Berichte

Erneuerung durch Streik/Alle Berichte

Stuttgart, 1. bis 3. März 2013

von Heinz-Jürgen Krug
Juni 2013

Erneuerung durch Streik

Konferenz von „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ und ver.di, Bezirk Stuttgart, 1. bis 3. März 2013, Stuttgart

500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Kongress „Erneuerung durch Streik – Erfahrungen mit einer aktivierenden und demokratischen Streikkultur“ im Stuttgarter Gewerkschaftshaus sind ein Beleg für das große Interesse am Thema. Dass dieses Interesse nicht nur den Zukunftshoffnungen von Klassenkampfromantikern geschuldet ist, zeigte der Verlauf der Tagung.

Sie war geprägt durch Erfahrungsberichte und Bewertungen vieler streikerfahrener Menschen, ergänzt durch einzelne Beiträge aus dem wissenschaftlichen Bereich (Heiner Dribbusch/WSI, Catharina Schmalstieg und Klaus Dörre/FSU Jena, Frank Deppe/RLS). Das Fazit des Berichterstatters: „die Klasse“ kämpft deutlich mehr, als es – nicht unerwartet – in den Mainstream-Medien offenbar wird, aber weniger, als „wir“ es für notwendig, sinnvoll, wünschenswert halten.1

Uwe Meinhardt (Erster Bevollmächtigter der IG Metall Stuttgart) betonte in seinem Grußwort die Wichtigkeit der persönlichen, aktiven Streikbeteiligung – nicht immer für den zählbaren Erfolg, wohl aber für die Nachwirkung im Bewusstsein der Streikenden. Cuno Hägele, als Geschäftsführer von ver.di Stuttgart Gastgeber im Gewerkschaftshaus, Ort vieler Streikversammlungen, zog Schlussfolgerungen aus Streiks im Dienstleistungsbereich (ErzieherInnen, Einzelhandel etc.). Eine seiner Schlussfolgerungen war die Betonung der Bedeutung von lokaler/dezentraler Streik-Kompetenz gegenüber der seit den 1890er Jahren vorherrschenden Vorstellung von zentral geführten Streiks. Eine nicht unumstrittene Wertung. So zeigen Beispiele aus den Bereichen der IG Metall (Automobil- und IT-Branche), dass es gerade auf die zentrale, auch internationale Koordination ankommen kann, um die jeweilige lokale Kompetenz wirksam werden zu lassen. In einer abendlichen Eröffnungsveranstaltung „Politische Streiks im Europa der Krise: Neue Dimensionen der Proteste gegen die Kürzungspolitik“ diskutierten GewerkschafterInnen aus Spanien (Nuria Montoya, CC.OO Barcelona), Großbritannien (Sean Vernell, UCU) und Deutschland (Günter Busch, ver.di Baden-Württemberg) über ihre Erfahrungen.

Die Konferenz tagte im Plenum und insgesamt neun Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen streikbezogenen Themen. Im Hauptreferat des Samstagvormittags ging Bernd Riexinger (ehem. Geschäftsführer ver.di Stuttgart, jetzt Vorsitzender DIE LINKE) zunächst auf die Verschiebungen des Schwergewichts der Kämpfe von den klassischen Branchen (wie Metall, Chemie) zu den Dienstleistungsbereichen (Einzelhandel, Nahrung, Gesundheit u.a.) ein. Dort werden allerdings im Wesentlichen Abwehrkämpfe gegen schwindende Tarifbindung, Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse, Verschlechterung von Arbeitsbedingungen geführt – dies aber immer wieder durchaus erfolgreich. Riexinger trug eine Reihe von Kriterien für erfolgreiche Streikmethoden vor, die seines Erachtens verallgemeinerbar sind. Organisierung durch Streik ist möglich, es muss kein Organisationsgrad von 90 Prozent vor einem Streik erreicht sein. Entschlossenheit und Stärke müssen gezeigt und durch Demokratisierung sowohl der Entscheidungen zu Streikstrategie, -taktik und -durchführung als auch der Bewertung von Verhandlungsständen befördert werden. Die Streiks müssen soweit möglich an öffentlichen Orten geführt und der Öffentlichkeit vermittelt werden. So konnte bei Streiks im ÖPNV Akzeptanz dadurch erreicht werden, dass zeitweise nicht die Busfahrer, sondern die Servicebüros, die KontrolleurInnen und die Wartung streikten, wodurch statt der NutzerInnen der Arbeitgeber geschädigt wurde. Und am Ende gilt schließlich: „Das Ergebnis muss den Streikenden schmecken, nicht der Verhandlungsführung“. Kurz ging Riexinger auf die politischen Rahmenbedingungen wie Hartz IV, Werkverträge und Arbeitsrecht ein, die eine verstärkte Wahrnehmung des politischen Mandats der Gewerkschaften geradezu herausforderten.

Mitten aus dem Arbeitskampf um einen Haustarifvertrag beim familiengeführten Verpackungshersteller Neupack berichtete der Betriebsratsvorsitzende Murat Günes. Seit November 2012 sind dort 110 von 200 Beschäftigten – die Angestellten konnten bisher nicht einbezogen werden – im flexibel geführten Arbeitskampf. Was außer der fehlenden Verbindung zu den Angestellten den Erfolg des von der IG BCE gestützten Arbeitskampfes bisher verhindert hat, ist nach Günes die „beschissene Streik-Rechtsprechung“, die Streikbruch erleichtert.

Neben Erfahrungsberichten von Streiks in Kliniken, bei Erzieherinnen, im Einzelhandel, in der Nahrungsmittel-, der Windkraft-, der IT- und der Finanzbranche, die als Illustrationen und Detaillierungen zu Riexingers Thesen verstanden werden konnten, kam es in Plenen und den Arbeitsgruppen auch immer wieder zu streitbaren Diskussionen zum Verhältnis von zentraler und dezentraler Anlage und von haupt- und ehrenamtlichen Aktiven.

Hierzu bot in der AG „Partizipationspotentiale betriebsnaher Tarifarbeit – zum offensiven Umgang mit Verbetrieblichung“ Frank Deppe eine Auflösung dieser Gegensätze durch die konkrete Analyse historisch-gesellschaftlicher Bedingungen an. Anhand zahlreicher Beispiele – vom Betriebsrätegesetz 1920 über betriebsnahe Bildungsarbeit in den 1960ern, die Septemberstreiks 1969 und die Ford-Streiks 1972, Betriebsarbeit von Linken in der IG Chemie bis zu den aktuellen Abwehrkämpfen – machte er klar, dass die gewerkschaftspolitische Kunst immer wieder darin besteht, durch die transparente und demokratische Koordinierung von betriebsnahen, zentralen und politischen Aktivitäten zu kampffähigen und solidarischen Belegschaften zu kommen.

Uwe Zabel (IGM) und Jürgen Hinzer (NGG) betonten als erfahrene hauptamtliche Streikorganisatoren und Mobilisatoren leidenschaftlich, dass die Gegenüberstellung von aktionsbereiter Basis und dämpfendem Apparat in vielen Fällen nicht der Realität entspricht. Gerade in der mittleren Funktionärsebene spielen hier Menschen eine Rolle, die ihre Herkunft aus der „alten“ Arbeiterbewegung bzw. der 68er Lehrlings- und Studentenbewegung nicht verdrängt haben. Dass es negative Gegenbeispiele gibt, dass „schwache Abschlüsse zur Stärkung des Standorts“ getätigt werden, dass lokale „Organizing“-Erfolge durch zentral geschlossene Abschlüsse zunichte gemacht werden, wurde in der Diskussion aber auch deutlich.

Einigkeit bestand darin, dass der Unternehmertaktik der Verbetrieblichung als Entscheidungsverlagerung auf die leichter zu erpressenden Betriebsräte eine Betriebsorientierung als Demokratisierung von Aktionsplanung und Durchführung entgegengesetzt werden muss und kann. Frank Deppe äußerte die skeptische Hoffnung: Räume für Diskussionen „wie hier“ auch in den Gewerkschaften zu schaffen.

Dass sich die Türen zu solchen Räumen im wissenschaftlichen Bereich wieder einen Spalt weit öffnen, machte der Jenaer Soziologe Klaus Dörre, der dazu auch seinen Teil beigetragen hat, im Abschlussreferat deutlich. Nachdem jahrelang der sozialwissenschaftliche Mainstream mit den Grundaussagen „Die Gewerkschaften sind in der Defensive – und das ist auch gut und richtig so. Ihre Zukunft ist wie die Vergangenheit, nur schlechter“ nahezu unangefochten war, beschäftigen sich inzwischen etwa 70 junge Wissenschaftler vernetzt mit Fragen des „Strategic Unionism“ und versuchen „Unsichtbares sichtbar zu machen“.

Aus der Perspektive eines „lernenden Wissenschaftlers“ formulierte Dörre seine Positionen zur gewerkschaftlichen Strategie: Es gibt immer eine strategische Wahl, z.B. zwischen einem Deal mit der Regierung und Massenmobilisierung; die Erschließung von Machtressourcen (ökonomische, organisatorische, institutionelle, kommunikative) hat zentrale Bedeutung für die (Wieder-)Herstellung von Konfliktfähigkeit; im Streik findet diese ihren zugespitztesten Ausdruck; Streiks sind je nach betrieblichen und Branchen-Voraussetzungen (weiblicher, prekärer, migrantischer …) anders zu führen; ein Risiko ist die Neigung zu exklusiver (Standort, Ethnie …) Solidarität; eine Chance die Erarbeitung der Vision einer anderen Welt.

Dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung im nächsten Jahr erneut eine Plattform für die gemeinsame Diskussion von Praktikern und Wissenschaftlern zur „Erneuerung durch Streik“ anbieten will, fand allgemeine Zustimmung.

Heinz-Jürgen Krug

„Eurokapitalismus“. Politik und Ökonomie der EU und der Euro-Krise

Marxistische Studienwoche, 4. bis 8. März 2013, Marburg-Biedenkopf

Worin besteht genau die Euro-Krise? Was ist die EU, wie ist sie entstanden und wer herrscht in ihr? Hätte man die Banken pleite gehen lassen können? Was wären Alternativen? Um diese Fragen ging es in der diesjährigen von Z in Zusammenarbeit mit der Heinz-Jung Stiftung vom 4. bis zum 8. März veranstalteten marxistischen Studienwoche mit dreißig TeilnehmerInnen, vorwiegend Studierenden. Die Beiträge von Prof. Dr. Frank Deppe (Marburg), Prof. Kees van der Pijl (Amsterdam/Sussex), Prof. Dr. Andreas Fisahn (Bielefeld), Dr. Joachim Bischoff (Hamburg), Prof. Dr. Joachim Becker (Wien), Mathis Heinrich (Lancaster) und Lucas Zeise (Frankfurt/M.) regten zu lebendigen Diskussionen an. Thematisch lässt sich die Studienwoche in vier Blöcke aufteilen. An ihnen orientiert sich der folgende Bericht. Das Generalthema lautete: „‚Eurokapitalismus’. Politik und Ökonomie der EU und der Euro-Krise“.

I. Was ist die EU?

Beim Versuch zu klären, was die Europäische Union ist, ging Frank Deppe von der marxschen Theorie des Akkumulationsprozesses aus, der zufolge das Kapital nicht stillsteht, sondern dazu tendiert, bestehende Grenzen zu überwinden. Die EU sei eine Antwort auf diese Tendenz in einem bestimmten historischen Moment. Gleichzeitig sei die Europäische Einigung Ausdruck der politischen Konstellation nach dem Ende des zweiten Weltkrieges: Im Zentrum standen zugleich die Eindämmung Deutschlands und die Bildung einer antikommunistischen Allianz. In diesem Kontext spielte die in der Resistance begründete euroföderalistische Tradition bald keine Rolle mehr. Heute weist die EU als supranationale Entität einen zu hohen Integrationsgrad auf, um von einem Staatenbund zu sprechen. Aufgrund der fehlenden Vereinheitlichung zentraler Politikfelder handelt es sich aber auch um keinen Bundesstaat. Juristen sprechen von der EU als einem Staatenverbund.

Mit dem institutionellen Geflecht der EU im Spannungsverhältnis von Souveränität, Demokratie und Kapitalismus beschäftigte sich Andreas Fisahn. Demzufolge erfüllt die EU auch die Funktion, zu verhindern, dass die subalternen Klassen in den europäischen Nationalstaaten von der politischen zur sozialen Emanzipation fortschreiten. Auf europäischer Ebene habe die „freie Markwirtschaft“ Verfassungsrang erhalten (AEUV Art.120). Die Wirtschaftspolitik ziele auf eine Harmonisierung des Waren- und Kapitalverkehrs und die Vereinheitlichung der Konkurrenzbedingungen zwischen Konzernen. Im Bereich der Steuer- und Sozialpolitik – Souveränitätsmerkmal aller modernen Staaten – existiere hingegen keine einheitliche Regelung. Die marktorientierte Integration unter Vernachlässigung von Souveränitäts- und Demokratiemerkmalen hat – wie Frank Deppe anmerkte – zudem dazu geführt, dass sich keine europäische Öffentlichkeit im Sinne einer „vierten Gewalt“ (Habermas) herausbilden konnte.

II. Wer herrscht in der EU?

Die Eindämmung der BRD war ein wichtiges Motiv des Integrationsprozesses. Nach Kees van der Pijl hat Frankreich im Kontext der Europäisierung Deutschland jedoch bei der Ausweitung der Stahlproduktion, der Remilitarisierung und der Ost-Erweiterung freie Hand gelassen. Zudem kam es zur Übernahme der Prinzipien deutscher Geldpolitik auf europäischer Ebene. Die Wiederkehr einer erneuten Vorrangstellung Deutschlands in Europa sei mit der Wiedervereinigung gekrönt worden.

Im Kontext der hinter dem Verhältnis zwischen Staaten stehenden ökonomischen Prozessen entwarf Joachim Becker ein Frageraster zur Analyse der Entwicklung des europäischen Wirtschaftsmodells: (1) Stehen Investitionen im produktiven Bereich im Vordergrund oder handelt es sich um eine zunehmende Investitionsverlagerung in den Finanzsektor (Finanzialisierung)? (2) Wie wird produziert? Gibt es eine Ausrichtung auf eine Verlängerung der Arbeitszeit oder um eine Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft durch höhere Produktivität (relativer Mehrwert)? (3) Ist die räumliche Ausrichtung der Akkumulation auf Export ausgerichtet oder besteht ein starker Importüberhang? Van der Pijl unterschied zudem zwei Phasen des Kapitalakkumulationsprozesses in der Geschichte der Europäischen Integration: So könne man bis ca. 1991 von einem „korporativen Liberalismus“ sprechen, in dem das gemeinsame Interesse des Kapitals der Kernländer auf eine Erweiterung der Exporte zielte, indem neue Märkte erschlossen wurden. Die zweite Phase des europäischen Integrationsprozesses lässt sich, so van der Pijl, am besten als neoliberal charakterisieren. Sie erfolgt innerhalb einer verstärkten Finanziarisierung des Kapitalakkumulationsprozesses und beruht auf einem neuen Klassenkompromiss mit den Mittelschichten, deren Kapital stärker in den Finanzsektor eingebunden wird. Becker führt aus, dass die Finanzierung meist dann zustande kommt, wenn die produktive Akkumulation erlahmt. Kann man nicht mehr in der Realökonomie produktiv investieren, wird der Kapitalüberschuss in Anlageformen investiert, die Ansprüche auf einen Teil des zukünftig produzierten Mehrwertes darstellen, beispielsweise in Form von Aktien, Wertpapieren oder Derivaten (fiktives Kapital). Ein zentraler Integrationsschub erfolgte in dem für diese Entwicklung wichtigen Kontext einer stabilen Währung. Mit der im Maastrichter Vertrag beschlossenen Einführung einer einheitlichen Euro-Währungszone bekommt der Integrationsprozess somit einen neuen Rahmen, der einem global zunehmenden Machtkampf Rechnung trägt. Insbesondere für die Länder des EU-Zentrums verbesserte sich damit die Position innerhalb des finanzialisierten Kapitalismus, während – wie van der Pijl hervorhob – sich die Einführung des Euro für die Peripherie als ungünstig erwiesen habe. Van der Pijl exemplifizierte dies am Paradebeispiel Griechenland: Die Infrastruktur wurde dort in großem Stil aus EU-Geldern über Aufträge des griechischen Staates an ausländische Konzerne und unter Mitwirkung günstiger Kredite griechischer Banken finanziert. Wie Becker ausführte, lässt sich auch die Osterweiterung in dieser Phase verorten: Im Kontext der Privatisierungen seien 60 Prozent der osteuropäischen Banken in ausländische Hand überführt und die Binnennachfrage durch Privatverschuldung angeheizt worden.

III. Die Euro- Krise

Die Entwicklung der noch andauernden Krisenprozesse fassten Joachim Bischoff und Lukas Zeise in ihren jeweiligen Vorträgen zusammen: Dabei wurde der Zusammenhang zwischen zyklischer Überproduktionskrise, (verzögerter) Bankenkrise und Umschlag der in eine Krise der Staatsfinanzen ausführlich besprochen. Aus der Immobilien und Kreditblase (2007) ging die globale Finanz- und Bankenkrise hervor, „gekrönt“ vom Bankrott der Bank „Lehmans Brothers“ (2008). Die darauf folgende globale Wirtschaftskrise ab dem Jahre 2009 verlagert sich dann in die Euro-Zone, und wird zuerst in Griechenland (2009/2010) und dann in Portugals und Spanien (2011/2012) zur Staatsschuldenkrise. Auf die Ursachen der Euro-Krise gingen alle Redner ein: Wie Matthis Heinrich betonte, war die Einbettung der europäischen Ordnung in das globale „Dollar-Wall-Street-Regime“ eine Voraussetzung der Krise. Das Ausmaß der Finanzialisierung des Kapitals durch Kredite verbildlichte van der Pijl mit beispielhaften Zahlen: die Verschuldung des Finanzsektors hat sich von 18 Prozent des BIPs zu Beginn der 1980er Jahre auf 180% im Jahr 2000 verzehnfacht. Dieses Modell, das sich zuletzt auf einen spekulativ aufgeblähten Immobilienmarkt stützte, konnte nicht auf Dauer funktionieren. Die Funktionsstörungen des Finanzsektors hatten schließlich konkrete Folgen für die Realwirtschaft, wie Bischoff rekapitulierte: Mit der Finanzialisierung sei eine Abschwächung der Wachstumsraten einhergegangen. Dies zeige sich in der gegenwärtigen globalen Rezession.

Auf die mangelnde Kapitalverfügbarkeit der Banken reagierten die europäischen Staaten mit der Bankenrettung, indem sie sich dagegen entschieden, die Kreditinstitute bankrott gehen zu lassen. Aus dem Interesse heraus, das Währungssystem zu erhalten und den kompletten Zusammenbruch zu verhindern, wurde die Garantiepflicht für die Kreditwürdigkeit der Privatbanken auf die Staaten abgewälzt (Zeise). Die Unfähigkeit, angemessen auf die Krise zu reagieren, sah Bischoff als Ergebnis der Fehlkonstruktion einer Währungsunion ohne einheitliche Fiskal- und Sozialpolitik. Der beschrittene Weg der Krisenlösung qua Sozialisierung der Schulden bedeutet – mit van der Pijls Worten – nicht nur, dass die Bevölkerung für die Schulden, die der Finanzsektor gemacht hat, zahlen muss, sondern sie stellt auch eine Art Versicherungsmaßnahme dar: Eine ganze Bevölkerung bietet mehr Garantien als ein einziger Akteur.

IV. Auswertung und Alternativen:

Die Arbeitslosenzahlen sind auf ein unerhört hohes Niveau gestiegen und große Teile der Bevölkerung sind auf Jahrzehnte dazu verdammt, mit den Folgen der Austeritätspolitik zu kämpfen. Die EZB hat zwar vorerst die Gefahr eines Zusammenbruches des Währungssystems reduziert, aber sie konnte weder die fundamentalen Probleme der Währungsunion lösen, noch das Anwachsen privater und öffentlicher Schulden bremsen. Der von Becker betonte Widerspruch zwischen einer steigenden Arbeitslosigkeit innerhalb einer stagnierenden Realwirtschaft und einem steigenden Anteil an Krediten, die nicht zurückgezahlt werden können, wird nicht gelöst. Wesentlicher Grund der Krise ist dabei – wie Becker bekräftigte – dass das zentrale Reproduktionsniveau der Länder durch massive Verschuldung erfolgt und die Kapitalakkumulation vom Finanzmarkt getragen wird. Dem wurden durch fehlende einheitliche Fiskal und Sozialpolitik auf EU-Ebene keine Grenzen gesetzt. Die Verordnung straffer „Wachstums“- und die Sozialordnung gefährdender Sparprogramme bedeutet die Verschiebung des Klassenkompromisses und die damit einhergehende Übertragung der Macht auf legale, oligarchische Gremien in Unternehmen und in der Staatsbourgeoisie (Fisahn). Deutlich erkennbar zeigt sich eine Ausrichtung der EU auf eine autoritäre Wirtschaftsregierung zentraler Intervention in nationale Haushaltspolitik. Die Durchsetzung der Rettungspakete war dabei nicht nur eine systemerhaltende Intervention, sondern auch der Ausdruck einer symbolischen Geste von Hegemonie.

Die Frage nach Alternativen stellte sich zunächst im Kontext der Diskussion darüber, ob man die Banken hätte pleite gehen lassen können (oder sogar müssen). Van der Pijl stellte fest, dass man mit der Sozialisierung der Schulden die Massen zum Verlierer gemacht habe. Gegen die Umschreibung der Schulden und für einen Schuldenschnitt sprach sich auch Bischoff aus, und betonte zugleich: Die Banken in Konkurs gehen zu lassen gehe mit einer hohen Ungewissheit bezüglich der Betroffenen, insbesondere hinsichtlich Pensions- und Versicherungsansprüchen, einher. Er plädierte daher für die Gründung einer Ausgleichsunion mit einer der EZB angegliederten Strafkasse, wie sie Keynes bereits 1929 vorgeschlagen hatte. Zudem sollten die Sparprogramme, die sowieso dem Wachstum schaden, beendet, der Bankensektor reguliert und verstaatlicht werden (außer den Sparkassen, bei denen es reichen würde, die Kontrollmechanismen zu stärken). Außerdem müssten Außenhandelsungleichgewichte beseitigt, andere Steuersätze und eine Vermögensbesteuerung eingeführt und wirtschaftlicher Input gefördert werden. Becker hingegen argumentierte für den Austritt Griechenlands aus der Eurozone, einhergehend mit einem Einfrieren der Konten reicher Bürger, um „Kapitalflucht“ zu verhindern und der Aufhebung des Schengener Abkommens. Daraufhin könnten Investitionen in die Industrie, die Stärkung des Staates und eine Einbindung des Kapitals für die Entwicklung der Produktivkräfte begonnen werden. In der Schlussdebatte (Deppe, Zeise) stand noch einmal die Frage nach den verschiedenen Ebenen des Klassenkampfs und der Entwicklung von Alternativen im Mittelpunkt – EU-Ebene und Nationalstaaten.

Die Krise systemischen Ausmaßes wird bisher, trotz vorhandener und realisierbarer Lösungs- und Alternativmöglichkeiten, durch einen Klassenkampf von oben beantwortet. Fortsetzung folgt.

Ika Audano/Martin Laqua

Ökologie, (Anti-)Militarismus, (Anti-)Imperialismus und Weltwirtschaft

13. bis 14. April 2013, Kassel

Mit der weltweit wachsenden Kriegsgefahr und deren ökonomisch-politischen Hintergründen beschäftigte sich die diesjährige SALZ-Konferenz „Ökologie, (Anti)militarismus, (Anti)imperialismus und Weltwirtschaft“; Schwerpunkt war das Problem des Umgangs mit den natürlichen Ressourcen.

Nach einem einleitenden Referat von Klaus Engert zur Marxschen Rezeption des Rohstoffproblems beschäftigte sich die Bundestagsabgeordnete der Links­partei Inge Höger mit den kriegerischen Folgen des globalen Wettlaufs um natürliche Ressourcen und den Strategien der Großmächte (abgedruckt in diesem Heft, S. 14 ff.; Anm. der Red.). Dabei ging es nicht nur um die Kontrolle über fossile Energieträger und „Ölkriege“, sondern auch um Uran, das bspw. eine Rolle im Krieg in Mali spielt, und die strategischen Pläne zur Installierung und Sicherung von Transportwegen. In diesem Zusammenhang diskutiert wurde ein Zitat von Frank Doll aus der Wirtschaftswoche zum Rohstoffkrieg in Mali: „Die einzigen bekannten und strategisch wichtigen europäischen Interessen in der Region sind die Uran- und Ölvorkommen in Mali und die französischen Uranminen im angrenzenden Niger. Frankreich hängt als Atommacht und Atomstromland stark von der Versorgung mit Uran ab. Ein Drittel des Uranbedarfs bezieht Frankreich aus dem Niger. Um die weitere Destabilisierung des Landes zu verhindern greift Frankreich jetzt in Mali ein.“[1]

Peter Strutynski vom Friedensratschlag Kassel sprach nicht nur, wie vorgesehen, zu Migration/Vertreibung aufgrund der Folgen des Klimawandels, sondern eröffnete ein komplettes Panorama der zukünftig möglichen bzw. drohenden Kriege (ebenfalls veröffentlicht in diesem Heft, S. 21 ff., Anm. d. Red.). Er kam zu dem Schluss, dass drei Auslöser wesentlich sind: die Eroberung „genetischer Ressourcen“, die „warenförmige Zurichtung der Welt“ und die Konkurrenz um die Kontrolle der natürlichen Ressourcen.

Über Strutynskis Thesen wurde lebhaft und kontrovers diskutiert. Danach würden „Kriege – auch die der Zukunft – (…) zwar nicht ausschließlich, aber immer noch häufig um Rohstoffe geführt.“ Allerdings sei es „den großen Rohstoffkonzernen (etwa Bergbauunternehmen) lieber, ihre Geschäfte ohne Krieg abwickeln zu können.“ Außerdem verlagere sich der Krieg „in das Binnenverhältnis der Konzerne“, und fände „in der extremen Ausbeutung der Beschäftigten“ statt. So bleibe auf „absehbare Zeit (…) das wichtigste Schmiermittel der kapitalistischen Akkumulation die fossile Energie.“ Denn schließlich bedeute „Peak Oil (…) ja nur, dass der Höhepunkt der Ölförderung demnächst erreicht“ würde. Strutynski zufolge könne es „aber noch Jahrzehnte dauern, bis die Fördermengen real geringer werden, es sei denn, es würde aus ökologischen Gründen umgesteuert.“ Allerdings könne sich dieser Zeitraum „noch durch neue Formen der Ölgewinnung (durch die Nutzung von Ölschiefer durch Fracking) verlängern.“ Dies erkläre ebenso „die große Bedeutung, welche die ölarmen reichen Nationen den ölreichen armen Regionen der Erde beimessen.“ Extraktivismus und Landwirtschaft seien „am meisten territorial fixiert“ und böten so „den Ländern der Dritten Welt noch die besten Möglichkeiten, perspektivisch von ihren Reichtümern zu profitieren.“ Eine Bestätigung sieht Strutynski in den „aggressiven Versuchen internationaler Agrarkonzerne, sich qua Landgrabbing Eigentumsrechte und damit künftige Profitquellen zu sichern“. Diese Angriffe gelte es abzuwehren, um „zum eigenen Nutzen auf einen schonenderen Umgang mit den jeweiligen nationalen Ressourcen zu setzen.“ Nur so könnten „die Früchte der extraktivistischen Industrie und Landwirtschaft den jeweiligen Gesellschaften auf längere Sicht zugutekommen.“

Auf Peter Strutynski folgend, legte Claudia Haydt von der Tübinger Informationsstelle Militarisierung den Schwerpunkt auf die Analyse des Widerstandes der vom Raubbau an Rohstoffen betroffenen lokalen Bevölkerungen – nicht nur in den Ländern des globalen Südens wie Brasilien oder den Philippinen, sondern auch in Europa. In Griechenland z.B. wehren sich Menschen gegen Pläne zur Goldförderung. Widerstand, so Haydt, sei teilweise Anlass für die Militarisierung ganzer Regionen mit entsprechenden Konsequenzen bis hin zur physischen Vernichtung von Projektgegnern wie im Amazonasbecken oder auf den Philippinen.

Rudolf Schäfer vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) Hessen beschäftigte sich mit Projekten zur Gewinnung von Schiefergas aus tiefen Gesteinsschichten durch Fracking und deren möglichen Folgen. Fast ganz Nordhessen soll erkundet werden. Allerdings gebe es in der Region geschlossenen und parteiübergreifenden Widerstand gegen die Pläne.

Den Abschluss bildete eine Diskussion anhand eines Referats von Klaus Engert zur Geschichte der Uranförderung in der DDR und zu ihren ökonomischen wie ökologischen Folgen. Der Umfang, in dem für die Gewinnung sowohl Arbeitskräfte wie auch Ressourcen eingesetzt werden mussten, war immens – mit entsprechenden Folgen für die DDR-Wirtschaft und die Entwicklung der DDR.

Sozial/ökologisch hatte die Uranförderung durch die SAG/SDAG Wismut erhebliche Auswirkungen auf die Landschaft und die Natur. Ganze Städte und Dörfer verschwanden – ähnlich wie beim Braunkohletagebau im Westen und Osten. Die meisten Gebäude in Oberschlema und im Zentrum von Johanngeorgenstadt mussten abgerissen werden, weil es durch die darunterliegenden Stollen zu Bodenbewegungen kam. Im Ronneburger und Culmitzscher Revier wurden Dörfer zugunsten von Halden und Tagebauen abgerissen.

Die Hauptfolge war jedoch der permanente Eintrag von strahlendem Material in die Umwelt, also in Luft, Erde und Wasser: Uran, Radium, Radon und ihre Zerfallsprodukte. Hinzukamen die Beimengungen von Eisen, Arsen oder Mangan. All dies konnte in Form von Staub oder Sickerwasser aus den Abraumhalden, den so genannten Absetzanlagen oder auch dem Grubenwasser in die Umwelt gelangen. Hinzu kamen Unfälle wie der Bruch eines Dammes, durch den dann riesige Mengen Schlamm aus der Absetzanlage in die Mulde gelangten.

Für die Häuser in den Regionen stellte das Radon das größte Problem dar, weil es sich in den Innenräumen ansammelte. Hinzu kam, dass früher ein Teil der Häuser mit dem Gestein der Abraumhalden erbaut wurde.

Die Wismut hatte ihre eigene Infrastruktur zur Gesundheitsüberwachung. Die Akten wurden streng unter Verschluss gehalten – was im Übrigen nach 1990 zunächst auch im Westen fortgeführt wurde. Die Berufsgenossenschaft im Westen hatte ebenfalls kein Interesse an einer schnellen Aufarbeitung der gesundheitlichen Folgen des Uranabbaus, erst jetzt kommen langsam die Daten ans Licht.

Über 5.000 Fälle von berufsbedingten Krebserkrankungen sind bisher anerkannt. Geschätzt wird, dass noch 2.000-3.000 hinzukommen werden. Die Dunkelziffer dürfte allerdings immens sein, weil in den ersten Jahren in den Schächten nicht gemessen wurde und erst ab Mitte der 1950er Jahre die so genannte Trockenförderung verboten und Berieselung als Standard eingeführt wurde.

Die Konferenz soll nicht folgenlos bleiben: Eine Redaktionsgruppe wird ihre Ergebnisse in die Kasseler Erklärung „Für eine ökosozialistische Wende von unten!“[2] einarbeiten, die alljährlich im Rahmen einer Beschlusskonferenz des Fördervereins Solidarität in Arbeit & Gesellschaft (SOAG) erweitert wird.

Klaus Engert/Peter Schüren

Klassenanalyse und Intelligenz

Wissenschaftliches Kolloquium, veranstaltet von Z und der Heinz-Jung-Stiftung, 20. April 2013, Gewerkschaftshaus Frankfurt am Main

Die großen Klassen- und Sozialstrukturanalysen des IMSF bildeten in den 1970er Jahren eine wichtige Grundlage für eine marxistische politische Orientierung, die dem Bündnis der Arbeiterklasse mit der wissenschaftlich-technischen Intelligenz einen hohen Stellenwert zuschrieb. Heute ist eine Art Renaissance der Klassen- und Intelligenzanalyse festzustellen, jedoch unter ganz anderen Vorzeichen. Über zwanzig Jahre neoliberaler Hegemonie haben, erst recht in Anbetracht der Krise und der Austeritätspolitik, soziale Ungleichheit verschärft. Politische Akteurskonstellationen haben sich tiefgreifend verändert, alte Politisierungsansätze verloren an Bedeutung, neue haben sich herausgebildet. Diese Entwicklungen waren Thema eines wissenschaftlichen Kolloquiums, das Redaktion und Beirat von Z mit Unterstützung der Heinz-Jung-Stiftung am 20. April in Frankfurt/Main mit etwa 50 Teilnehmern veranstalteten. Unmittelbarer Anlass der Tagung war der 65. Geburtstag von André Leisewitz, der an den genannten Studien des IMSF – zusammen mit anderen – großen Anteil gehabt hatte. Trotz eines umfangreichen Tagungsprogramms und des straffen Zeitrahmens gelang es Referenten und Diskutanten, zentrale aktuelle Streitfragen im Kontext einer zeitgemäßen Intelligenzanalyse zu umreißen.

Die Orientierung auf einen politischen Block des Kerns der Arbeiterklasse mit der Intelligenz war in den späten 60er, frühen 70er Jahren neu, unterstrich Frank Deppe in seinem Einleitungsbeitrag. Er skizzierte die Essentials der klassenanalytischen Studien von damals, die eng mit der Herausarbeitung des Begriffs der lohnabhängigen Mittelschichten verbunden waren, und stellte ihnen die aktuellen Veränderungen gegenüber, vor allem die Ansätze zu neuen Formen und Akteurskonstellationen der Rebellion. U. a. verwies er auf die „urban poor“, auf die junge prekarisierte Intelligenz, aber auch auf Teile der „alten“ Arbeiterklasse als Träger kontemporärer Proteste. Deppe nannte auch das Problem fehlender „Schnittmengen“ und den offensichtlichen Bedarf an einer wie auch immer gearteten politischen „Führung“ oder „Orientierung“. Dieter Boris skizzierte anschließend die wichtigsten Trends der Sozialstrukturentwicklung seit den 1970er Jahren. Als zentrale Stichworte nannte er Tertiarisierung, Feminisierung der Erwerbsarbeit, Zunahme des Qualifikationsniveaus, wachsende Ungleichheit von Einkommen und Arbeitsbedingungen sowie die allgegenwärtige Tendenz der Prekarisierung. Für die Intelligenz konstatierte er eine starke Binnendifferenzierung. Das alles, so Boris, habe dazu geführt, dass die Zentralität der Arbeiterklasse, auf welche sich die Intelligenz als Massenschicht zu orientieren habe, weiter relativiert worden sei.

Bernhard Müller näherte sich diesen Trends unter dem Aspekt des „Abstiegs der Mittelklasse“ und der Bedrohung der gesellschaftlichen „Mitte“ durch Prekarität und Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen. Auch er betonte ihre politisch-strategische Bedeutung für linke Politik, da sich trotz der Instabilität ein großer Teil der Bevölkerung immer noch zur „Mitte“ zähle. Damit wandte sich die Diskussion den möglichen Politisierungsansätzen zu, die für einzelne Gruppen der Intelligenz heute erkennbar seien. Als Gegenstände der weitergehend politisch-strategischen Diskussion offenbarten sich zentrale Fragen, wie die nach einem revolutionären Subjekt, der Vermittelheit von sozialer Lage und politischem Denken sowie die Frage, ob die heterogenen antikapitalistischen Kräfte einer wie auch immer gearteten gemeinsamen „Führung“ bedürften und wie diese aussehen könnte.

Zunächst wandte sich die Diskussion der wissenschaftlich-technischen Intelligenz zu. Heinz-Jürgen Krug brachte seine Erfahrungen in der Firma EDS und den auf die Übernahme durch IBM folgenden Streik ein, betonte vor allem, dass es sich bei der IT-Branche um eine „normale Industrie“ handele und in Arbeitskämpfen nur wenige Unterschiede zwischen Prekariat und Intelligenz zu Tage träten. Über neue Formen der Einbindung (subjektiver) Kreativarbeit in objektive Arbeitsprozesse, also die Umwandlung „formaler“ in „reelle“ Subsumtion der Arbeit unter das Kapital informierte Andreas Boes, der die Etablierung eines „permanenten Bewährungssystems“ und die Notwendigkeit der Gewerkschaft hervorhob, um gegen Ohnmachtserfahrungen anzukämpfen.

Im Anschluss schilderte Steffen Dörhöfer die Paradoxien solcher Prozesse, welche sich sowohl Interessenvertretung wie auch Management zu Nutze machen könnten – und hob die Unterschiede zwischen einzelnen Branchen und dem entsprechenden „Branchenbewusstsein“ hervor. Stefan Schmalz verdichtete die Befunde aktueller Gewerkschaftsforschung und zeigte an Befragungen ostdeutscher Belegschaften die neusten Entwicklungen: Feminisierung und Prekarisierung, zunehmende Aufgeschlossenheit gegenüber Gewerkschaften und ein zusehends unverstellter Blick auf die teilweise als „Diktatur“ wahrgenommen Betriebsstrukturen. Allerdings problematisierte er auch das gewerkschaftliche das Organizing-Konzept, das manchmal zum Allheilmittel gegen Mitgliederschwund und für die Organisierung prekärer Werktätiger überhöht werde, jedoch auch zur Entpolitisierung gewerkschaftlicher Arbeit beitragen könne.

In der anschließenden Diskussionsrunde wurden diese neue Formen der Kreativ-Arbeit, Informatisierung und Globalisierung des Produktionsprozesses und die „Fragmentierung von Klassenerfahrungen“ diskutiert und einem zentralen sozioökonomischen Klassenbegriff gegenüber gestellt. Durch diese Differenzierungen und weitere Dimensionen müssten die alten Konzepte erweitert und zunehmend, z.B. durch das Verhältnis zu Personal- und Wissensmanagern zu den Beschäftigten bestimmt werden.

Ein weiterer Diskussionsblock wandte sich den unterschiedlichen, stark wachsenden Intelligenzgruppen zu, die im sozialen, medizinischen und pädagogischen Bereich tätig sind. Wolfram Burkhardt erörterte die „Rolle der Intelligenz im Gesundheitswesen“ und machte als politisch aktive Akteure die Ärzteschaft und die neue „Pflegeelite“ aus, die zusammen mit der Akademisierung im Gesundheitswesen Potenziale zur Ausbildung einer kritischen Intelligenz böten. Als Probleme sah er u.a. einen niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und hohe psychische Belastungen. Torsten Bultmann wandte sich den Entwicklungen im Wissenschafts- und Universitätsbetrieb zu und konstatierte eine stärkere Hierarchisierung des Hochschulbetriebes, Prekarisierung der Arbeit und chronische Unterfinanzierung. Eine Spezifizierung auf die Situation der Studierenden lieferten Simon Zeise und Anne Geschonnek, die Missständen wie Entwertung der Abschlüsse und Militarisierung der Universitäten Kampagnen wie die Zivilklauselbewegung und den Anteil Studierender an sozialen Protesten in anderen Ländern entgegenhielten. Damit zeigten sie auch die Schwierigkeiten bei der Politisierung der Studierenden, die sich von früheren Studierendengenerationen stark unterscheiden. Karl-Heinz Heinemann beschloss den Abschnitt mit einem kurzen Resümee über die Entwicklung des Lehrberufes: von Adornos Essay bis zu den Didaktikdebatten der Gegenwart.

An diesem Punkt entfachten sich Diskussionen um die von Heinemann geforderte Professionalisierung angehender Pädagogen; zur Debatte stand auch die Frage nach der (Dis)funktionalität der Bolognareformen und inwieweit das „skandinavische Modell“ des Bildungs- und Wohlfahrtswesens Vorbild für eine transformatorische „Bearbeitung“ der verschiedenen diskutierten Probleme rund um prekarisierte Intelligenz sein könne.

Abgerundet wurde das Kolloquium durch zwei abschließende Vorträge: Lothar Peter diagnostizierte das Ende des „universalistischen Intellektuellen“ und stellte dem einen in seiner „lokalen Wirklichkeit“ wirkenden „Intellektuellen von unten“ entgegen, einen Experten, der über seine Profession hinaus und durch diese politisch wirkmächtig würde. David Salomon stellte die Frage, inwiefern von einer Rückkehr der Politik in die Kunst gesprochen werden könne und zeigte an einem literarischen Beispiel, wie auch die eigene meist prekäre Lage Eingang in die Werke der Künstler finde.

Kontrovers diskutiert wurde die Über- oder Unterschätzung der kommunikationstechnischen Revolution für einen wie auch immer gearteten neuen Intellektuellentypus und die Frage, welche neuen politisch-ästhetischen Formen in welcher Art unsere Gegenwart prägten. Das Kolloqium wurde von André Leisewitz in einem kurzen Resümee beschlossen. Darin fragte er nach der Rolle und Betroffenheit der Intelligenz in der derzeitigen Krise, unterstrich, die vielschichtige, oft fragmentierte Lebens- und Arbeitsrealität der heutigen „Wissensarbeiter“ müsse weiter erforscht werden und betonte, diese müsse jeder klassentheoretischen Erörterung vorausgehen. Dies alles werde in zukünftigen Ausgaben von Z weiter thematisiert werden.

Alan Ruben van Keeken

Quo vadis NATO? –
Herausforderungen für Demokratie und Recht

Kongress der IALANA, 26. bis 28. April 2013, Bremen

Stadt und Universität Bremen als Ort der Austragung eines solches Kongresses haben gewissermaßen Symbolkraft. Darauf wies der Direktor des in Bremen befindlichen Zentrums für Europäische Rechtspolitik, Andreas Fischer-Lescarno, auf der Eröffnungsveranstaltung hin: Bremen ist ein Zentrum der Rüstungsindustrie; die Bremer Universität war auch die erste gewesen, die eine Zivilklausel eingeführt hat, und von hier gingen die neuen Kämpfe um die Zivilklausel an Hochschulen in den letzten Jahren aus. Eine besondere Brisanz entsteht dadurch, dass die Universitäten durch Sparpläne im öffentlichen Haushalt dazu gebracht werden, sich mehr und mehr um Drittmittelprojekte zu bemühen. So werden sie erpressbar, wie zahlreiche Beispiele belegen – gerade auch in Bezug auf das Interesse von Rüstungsunternehmen, zivil-militärische Forschung an den Universitäten zu nutzen.

Der anspruchsvolle Kongress über die gegenwärtige und zukünftige Rolle der NATO wurde von der International Association of Lawyers against Nuclear arms und rund zwei Dutzend Kooperationspartnern aus dem universitären und juristisch-gesellschaftlichen Bereich (darunter auch die in Frankfurt/M. ansässige Heinz-Jung-Stiftung) durchgeführt. In den zwei Impulsvorträgen referierte zunächst der frühere UN-Diplomat Hans-Christof Graf von Sponeck über das Verhältnis von Menschenrechten, Militäreinsätzen und geopolitische Interessen. Er hielt fest, dass die Art und Weise, wie der UN-Sicherheitsrat auf die Kriege und Krisen reagiert, aber auch die zunehmende Ignoranz der NATO gegenüber der UN, zeigen, wie sehr der UN-Sicherheitsrat ein Konstruktionsfehler ist und die UN dringend reformiert werden müssen. Die NATO dagegen würde nicht nur außerhalb der UN-Strukturen eine eigene Politik verfolgen, sondern ihre Macht und ihren Einfluss systematisch durch zahlreiche multi- und bilaterale Kooperationsvereinbarungen ausbauen. Der Zustand der NATO ließe sich so beschreiben: Einerseits erweitere sie sich kontinuierlich, andererseits offenbaren Einsätze wie der in Afghanistan aber auch ihre Schwächen. Ihre strategische Politik lege mittlerweile für jeden deutlich sichtbar die Heuchelei der Legitimationsfloskel „Menschenrechtsintervention“ und des Konzepts „Responsibility to Protect“ offen. Es zeige sich ein Egoismus der NATO-Staaten, die trotz UN-Mitgliedschaft und Unterzeichnung der UN-Charta als NATO-Mitglieder gegen die UN-Vereinbarungen verstoßen. Hoffnung mache, dass sich gegen diese unipolare Ausrichtung der NATO wachsender multipolarer Widerstand rege. Der zu beobachtende Wandel hin zu einer multipolaren Welt und das damit verbundene sinkende Vertrauen gegenüber dem Westen, insbesondere den USA, lege nahe, dass ein von den US-Eliten angestrebtes „amerikanisch-pazifisches“ 21. Jahrhundert Wunschdenken bleiben wird.

Reinhard Merkel (Universität Hamburg) machte seine „sozialphilosophisch inspierte“ Haltung deutlich: Grundsätzlich nicht gegen Interventionen eingestellt, verurteilte er den Angriff auf Libyen als völkerrechtswidrig: Die NATO-Einsatzländer haben von Anfang an gegen die UN-Resolution 1973 verstoßen, da es nicht bloß um den Schutz von Zivilisten ging, sondern um den Sturz Gaddhafis. Dennoch sei das strategische Konzept der „Responsibility to Protect“ – mit dem auch der Einsatz gegen Libyen begründet worden war – ein Fortschritt. Obwohl keine Norm des Völkerrechts, habe das Prinzip jedoch einen Normcharakter und formuliere eine „positive Pflicht“. Das Problem, so Merkels Argumention, sei eher, dass der Sicherheitsrat nicht die Rolle eines Weltpolizisten spiele darf, d.h. gegen innere völkerrechtliche Verbrechen dürfe er eigentlich nicht vorgehen.

Im folgenden Streitgespräch mit Merkel sowie Katja Keul (MdB GRÜNE) und Norman Paech (Ex-MdB DIE LINKE) wurde deutlich, was auf dem Kongress insgesamt zu kurz kam: die politische Bewertung militärischer Einsätze und die damit verbundene Verletzung des Souveränitätsrechtes von Staaten. So drehte sich die Diskussion vor allem um die Frage, ob die vergangenen NATO-Einsätze aus völkerrechtlicher Sicht legal und legitim waren; bei politischen Bewertungen hielt man sich auffällig zurück. Besonders deutlich wurde dies bei der Frage, ob das „Reponsibility to Protect“-Konzept von Grund auf falsch oder nur „ein gutes Konzept in falschen Händen“ sei, das aber insgesamt einen Fortschritt darstelle. Festgehalten wurde aber von Paech, dass die NATO dabei ist, sich ein eigenes „Völkerrecht“ zu schaffen. Auch der Aspekt des „Fact-Findings“, wonach juristische Bewertungen nur möglich sind, wenn es ausreichend zuverlässige Informationen gibt, wurde angesprochen und als wesentliches Problem definiert.

Die Plenarveranstaltungen des nächsten Kongresstages deckten die zwei Themenblöcke „Terrorismus und Anti-Terrorismus“ sowie „Neue Geostrategische Konzepte der USA und die NATO“ ab. Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht, referierte zur rechtlichen Relevanz des Themas vor dem Hintergrund, dass der „Kampf gegen den Terror“ zur neuen Legitimationsquelle der NATO geworden ist, nachdem es dieser durch das Ende des Kalten Krieges an Existenzgründen mangelte. Die NATO suche daher systematisch nach neuen Betätigungsfeldern und passe ihre eigenen rechtlichen Grundlagen (Bündnisfall, zielgerichtetes Töten) entsprechend an. Im darauf folgenden Plenum referierte der Schweizer Zeithistoriker Danielle Ganser über die sogenannten „stay-behind“-Armeen der NATO, die von den Geheimdiensten der NATO-Staaten aufgebaut worden waren. Deren doppelte Funktion während des Kalten Krieges war es, sowohl gegen eine erwartete Besetzung Westeuropas durch die sowjetische Armee „Widerstandgruppen“ aufzubauen, als auch gegen Kommunisten in den NATO-Staaten selbst durch Terrorakte vorzugehen. Das Konzept sah vor, rechtsradikale und andere fanatische Gruppe darin zu unter­stützen oder zu motivieren, Terroranschläge durchzuführen, die man im Nachhinein linken Gruppierungen unterschob. Während die Aktivitäten dieser rechtsradikalen paramilitärischen Gruppen gegen Ende des Kalten Krieges nach und nach ans Licht kamen und in Ländern wie Frankreich und Italien auch juristische Folgen hatte, fand eine Aufarbeitung in Deutschland nicht im Ansatz statt. Die Publizistin Regine Igel wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass es solche „Geheimarmeen“ auch in Osteuropa, also im Einflussbereich der Sowjetunion, gegeben hat. Diese von Ganser zur Recht als Staatsterror qualifizierten Aktionen waren Teil einer Strategie staatlicher Geheimpolitik, die es heute genauso gibt wie zur Zeit des Kalten Krieges.

Das dritte Plenum setzte sich mit der Bewertung von 9/11 auseinander. Was ist an den zahlreichen Verschwörungstheorien, die um dieses Ereignis kreisen, tatsächlich dran, oder: Was passierte tatsächlich am 11. September 2011? Der für Spiegel-TV als freier Mitarbeiter tätige Journalist Florian Huber berichtete von seinen für einen Film unternommenen Recherchen. Diese ließen ihn zu dem Schluss kommen, dass der Terroranschlag vor allem deshalb möglich war, weil sich die maßgeblichen Sicherheitsbehörden, CIA und FBI, in einer Institutionenkonkurrenz befanden, die zugleich eine Konkurrenz zwischen leitenden Fahndern gewesen sei. Beides hätte eine den Anschlag verhindernde Zusammenarbeit unmöglich gemacht. Der Buchautor Paul Schreyer dekonstruierte die offizielle Darstellung des 11. Septembers, wie sie vor allem in dem Untersuchungsbericht des US-Kongresses präsentiert wird, und zeigte, unter welch fragwürdigen Bedingungen der Bericht zustande kam. Auch diese offizielle Interpretation der Ereignisse kann man innerhalb der langfristigen Strategie der US-Regierung und somit auch der NATO verorten.

Das letzte Plenum behandelte den infolge von 9/11 beschlossenen NATO-Bündnisfall. Im Zentrum stand die Frage, ob dieser tatsächlich vorgelegen habe. Diese Frage wurde von Martina Haedrich, Juraprofessorin an der Universität Jena, als aus juristischer Sicht zutreffend bewertet, während Andreas von Bülow, Bundesminister a.D., darauf hinwies, dass die dem Entschluss zugrunde liegende „Faktenlage“ nicht objektiv, sondern von den US-Geheimdiensten dominiert, wenn nicht gar bestimmt war. Daniel-Erasmus Khan (Münchener Bundeswehr-Universität) argumentierte, dass die NATO-Verpflichtungen den UN-Bestimmungen nachrangig sind, weshalb auch im Fall der juristischen Stichhaltigkeit des Bündnisfalls kein Angriffskrieg hätte stattfinden dürfen. In der anschließenden Diskussion ergaben sich Differenzen hinsichtlich der Frage, ob „Staatlichkeit“ überhaupt ein Kriterium für die Ausrufung des Bündnisfalls darstelle oder nicht.

Das einzige Plenum des zweiten Themenblocks beinhaltete drei Vorträge zu geopolitischen Fragen. Lars Pohlmeier von der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear Weapons) referierte über die neuesten Entwicklungen der NATO-Strategie(n) und zeigte auf, dass die Fähigkeit zum nuklearen Präventivschlag weiterhin eine Priorität in den Köpfen der NATO-Generäle darstellt. Hauke Ritz, promovierter Geschichtsphilosoph, diskutierte am Beispiel veränderter Positionen des geopolitischen US-Strategieberaters Zbigniew Brzezinsiki das Ende der Dominanz der USA und die daraus sich aus Sicht Brzezinskis ergebenden Folgen. Brzezinsiki habe nach dem Ende des Kalten Krieges darauf gehofft, Russland als internationales Gewicht völlig ausschalten zu können. Da dies nicht gelungen sei, habe er einen Schwenk hin zu einer gegen China gerichteten Bündnisstrategie mit Russland vollzogen. Da sich auch diese Strategie als fragwürdig erweist, schließt Ritz auf die Untauglichkeit der Prognosen geopolitischer Analysen. Die anschließenden Arbeitsgruppen behandelten die rechtliche und demokratische Kontrolle militärischer Einsätze, die Voraussetzungen von Beteiligungsrechten von Bürgern an militärischen Entscheidungen, die Privatisierung des Militärs in NATO-Staaten, die rechtliche Aufarbeitung der Bombardierung der entführten Tanklaster bei Kundus, die rechtliche Situation des Cyberkriegs, den Einsatz militärischer Drohnen, die Polizei im Ausland, die Medien als Kriegspartei sowie die NATO als „Global Player“. In der Arbeitsgruppe zur Privatisierung des Militärs wurde das Wachstum der privaten Militär(dienstleistungs-)industrie rekapituliert und festgestellt, dass die Boomphase der letzten Jahre vorbei ist – u.a., weil sich die Kostenstruktur im Sektor, aber auch die Anforderungen an die Dienstleistungen verändert haben. Gleichwohl werde der Sektor weiterhin relevant bleiben. Erkennbar sei dies daran, dass sich mit der Zulassung privater Sicherheitsfirmen auf Schiffen der deutschen Handelsflotte hierzulande der Markt für die Sicherheits- und Militärfirmen öffne.

Am Abschlusstag fanden drei parallel laufende Foren statt, die sich mit dem neuen Anti-Raketen-Schirm der NATO in Europa, der Taktik des „Targeted Killing“ sowie der Militärforschung an Universitäten und öffentlichen Forschungseinrichtungen beschäftigten. Im letzteren Forum wurde teils sehr kontrovers über die Fragen diskutiert, wo die Grenze zwischen ziviler und militärischer Forschung zu ziehen sei, welche Verantwortung die Forschung habe und welche Strategie hinsichtlich des Kampfes um die „Zivilklausel“ an Universitäten die bessere sei. Leider hatte der dicht gedrängte Veranstaltungsplan zur Folge, dass auf den einzelnen Sitzungen wenig Platz für Diskussionen war. Deutlich wurde die Hilflosigkeit juristisch motivierter Kritik, die angesichts der realen Machtverhältnisse wenig ausrichten kann.

Florian Flörsheimer

1 Aktuelle Zahlen im internationalen Vergleich für 2012 hatte dazu Heiner Dribbusch (WSI) mitgebracht (http://www.boeckler.de/14_42314.htm . Zugriff 21.3.2013).

[1] Frank Doll, Der Rohstoffkrieg in Mali, in: Wirtschaftswoche, 14.01.2013

[2] Vgl. http://www.bildungsgemeinschaft-salz.de/ix/ixdrive/SOAG/Beschlusskonferenz/FüreineökosozialistischeWendevonunten2012.pdf

Downloads