Anmerkung zu van der Pijl/Holman „Transnationale Verflechtung und Stellung des deutschen Kapitals in der EU“1
Van der Pijl/Holman behaupten, dass „das deutsche Kapital seine historische Position in der Weltwirtschaft im Zuge der Restauration der deutschen Vorrangstellung in Europa, die es mit dem 2. Weltkrieg verloren hatte, wieder gewonnen hat.“ Das gibt wohl die Meinung vieler, auch kritischer Zeitgenossen wieder. Das ist in einer gewissen Hinsicht richtig, im Wesentlichen aber falsch. Denn die deutsche Vormachtstellung in Europa und insbesondere in der EU ist überformt und durchdrungen durch angelsächsisches, insbesondere US-Kapital und ihre Hilfstruppen.
Die Eigentümer „deutscher“ Konzerne
Die beiden Autoren beachten nur die eine Richtung der Internationalisierung deutscher Unternehmen wie Deutsche Bank und Allianz, die in den 80er und 90er Jahren Firmen(anteile) in anderen Staaten aufgekauft haben, z.B. in den USA, und an die New Yorker Börse gingen. Die Autoren beachten aber nicht die gleichzeitige gegenläufige Ausbreitung des US-Kapitals in die Deutsche Bank, in die Allianz, in Siemens usw.
So ist etwa der US-Finanzakteur Blackrock, der größte Vermögensverwalter des Planeten, der Hauptaktionär der Deutschen Bank. Blackrock ist auch Miteigentümer aller 30 „deutschen“ DAX-Konzerne wie Siemens, Münchner Rück, Daimler, VW, BASF, Eon und so weiter. Auch andere angelsächsische Hedgefonds und Vermögensverwalter sind hier Miteigentümer. Angelsächsiche Private Equity Fonds wie Blackstone und Investcorp haben sich in tausende „deutscher“ Mittelstandsunternehmen eingekauft, „restrukturieren“ sie, manövrieren sie in die Pleite oder verkaufen sie weiter oder bringen sie an die Börse.
Van der Pijl/Holman setzen „deutsches Kapital“ mit Unternehmen und Banken gleich, die ihren „Geschäftssitz in Deutschland“ haben. Geschäftssitz in Deutschland bedeutet aber nur, dass der Geschäftssitz in Deutschland ist, aber nicht, dass das Kapital deutsch ist. Neben den genannten Unternehmen und Banken, in denen angelsächsisches Kapital sitzt, sind die vollständig in US-amerikanischer Hand befindlichen Unternehmen und Banken zu nennen, die Mitglieder der American Chamber of Commerce in Deutschland sind: z.B. die US-Niederlassungen von Goldman Sachs, Merrill Lynch, Standard & Poor’s, Freshfields, McKinsey, Hewlett Packard, General Electric… Auch wenn es sich um Banken und Unternehmen handelt, die nostalgisch als „deutsch“ bezeichnet werden wie Siemens und Deutsche Bank – auch sie sind wegen des beteiligten, erheblichen US-Kapitals Mitglieder der American Chamber of Commerce in Germany.
Um mal eine heutige Kapitalmischung an einem größeren Mittelstandsunternehmen zu skizzieren: Amprion, der größte Eigentümer von Hochfrequenzstromleitungen in Deutschland, entstand als Tochter von RWE. Heute gehört Amprion einem Konsortium von Finanzinvestoren: Commerz Real, MEAG, Swiss Life, Talanx und zwei ärztlichen Versorgungswerken aus Westfalen-Lippe und Brandenburg. Dabei ist zu beachten, dass MEAG den beiden „deutschen“ Versicherungskonzernen Münchner Rück und Ergo gehören, die aber wiederum auch US-Investoren gehören, ähnlich ist es bei Swiss Life und Talanx. Commerz Real gehört der Commerzbank, die teilweise dem deutschen Staat gehört.
Selbst wenn im Namen eines neu gegründeten Unternehmens das Adjektiv „deutsch“ enthalten und der Geschäftssitz in Düsseldorf ist, dann bedeutet das nicht, dass es sich um deutsches oder Düsseldorfer Kapital handelt: Das größte „deutsche“ Immobilienunternehmen mit 210.000 Wohnungen heißt Deutsche Annington, gehört aber Terra Firma Capital Partners mit Sitz in London.
Auch der Begriff „US-Kapital“ muss unter den heutigen Bedingungen relativiert werden: Natürlich verwalten und mehren z.B. die angelsächsischen Finanzakteure Blackrock und Investcorp auch saudiarabisches, deutsches, norwegisches, indisches Kapital usw.
Globale Eigentumsverflechtungen
Hinsichtlich der Unternehmensverflechtung zwischen den 150 größten transnationalen Konzernen meinen van der Pijl/Holman 2005 die „Wiederkehr eines einzigen atlantischen Clusters, diesmal mit der Allianz und anderen deutschen Unternehmen im Mittelpunkt“, zu entdecken (S. 104). Das ist eine durch keine Fakten gestützte Behauptung.
Die mächtigsten Kapitalknoten, in denen sich die meisten und größten Beteiligungen an anderen Unternehmen konzentrieren, sind heute, um nur die ersten zehn aufzuzählen, Barclays, Blackrock, Capital Group, FMR, AXA, State Street, JP Morgan Chase, Legal & General Group, Vanguard, UBS. An 13. Stelle folgt Deutsche Bank, an 29. Stelle Allianz, an 51. Stelle das erste Unternehmen aus China, China Petrochemical Group.
Diese Finanzakteure sind untereinander und mit hunderttausenden anderen Unternehmen hierarchisch verflochten. Gleichzeitig sind alle diese Namen rein nostalgisch. Hinter diesen Firmenschildern verbergen sich zehntausende von „Briefkastenfirmen“ und unbekannten Personen. Auf diesem Gebiet kennen wir öffentlich noch sehr wenig. Das gegenwärtig wichtige Kapital verbirgt sich u.a. mithilfe der okkulten Parallelstruktur, die durch Finanzoasen, shadowbanking und „darkpools“ gebildet wird.
Die US-amerikanischen Hilfstruppen
„Das Kapital“ kommt keineswegs in der Reinform vor, wie van der Pijl/Holman voraussetzen. Zur Verwaltung, Vermehrung, Legitimation und Absicherung sind neben dem, was nostalgisch „Banken und Unternehmen“ genannt wird, heute weitere, global tätige Akteure notwendig. Das sind z.B. Ratingagenturen, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater, Wirtschaftskanzleien. Bei all diesen dominieren die US-Akteure.2 Bei den Ratingagenturen sind es die Big Three Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch. Bei den Wirtschaftsprüfern sind es die Big Four, ebenfalls US-beherrschte Unternehmen, nämlich Price Waterhouse Coopers, Ernst & Young, KPMG und Deloitte; diese Wirtschaftsprüfer „prüfen“ nicht nur komplizenhaft die Bilanzen, sie sind auch Steuerberater und Umstrukturierungs-Helfer. Bei den Unternehmensberatern sind es McKinsey, Boston Consulting Group usw. Bei den Wirtschaftskanzleien sind es Freshfields, White & Case, Baker & McKenzie usw.
Dabei sind wiederum z.B. die Finanzakteure Blackrock, Wellington, Capital Group, FMR die beherrschenden Eigentümer der zwei größten Ratingagenturen Standard & Poor’s und Moody’s. Wir können diese US-Hilfstruppen mit zusammen mehreren hunderttausend hochqualifizierten Beschäftigten als die größte zivile Privatarmee des gegenwärtigen Kapitalismus bezeichnen. Die dominierenden US-Akteure bei Geheimdiensten und Militär, die nicht unwesentlich für die Sicherung und Verwertung des wichtigen Kapitals sorgen, seien hier der Vollständigkeit halber zumindest genannt.
Es sei noch darauf hingewiesen, dass die großen Staats-Privatisierungen in Deutschland seit der Treuhand (1990-1994) von US-Investmentbanken durchgeführt wurden, auch in anderen europäischen Staaten. Goldman Sachs, Merrill Lynch, Price Waterhouse Coopers, McKinsey, Freshfields usw. sind zudem Dauerberater europäischer Regierungen, auch und besonders der deutschen Bundesregierung. Ihr Einstieg war die Privatisierung des betrieblichen Vermögens der Ex-DDR und große Staats-Privatisierungen (Post, Bahn, Immobilien). Freshfields entwarf in Deutschland im Auftrag des Finanzministers Steinbrück die Gesetze zur Bankenrettung usw.
Deutschland in Europa
Es trifft natürlich zu, dass die Volkswirtschaft, die auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland ihren Sitz hat, die mächtigste in der Europäischen Union ist. Das bedeutet aber nicht, wie dargelegt, dass damit so einfach auch „deutsches“ Kapital in der EU vorherrscht.
Erstens sind Unternehmen in Deutschland in einem Umfang und in einer Art angloamerikanisch bestimmt, die wir aus vielen Hinweisen im Wesentlichen kennen, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Zweitens wird die Vorherrschaft in Europa, wie dargestellt, wesentlich auch mithilfe von US-Akteuren durchgezogen. Freshfields und Linklaters entwerfen Gesetze zur Bankenrettung auf nationaler und europäischer Ebene. Blackrock schätzt den Wert von Staatsanleihen Griechenlands und anderer Krisenstaaten. Die Bankenrettung der Krisenstaaten wird wesentlich vom US-dominierten IWF mitbestimmt.
Drittens muss man die Ebene der kapitalistischen Privateigentümer von der Ebene der Regierung trennen. Weil die deutsche Regierung auf der politischen Bühne den ökonomischen und finanziellen Prozess in der EU dominiert, entsteht der Eindruck – und er soll entstehen –, dass „Deutschland“ und „deutsches Kapital“ die EU beherrscht. Es ist aber vielmehr so, dass die Bundesregierung die vorrangige – keineswegs die einzige – Vertreterin auch von US-Interessen in Europa ist.
Auf die Anfrage der Linkspartei nach den offiziellen Regierungskontakten während der jetzigen Wahlperiode antwortete die Bundesregierung kürzlich: Es fanden 48 Gespräche auf Regierungsebene mit dem Vertreter von Goldman Sachs in Deutschland, Christoph Brand (hervorgegangen aus dem Ring Christlich Demokratischer Studenten, RCDS) statt; weit abgeschlagen liegen dahinter die Regierungskontakte der Deutschen Bank und von United Bank of Switzerland (UBS).
1 Kees van der Pijl/Otto Holman, Transnationale Verflechtung und Stellung des deutschen Kapitals in der EU, in: Z 93, März 2013, S. 95-110.
2 Vgl. Werner Rügemer, Ratingagenturen. Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart, Bielefeld 2012.