunden hat“ (Robinson 2004: 100, Hervorh. im Orig.). Dabei ist für Robinson die Transnationalisierung des Staates mit zwei parallelen Prozessen verbunden: innere Transformation des Nationalstaates und Aufkommen supranationaler politisch-ökonomischer Organisationen.[4]

Das eigentlich Neue der Arbeit von Robinson besteht in seiner Analyse der Implikationen dieser Transformation für den Status der USA als Hegemonialmacht und dafür, wie deren Militärmacht funktioniert. Er vertritt folgende Ansicht: „Aus eindeutigen historischen Gründen ist der US-amerikanische Militärapparat das Verteidigungsministerium im Kabinett einer zunehmend global integrierten herrschenden Klasse.“ (Robinson 2004: 140) Seiner Meinung nach profitiert in erster Linie die transnationale Bourgeoisie von den Aktionen des US-Staates – und dies weitaus stärker als jede Fraktion des US-Kapitals. Die gewaltige Militärmacht des US-amerikanischen Sicherheits- und Verteidigungsapparates dient, so die Annahme, der Absicherung der Interessen des transnationalen Kapitals und nicht der Sicherstellung der Konkurrenzposition einer national basierten herrschenden Klasse der USA. Robinson weist konsequenterweise auch jeden theoretischen Versuch zurück, Elemente zwischenimperialistischer Rivalität oder zumindest deren Potenzial im zeitgenössischen Kapitalismus nachzuweisen. Der US-Staat unternimmt keine An­strengungen, andere geopolitische oder weltwirtschaftliche Rivalen einzudämmen, sondern ist bemüht, die Interessen der transnationalen Kapitalistenklasse abzusichern und auszuweiten.

Eine umfassende Kritik der Robinsonschen Theorie stammt von Doug Stokes. Seine Kritik stützt sich auf die Kategorie „Empire“ als Analyseinstrument, geht aber auch davon aus, dass das „Empire“ spezifisch amerikanisch ist und nicht räumlich ungebunden. Nach Ansicht von Stokes folgt das American Empire zwei komplementären Logiken: einer „nationalen“ und einer „transnationalen“. Die erste zielt auf die maximale Wahrnehmung der besonderen Interessen von Kapital und Staatsautorität der USA, während die zweite Logik dem Erhalt einer globalen politisch-wirtschaftlichen Ordnung entsprechend den Interessen anderer nationaler Staaten und Kräfte dient. Stokes schlussfolgert, dass die „transnationale“ Logik die hochgradige Internationalisierung des in den USA beheimateten Kapitals widerspiegelt; die Logik des Transnationalismus ist insofern im Kern nicht transnational (Stokes 2005: 228). Auch wenn Stokes Kernelemente der Robinsonschen Theorie teilt, so zum Beispiel die Zentralität der Transnationalisierung von Kapital und die Ablehnung der Bedeutung von zwischenimperialistischer Rivalität, so ist seine Kritik doch von besonderem Belang, weil sie den Zusammenhang zwischen Aktivitäten des US-Staates und den Interessen des spezifischen US-Kapitals unterstreicht. Und sie hebt die zentrale Bedeutung der politisch-militärischen Dominanz der USA gegenüber anderen potentiellen kapitalistischen Rivalen hervor (ebd.: 229f.).

In diesem Artikel wird die These vertreten, dass es in erster Linie die politisch-militärische Dimension der transatlantischen Beziehungen ist, die die Grenzen der transnationalistischen Schule zu Tage treten lässt. Dies zeigt sich insbesondere an der permanenten Einflussnahme des politisch-militärischen Establishments der USA auf die Formierung der ESVP und auf die Bemühungen der EU, eine eigene militärisch-industrielle Identität aufzubauen.

Die USA sind nicht das Verteidigungsministerium einer transnationalen Kapitalistenklasse, wie Robinson annimmt. Wäre dem so, dann wäre es auch nicht ihr Hauptbestreben, aktiv die Herausbildung irgendeines anderen entsprechenden Verteidigungsministeriums zu verhindern, wie es die USA seit den allerersten Schritten in Richtung auf Formierung der ESVP getan haben. Und wenn es weltweit keine nationalen militärisch-industriellen Komplexe mehr geben würde, dann würde sich auch die EU nicht darum bemühen, eigene Institutionen aufzubauen und Maßnahmen zur Förderung der europäischen Rüstungsindustrie zu ergreifen. In den folgenden Abschnitten werden beide Argumente getrennt für sich untersucht.

Eine Kritik des Transnationalismus, wie sie in diesem Artikel vertreten wird, ist vielleicht nicht nur unter theoretischen, sondern auch unter politischen Gesichtspunkten nützlich. Bei Überbetonung der angenommenen Formierung einer starken (transnationalen) Bourgeoisie, die an keinen Staat gebunden ist, riskiert der Transnationalismus, die politischen Implikationen fortbestehender zwischenkapitalistischer Widersprüche zu ignorieren. Ein Haupteffekt besteht darin, die europäische Öffentlichkeit davon abzuhalten, darüber nachzudenken und dagegen zu opponieren, was speziell „europäisch“ an der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist. Wenn Europa nur einfach die US-Politik reproduziert, um dem transnationalen Kapital dienstbar zu sein, wie kann man dann EU-Entscheidungen in Frage stellen, die auf die militärische Stärkung der EU abzielen, um den US-Kapazitäten etwas entgegenzusetzen? Stattdessen gibt eine nuanciertere Sichtweise die Möglichkeit, die grundsätzlich utopische Annahme einer zeitgenössischen Ultraimperialismus-Theorie zu überwinden und den Kerngehalt der europäischen Integration in Frage zu stellen, das Bemühen, die ökonomische und politisch-militärische Stärke des US-Kapitals zu reproduzieren und mit ihr zu konkurrieren. Mit anderen Worten: Ein alternativer historisch-materialistischer Ansatz könnte die Mobilisierung der europäischen Bevölkerung gegen den desorientierenden und nur scheinbar progressiven Ruf nach einem autonomen Europa als Gegengewicht zu den USA erleichtern, und stattdessen deren Augenmerk auf den stabilen Zusammenhang lenken, der zwischen dem aktuellen Charakter der EU-Integration und den Interessen des europäischen internationalisierten Kapitals besteht.

Die Auseinandersetzung um den Charakter der ESVP

Die ESVP kann als ein expansionistisches Projekt charakterisiert werden, das die erforderlichen institutionellen, militärischen, wirtschaftlichen und ideologischen Voraussetzungen schaffen soll, um die Durchsetzung der strategischen und Machtinteressen der EU gegenüber der Peripherie des europäischen Kapitalismus zu erleichtern. Erstes Ziel des Projektes war es, der EU eine eigene autonome militärische Kapazität zu verschaffen.

Der Konsens über die ESVP, der sich unter den verschiedenen Denkrichtungen des außenpolitischen Apparates der USA herausbildete, wurde 1998 von Madeleine Albright, damals US-Außenministerin, mit ihrem berühmten „3D“-Artikel zum Ausdruck gebracht: Die EU solle es tunlichst vermeiden, ihre Entscheidungsfindung von der NATO abzukoppeln („decoupling“), Doppelstrukturen („duplicating“) bei militärischer Kräfteplanung, Kommandostrukturen und militärischem Beschaffungswesen aufzubauen und Nicht-EU-Mitglieder der NATO zu diskriminieren („discriminating“). George Robertson (1999), ein früherer NATO-Generalssekretär, ergänzte Albrights Position mit etwas transatlantischer Legitimation. Seine „3I“ umfassten: Stärkung („improvement“) der europäischen militärischen Streitkräfte, Einbeziehung („inclusiveness“) aller Verbündeten und Unteilbarkeit („indivisibility“) der transatlantischen Sicherheit.

Das Thema der Doppelstrukturen unterstreicht den gespaltenen, janusköpfigen Charakter der amerikanischen Sicht auf das ESVP-Projekt. Einerseits lassen Angehörige des US-amerikanischen Verteidigungsestablishments keine Gelegenheit aus, ihre europäischen Partner an die Notwendigkeit zu erinnern, glaubwürdige europäische Streitkräfte aufzubauen. Andererseits warnen die gleichen Politiker permanent die EU vor den Gefahren, die die Entwicklung von eigenständigen Streitkräften für die atlantischen Beziehungen heraufbeschwören könnten. Es gibt praktisch kein Dokument der offiziellen und inoffiziellen US-Diplomatie zum Themenkomplex ESVP, das nicht diese Widersprüchlichkeit zum Ausdruck bringt. Entsprechend diesem Schema erklärt ein Experte: „Es besteht die Gefahr, dass sich die europäischen Verbündeten mehr auf die Institutionen konzentrieren statt wirklich die militärischen Kapazitäten aufzubauen, die für die Krisenbewältigung erforderlich sind.“ Dann wendet er sich der zweiten Gefahr zu: „Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass die europäischen Alliierten eigene Streitkräfte aufbauen, die sie in die Lage versetzen, eigenständig zu handeln, ohne US-Kapazitäten heranzuziehen.“ (Larabee 2000: 1f.)

Besorgnisse der USA bezüglich der Kommandostruktur der NATO ergaben sich aus der Etablierung eines eigenständigen EU-Hauptquartiers. Gerade wegen ihrer Verknüpfung mit den EU-NATO-Beziehungen erwies sich diese Frage eines eigenen EU-Hauptquartiers für die europäische Verteidigungsplanung und operative Führung als eine der kontroversesten bei der ganzen Entwicklung des ESVP. 2003 teilten die Regierungen Frankreichs, Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs ihre Entscheidung mit, ein verlegbares Hauptquartier für gemeinsame Operationen zu etablieren. Die offizielle Reaktion der Bush-Administration war äußerst negativ. Der US-Botschafter bei der NATO bezeichnete diese Initiative als „die größte Bedrohung der Zukunft der Allianz“ (zit. n. Hamilton 2004: 153). Auch wegen der negativen Reaktion der britischen und anderer Mitglieder des atlantischen politischen Establishments in der EU ließ sich dieser Plan jedoch nicht realisieren. Stattdessen beschlossen die europäischen Spitzenpolitiker im Dezember 2003, eine europäische Planungszelle für Verteidigung beim NATO-Hauptquartier (NATO Supreme Headquarters Allied Powers Europe) einzurichten mit dem Ziel einer Verbesserung der EU-Operationen, die einen Rückgriff auf NATO-Kräfte erfordern. Umgekehrt wurde die NATO eingeladen, beim EU-Militärstab (EUMS) eine eigene Verbindungsstruktur einzurichten (European Council 2003). Im nächs­ten Schritt wurde im Planziel 2010 (Headline Goal 2010) die Notwendigkeit identifiziert, eine zivil-militärische Verbindungszelle beim EU-Militärstab einzurichten, die 2005 ihre Tätigkeit aufnahm. Damit verfügte die EU über ein eigenständiges Instrument für strategische Planung.

Für die USA bleibt die Erhaltung des Primats der NATO über EU-spezifische Maßnahmen ein Hauptziel. Das Bartholomew-Memorandum von 1991[5] gibt einen guten Einblick in diese Denkweise, die bei US-Politikern seit dem Ende des Kalten Kriegs und der Wiederbelebung des europäischen Integrationsprozesses in den frühen 1990er Jahren überwiegt. In vorsichtiger diplomatischer Sprache wird ausgedrückt, dass „in unseren Augen alle Bemühungen, einen eigenen europäischen Pfeiler zu errichten, indem man die Rolle der NATO neu bestimmt und begrenzt, ihre Struktur schwächt oder aber einen besonderen Block von EU-Mitgliedsstaaten bildet, in die falsche Richtung gingen“ (zit. n. Salmon/Shepherd 2003:152). Seither haben die USA alle Bemühungen zurückgewiesen, die auf den Aufbau einer europäischen Armee mit integrierten militärischen Kommandostrukturen außerhalb des NATO-Rahmens abzielen. Unmittelbar nach Ende des Kalten Kriegs stellten die Verteidigungsrichtlinien für die Fiskaljahre 1994-99 fest, dass „wir allen Absichten entgegenwirken müssen, welche auf eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik abzielen, die die NATO untergraben würde“ (zit. n. Petras/Morley 1995: 17). Diese Absichten wurden in die Tat umgesetzt. Schon 1993 wurde festgestellt, „dass die USA sich entschieden gegen den Aufbau einer gesonderten europäischen militärischen Einheit außerhalb der Kommandostruktur der NATO gewandt haben“ (Ougaard 1993: 197). Dieses Verhaltensmuster ist ein Lehrbuchbeispiel für die Kontinuität der US-Politik gegenüber der EU, welche von Robinson offensichtlich übersehen wird.

Sicherlich sind die im Zuge der Herausbildung der westeuropäischen Gemeinschaft und heute der EU aufgebauten Institutionen nicht gegen die globale Vormacht der USA gerichtet (Carchedi/Carchedi 1999: 135). Trotzdem sollte die offensichtliche Unfähigkeit der EU, mit den USA auf militärischem Gebiet in Konkurrenz zu treten, nicht als Beleg dafür verwendet werden, dass sich der Unterschied zwischen den Verteidigungsapparaten der USA einerseits und der EU-Mitgliedsstaaten andererseits im Sinne einer einheitlichen globalen Bourgeoisie aufgelöst habe. Die militärische Überlegenheit der USA im Verhältnis zur EU dient vor allem den Interessen der USA und den dort bestimmenden sozioökonomischen Kräften. Manchmal mögen EU-Mitgliedsstaaten und in der EU beheimatete Kapitale von der Stärke des US-Militärs profitieren, wie z.B. beim Krieg der NATO gegen Jugoslawien 1999. Das heißt aber nicht, dass innerkapitalistische Rivalitäten tot seien oder dass die US-Militärmaschinerie den Interessen einer globalen herrschenden Klasse dient. Es unterstreicht lediglich die Tatsache, dass die Interessen der USA und der EU oft gleichgerichtet sind und dass die militärische Kraft der EU nicht ausreicht, um mit den USA gleichzuziehen. In dieser Beziehung ist die Aufstellung von EU-Battlegroups (EU-Kampfgruppen/Eurocorps) eine wichtige Entwicklung. Auch wenn es sich dabei nicht um die Schaffung einer EU-Armee handelt, da die gestellten Streitkräfte weiter zu den bestehenden nationalen Armeen gehören, ist die Schaffung der Battlegroups sowohl politisch als auch militärisch bedeutsam. Guglielmo Carchedi (2006: 329f.) verwies auf vier besondere Merkmale der Battlegroups: Sie stehen permanent in Alarmbereitschaft; ihre Entscheidungsstrukturen sind autonom gegenüber der NATO; sie stehen auf gleichem Fuß mit den NATO-Eingreifkräften, sie können diese ergänzen und umgekehrt: Sie erfordern nicht die Beteiligung aller EU-Mitgliedsstaaten. Damit ist die EU praktisch in der Lage, ohne die Zustimmung der NATO eigenständige Militäroperationen durchzuführen. Im Gegensatz zur beruhigenden Rhetorik der politischen Eliten der EU stellen die Battlegroups tatsächlich den Keim einer europäischen Armee dar, auch wenn die Einzelstaaten die Kontrolle über die Einheiten behalten, die sie jeweils stellen.

Militärisch-Industrielle Entwicklungstrends und der Mythos des Transnationalismus

Das gleiche Muster einer transatlantischen Konkurrenz ist auch auf der Ebene der europäischen Verteidigungswirtschaft sichtbar. Robinson (2004: 138f.) behauptet, dass die Waffenindustrie dabei ist, sich global zu transnationalisieren. Gegen die These der Transnationalisierung bleibt aber festzuhalten, dass die europäischen Waffenindustrien eng an die Politik der jeweiligen Heimatstaaten und, in zunehmendem Maße, an die der EU gebunden sind. Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Verteidigungsindustrie ist eine ständige Sorge der EU-Politiker. Seit 1998 und seit der Erklärung von Saint Malo[6] ist es offensichtlich, dass das Überleben und das Wachstum der europäischen Rüstungsindustrie Teil der gemeinsamen Verteidigungsstrategie der EU ist. In den letzten Jahren hat die EU wiederholt versucht, die militärischen Ausrüstungen zu harmonisieren, die Zusammenarbeit der Rüstungsproduzenten zu verbessern und zu restrukturieren und die gemeinsame technologische und industrielle Basis der Verteidigung zu stärken. Die Errichtung der European Defense Agency (EDA) und die Initiierung des European Security Research Programs (ESRP) zeigen, dass die EU-Institutionen sich zunehmend um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie kümmern.

Die EDA wurde am 12. Juli 2004 vom Europäischen Rat gegründet. Ihre Aufgabe ist es, „den Rat und die Mitgliedsstaaten bei der Verbesserung der europäischen Verteidigungsfähigkeit auf dem Gebiet des Krisenmanagements zu unterstützen und die ESDP (Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik), so wie sie heute existiert bzw. sich in der Zukunft entwickelt, zu stärken“ (European Council 2004). Der offiziellen Darstellung zufolge sei die EDA rein strategisch: insbesondere geht es um die Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit der EU. Die wichtigsten Arbeitsbereiche der EDA sind die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit, die Förderung der europäischen Zusammenarbeit im Waffenbereich, die Schaffung eines international wettbewerbsfähigen Marktes für Militärgüter und Verbesserungen auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung der Rüstungswirtschaft. Drei der vier Hauptaufgaben der EDA sind eher wirtschaftlicher als militärischer Natur. Tatsächlich wird die EDA mehr und mehr das Zentrum jener Kräfte, die sich für die Integration der europäischen Märkte der Rüstungsindustrie einsetzen und deren Wettbewerbsfähigkeit im Auge haben. Was das ESRP angeht, so hat die Europäische Kommission nach kurzen Verhandlungen und institutionellen Regelungen gerade ein EU-weites Programm für fortgeschrittene Sicherheitsforschung aufgelegt. Die „vorbereitenden Aktivitäten zur Förderung des europäischen Potenzials auf dem Gebiet der Sicherheitsforschung“ seit Februar 2004 wurden 2007 ergänzt durch die Ausarbeitung eines Europäischen Programms zur Sicherheitsforschung. Sicherheitsforschung ist nun integrierter Teil des Siebten Rahmenprogramms[7] (European Commission 2005), welches breite Unterstützung von allen EU-Einrichtungen genießt. Die Bedeutung dieser Vorhaben speziell für die großen Rüstungskonzerne, die eigene Abteilungen für Sicherheitsforschung haben, ist nicht nur wegen des Budgets groß, sondern vor allem wegen der zukünftigen Dynamik, welche diese Initiative auslösen könnte.

Die Beziehungen zwischen den Einzelstaaten, der EU und der europäischen Rüstungswirtschaft werfen die Frage auf, ob der Begriff des militär-industriellen Komplexes noch sinnvoll ist. Robinson spricht zwar vom „US-militär-industriellen Komplex“, er scheint aber Bedeutung und Implikationen dieses Begriffs für seinen theoretischen Ansatz zu ignorieren. Er interessiert sich für den US-militär-industriellen Komplex nur wegen seiner Bedeutung für die Sicherheit des gesamten kapitalistischen Systems; die Tatsache, dass dieser Komplex US-amerikanisch ist, entgeht seiner Aufmerksamkeit. In ähnlicher Weise ignoriert er die Möglichkeit, dass sich ein EU-militär-industrieller Komplex herausbilden könnte, obwohl es dafür in der Literatur einige Belege gibt (Slijper 2005). Selbst wenn einzuräumen ist, dass die Abhängigkeit der Politik vom militär-industriellen Komplex in der EU weniger stark und weniger direkt sein dürfte als in den USA, so sind doch die Anzeichen für eine EU-weite Unterstützung der Bemühungen der europäischen Rüstungsindustrie für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum nicht zu übersehen, wie die Unterstützung für EDA und ESRP zeigt.

Die Waffenproduzenten diesseits und jenseits des Atlantiks haben ein klares nationales Profil, d.h. einen bestimmten geografischen Raum, in dem gewöhnlich produziert wird, wo sich der Unternehmenssitz befindet und aus dem die Mehrheit der Haupteigner und Manager stammt. Zwar kennt das Kapital als soziales Verhältnis kein Vaterland, trotzdem ist es keine Kraft ohne nationale Basis. Eines seiner Kennzeichen ist die Territorialität: Es existiert nur in einem gegebenen nationalen Kontext, wird überformt durch bestimmte soziale Verhältnisse in der Produktion und die jeweiligen spezifischen Verbindungen zwischen Bourgeoisie und Staatsapparat. Robinson übersieht, unter dem Vorzeichen der Transnationalisierung, die weitgehend nationalen Bestimmungsmomente der Interessen der Rüstungsindustrie. Die Internationalisierung der Rüstungsindustrie – d.h. der Zusammenschluss von Unternehmen unterschiedlicher nationaler Provenienz, die zur Entstehung neuer, internationalisierter Einzelkapitale führt – bedeutet nicht, dass nationale Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen verschwinden. Wie bei der Territorialisierung des Kapitals entspringt Internationalisierung aus der Produktionssphäre und setzt sich um über eine Veränderung der Eigentümerstrukturen. Im Begriff der „Transnationalisierung“, wie Robinson ihn verwendet, wird Produktion als materieller Prozess mit dem Kapital als gesellschaftliche Beziehung zusammengeworfen. Die Tatsache, dass verschiedene Komponenten eines Produkts in verschiedenen Ländern hergestellt werden, bedeutet nicht, dass Kapital transnationalisiert wird. Callari (2008) hat zutreffend gezeigt, dass auch eine global organisierte Produktion Ergebnisse zeitigen kann, die einer national definierten herrschenden Klasse auf dem Wege von Aneignung und Verteilung des Mehrprodukts zugutekommen. Tatsächlich ist die Zusammensetzung des Kapitals letzten Endes für den Prozess der Transnationalisierung entscheidend. Diese Zusammensetzung mag zwar mehr als eine Nationalität betreffen, sie ist aber niemals rein transnational. Nicos Poulantzas’ Feststellung ist heute so zutreffend wie 1978: „Internationalisierung vollzieht sich immer unter der Dominanz des Kapitals aus einem bestimmten Land.“ (1978: 60) Selbst hoch internationalisierte industrielle Einheiten wie z.B. EADS bewahren eine klar abgegrenzte, multinationale – aber nicht transnationale – Kapitalzusammensetzung. Klammert man EADS aus, so haben drei der vier größten europäischen Rüstungskonzerne eine rein nationale Eigentümerstruktur: „BAE ist vorwiegend britisch, Thales vorwiegend französisch und Finmeccanica vorwiegend italienisch.“ (Vlachos-Dengler 2004)

Verschiedene Autoren gebrauchen die Bezeichnung „Globalisierung“, um die zunehmende Bedeutung des globalen Wettbewerbs und/oder die Zunahme grenzüberschreitender Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie zu bezeichnen (Bitzinger 1994; James 2002). Das ist irreführend, weil sich der Wettbewerb zwischen Konzernen vollzieht, die in ihrer Eigentümerstruktur nicht global sind und die sich nicht gleichmäßig über die Welt verteilen. Außerdem behalten hierarchisch organisierte Machtbeziehungen zwischen bzw. innerhalb regionaler Wirtschaftsblöcke ihre Bedeutung und verschwinden nicht. Was Robinson als Globalisierung bezeichnet, ist überwiegend Regionalisierung. Die Merkmale dieser Blöcke sind hierarchisch geordnete Machtstrukturen und ungleiche Entwicklung, wie der Fall der EU zeigt (Meiksins Wood 2002: 26). Für Kees van der Pijl (2006: 31) „ist der Begriff ‚Globalisierung’, der eine weltweite Vereinheitlichung unterstellt, absolut verfrüht.“ Die Verbindung zwischen der national/supranational organisierten Staatsmacht und dem militär-industriellen Kapital ist keineswegs verschwunden. Wenn das so wäre, würden die großen, Rüstungsgüter produzierenden Staaten nicht eigens Verteidigungsbeauftragte ernennen, um die Exporte ihrer jeweiligen Unternehmen zu fördern. Der Kampf um den Markteintritt atlantischer Konkurrenten spricht ebenfalls gegen die These der Transnationalisierung. Eine Beteiligung am riesigen US-Markt ist von vitaler Bedeutung für Produzenten aus der EU, wie der Erwerb von US-Beteiligungen durch BAE Systems und EADS zeigt. Die Beschreibung der Internationalisierung als „transatlantische Integration“ ignoriert die transatlantische Konkurrenz, wie sie sich z.B. in den Auseinandersetzungen zwischen Boeing und Airbus im Rahmen der WTO widerspiegelt.

Schlussfolgerung

Insgesamt scheint das Argument von der Transnationalisierung also fragwürdig zu sein, insbesondere bezüglich seiner Implikationen für die Beziehungen zwischen EU und USA auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und für die Rolle der US-amerikanischen Militärmacht. Die Tatsache, dass EU und USA gelegentlich gemeinsame Interessen haben, heißt nicht, dass sie auf diesem Gebiet eine materielle und konzeptionelle Einheit bilden. Auf der informellen Ebene ist vielmehr oft eine zunehmende Rivalität festzustellen, wie Petras und Morley (2000) gezeigt haben. Die relative Entterritorialisierung der kapitalistischen Produktion heißt nicht automatisch, dass ein einheitliches transnationales Imperium entsteht. Tsoukalas hebt hervor: „Selbst wenn die Akkumulationsstrategien de-lokalisiert sind, organisieren sich die Machtstrategien immer noch auf der Linie zwischen-imperialistischer Gegensätze.“ (2004: 179) Statt über die Existenz einer angeblichen transnationalen Bourgeoisie nachzudenken, sollte im Rahmen des historischen Materialismus eher den komplexen Mustern zwischenimperialistischer Gegensätze nachgegangen werden, die sich unter der Dominanz des US-Kapitals und seiner geopolitischen Wächter, dem US-Sicherheits- und Verteidigungsapparat, erneut entfalten – eine Dominanz, die zunehmend durch die militärpolitischen Initiativen der EU bedroht wird.

Literatur

Albright, M., 1998: The right balance will secure NATO’s future, in: Financial Times v. 7. Dezember.

Bitzinger, R. A., 1994: The globalization of the arms industry: The next proliferation challenge, in: International Security 19 (2): 170_/98.

Callari, A., 2008: Imperialism and the rhetoric of democracy in the age of Wall Street, in: Rethinking Marxism 20 (4): 709f.

Carchedi, G., 2006: The military arm of the European Union, in: Rethinking Marxism 18 (2): 325-3/37.

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Cox, R. W., 1987: Production, power, and world order: Social forces in the making of history, New York.

European Commission, 2005: Proposal for a decision of the European Parliament and of the Council concerning the seventh framework programme of the European Community for research, technological development and demonstration activities (2007 to 2013). COM(2005) 119 final, 6 April.

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Hamilton, D., 2004: American perspectives on the European Security and Defence Policy, in: The politics of European security, Hrsg. J. Pilegaard, Kopenhagen, Danish Institute for International Security.

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James, A. D., 2002: Comparing European responses to defense industry globalization, in: Defense and Security Analysis 18 (2): 123-143.

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Meiksins Wood, E., 2002: Global capital, national states, in: Historical materialism and globalization, Hrsg. M. Rupert und H. Smith, London.

Ougaard, M., 1993: Dealing with the Community: The Bush administration’s response to Western European integration, in: The European community in world politics, Hrsg. O. Norgaard u.a., London.

Petras, J./M. Morley, 1995: Empire or republic? American global power and domestic decay, London.

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Poulantzas, N. , 1978: Classes in contemporary capitalism, London.

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Salmon, T.,/A. Shepherd, 2003: Toward a European army: A military power in the making? London.

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Slijper, F., 2005: The emerging EU military-industrial complex: Arms industry lobbying in Brussels, Amsterdam.

Stokes, D., 2005: The heart of empire? Theorising US empire in an era of transnational capitalism, in: Third World Quarterly 26 (2): 217-236.

Tsoukalas, C., 2004: Globalization and ‘‘the executive committee’’: Reflections on the contemporary capitalist state, in: The globalization decade: A critical reader, Hrsg. L. Panitch, C. Leys, A. Zuege und M. Konings, London.

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Vlachos-Dengler, K., 2004: Europe must set its defence industry free, in: Financial Times v. 7. September.

* Der uns von Iraklis Oikonomou dankenswerterweise zur Verfügung gestellte Text erschien zuerst in Rethinking Marxism, H. 1, 2011. Übersetzung: Jörg Goldberg/André Leisewitz.

[1] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1858, Berlin 1953, S. 317 (= MEW 42, S. 327).

[2] Ich verwende den Begriff „Klasse” hier entsprechend der Definition, die Otto Holman und Kees van der Pijl (1996, 55) gegeben haben: als „soziale Kräfte, deren Zusammenhalt sich aus der Rolle ergibt, die sie in einer Produktionsweise spielen“.

[3] Der im Original verwendete Begriff „European Security and Defense Policy“ (ESDP) wird hier mit „Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (ESVP) entsprechend dem Vertrag von Nizza (2001) übersetzt. Seit dem Vertrag von Lissabon (2007) lautet die Bezeichnung „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP), englisch „Common Security and Defence Policy“ (CSDP). (Anm. d. Übers.)

[4] Hier zeigen sich Anklänge an Robert Cox’ Begriff der „Internationalisierung des Staates“, d.h. der Anpassung national-staatlicher Politik an die Erfordernisse der globalen Ökonomie (Cox 1987: 253).

[5] Dieser vom US-Unterstaatssekretär Reginald Bartholomew stammende Text richtete sich gegen deutsch-französische Überlegungen, eine eigene europäische Sicherheitsstruktur innerhalb oder neben der NATO zu schaffen. (Anm. d. Übers.)

[6] Gemeinsame Erklärung von Frankreich und Großbritannien zur europäischen Verteidigung von 1998. (Anm. d. Übers.)

[7] Beschluss 1982/2006/EG des Rates vom 28. Juni 2006 über das Siebte Rahmenprogramms der Europäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration (2007–2013). (Anm. d. Übers.)