Marx auf der Suche
Karl Marx: Ökonomische Manuskripte 1863 – 1868. Bearbeitet von Carl-Erich Vollgraf. Unter Mitwirkung von Larisa Mis’kević. Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA) Zweite Abteilung: „Das Kapital und Vorarbeiten“. Band 4.3 Berlin, Akademie Verlag 2012, 1065 Seiten, 168.- Euro
Mit dem nun vorliegenden Band II/4.3 der MEGA ist die Edition des „Kapital“ – wenn man darunter nicht nur das in MEW 23 – 25 Überlieferte versteht, sondern das, was im Titel der Zweiten Abteilung bezeichnet ist: „’Das Kapital’ und Vorarbeiten“ – nunmehr abgeschlossen. Es sind insgesamt 15 Bände geworden.
Mitte der 1990er Jahre hatte Larisa Mis’kevič die Bearbeitung dieser Texte übernommen, sie starb 2004. Nach einer Zwischenphase, in der Carl-Erich Vollgraf und Jürgen Jungnickel sporadisch – neben anderen Aufgaben – sich der Fortsetzung des Projekts widmeten, ging 2008 die Verantwortung für den Band allein an Vollgraf über. Seine 53 Seiten starke Einführung wird allen Anforderungen, die an einen solchen Text zu stellen sind, gerecht: weder Hagiographie noch Klatsch oder sachfremde Selbstdarstellung, sondern Rechenschaft über Datierung und Textentstehung, allerdings durchaus verbunden mit eigenen Folgerungen des Autors, die aber ebenfalls sachbezogen bleiben. Sie erscheinen als Hypothesen, die für sich kritisch gewürdigt werden können. Hierzu soll im Folgenden ein Anfang gemacht werden.
Der Band enthält fünfzehn Texte, die erstmals veröffentlicht werden und in diesem Zusammenhang zu datieren waren. Anders als ursprünglich angenommen, stammen dreizehn von ihnen aus den Jahren 1867/1868, sie wurden erst nach der Fertigstellung des ersten „Kapital“-Bandes verfasst.
Acht Manuskripte befassen sich mit der Profitrate (Buch 3), drei mit der Zirkulation das Kapitals (Buch 2), eines mit der Differentialrente (Buch 3). Hinzu kommt ein Exzerpt aus Adam Smith. Nicht von 1867/1868 sind zwei Seiten Auszüge verstreuter Quellen (1861 – 1863) und eine dreiseitige Notiz zu Malthus von 1863. Sie werden als „Nachträge“ publiziert.
Die Leistung, die mit diesem Band erbracht wurde, erschließt sich nicht nur anhand der Edition, der Einführung, der Varianten und der Berichte „Entstehung und Überlieferung“ vor jedem der fünfzehn Stücke sowie der Zeugenbeschreibungen, sondern auch nach Kenntnisnahme der Erläuterungen: Letztere machen Bezüge zu Einflüssen auf Marx sichtbar und liefern – vor allem – mit ihren Verweisen auf Manuskripte, aus denen jeweils zitiert wird oder an die sich Anlehnungen finden, weithin detaillierte Textgeschichte.
Als Entdeckung kann der Editor in Anspruch nehmen, dass das angeblich verschollene Manuskript I zum ersten Band nicht verschollen, sondern „für die Druckvorlage ‚verschnitten’“ worden ist. (466)
Friedrich Engels musste für die Editionen von Band 2 (1885) und 3 (1894), insbesondere was 3 betraf, eine Auswahl aus von Marx teilweise ungeordnet hinterlassenem Material, das zuweilen mehrere Entwürfe zum gleichen Gegenstand enthielt, treffen.
Diese Texte sind ihrerseits – so Vollgrafs These – von der Publikationsgeschichte des ersten Bandes beeinflusst, die – folgt man ihm – schwerwiegende Folgen für die Gesamtarchitektur des ökonomischen Hauptwerkes von Karl Marx hatte. Auf der Grundlage des ersten Buchs sollte sich das Gebäude einer Analyse der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer Gänze erheben. Marx hat zu unterschiedlichen Zeiten an den einzelnen Bestandteilen gearbeitet. Engels erkannte die Gefahr, dass er damit nie fertig werden würde. Auf sein Drängen hin erfolgte 1867 die Publikation des ersten Bandes fast wie eine Not-Maßnahme, bei der in diesen Elemente aufgenommen wurden, die zunächst für die späteren Bände vorgesehen waren. Hierzu Vollgraf: „Gut vorstellbar ist, dass Marx, seit er sich Anfang 1866 Engels’ überzeugendem Argument gebeugt hat, ein veröffentlichter Band sei besser als drei in der Schublade (siehe Engels an Marx, 10. Februar 1866), die Sorge umtrieb, der erste Band könne angesichts seiner angeschlagenen Gesundheit und seiner desaströsen Hauhaltslage für längere Zeit, im schlimmsten Fall für immer, der alleinige Repräsentant seines ‚Kapital’-Projekts bleiben. […] Es lag der Schluß nahe, den ersten Band nicht ohne weiteres aus dem ‚dialektisch Gegliederten’ und ‚architektonisch Ganzen’ zu entlassen, sondern Vorkehrungen zu treffen, ihm durch inhaltliche Umgestaltung den Status des ‚relativ Selbständigen’ zuzumessen, ihn als ‚abgeschlossenes Ganzes’, wie es in Marx’ Brief an Nikolaj Francevič Daniel’son vom 7. Oktober 1867 heißt, erscheinen zu lassen.
Die Ausgestaltung von Band 1 spricht durchaus dafür, dass Marx derartigen Überlegungen gefolgt ist, und zwar im einzelnen wie in den gesellschaftlichen Prognosen.“ (S. 437)
Das hatte Folgen: Wenn Marx sich anschließend an Band 2 und 3 machte, musste er irgendwie mit den Vorwegnahmen aus diesen, die er in 1 platziert hatte, umgehen. Nach den allgemeinen Äußerungen, die dem Ersten Band stellenweise doch den Charakter des (vorläufig) Abgeschlossenen gegeben hatten, war die Argumentation jetzt wieder zu öffnen: „Allein schon wegen der emphatischen Verkündung des historischen Schicksals der kapitalistischen Produktionsweise am Ende des ersten Bandes war es für Marx wohl nicht leicht, wieder in die Rolle des nüchternen Analytikers zu schlüpfen und den beständigen Kreislauf des prozessierenden, lebenstüchtigen Kapitals darzustellen.“ (424)
Die chronologische Anordnung der Texte zeigt, wie er zwischen Entwürfen zu Buch 2 und 3 pendelt, also nicht an einem einheitlichen Entwurf weiterarbeitet. Zuweilen versucht er einen Abschnitt druckfertig zu fixieren, gerät aber dann wieder in zunächst nur vorläufige Erörterungen und Forschung beim Schreiben. Eine andere – altbekannte – Schwierigkeit kam hinzu. Während Friedrich Engels nur zu Papier brachte, was vorher schon in seinem Kopf fix und fertig war, kam Marx aus dem Studieren, Exzerpieren und Untersuchen noch während der literarischen Produktion bis zum Ende nie endgültig heraus. Deshalb blieb das „Kapital“ Fragment. Das war keine Frage der Zeitdisziplin, sondern des ständigen Klärungsbedarfs. Die Begrifflichkeit war bis zu seinem Tod nicht abgeschlossen. Das betraf vor allem Gegenstände des dritten Bandes. Kostpreis z. B. ist bei Marx kein Preis, sondern Wert, weshalb auch einmal von „Kostwerth“ die Rede ist. (145) Seine „Skripte enthalten Begriffe doppelter, mitunter dreifacher Bedeutung. So bezeichnet der Begriff zirkulierendes Kapital vom Standpunkt der Wertübertragung jene Teile des produktiven Kapitals, deren Wert in einem Produktionsakt vollständig auf das Produkt übertragen wird (Teile des fixen Kapitals, das variable Kapital), vom Standpunkt der Wertübersetzung und Selbstverwertung hingegen das in der Zirkulationssphäre agierende Kapital (Warenkapital, Geldkapital). Unter dem Aspekt Kreislauf des Kapitals ist gar sämtliches (prozessierende oder funktionierende) Kapital zirkulierendes Kapital, weil beständig in Bewegung und Umwandlung begriffen. […] Die Kategorie ‚zirkulierendes Kapital’ ist in Marx’ Wertübertragungskonzept zu zentral, um Mehrdeutigkeit zuzulassen. In kurzer Zeitspanne liebäugelt er in gleich fünf Texten mit der Verwendung der Begriffe flüssiges Kapital oder Betriebskapital anstelle von zirkulierendem Kapital. Da diese Kategorie alternativ zu fixem Kapital definiert ist, wäre ein anderes Begriffspaar zu suchen.“ (439/440) Hier werden die Schwierigkeiten sichtbar, vor denen Engels stand. „Eine kategoriale Lösung, die Engels 1884/1885 ermöglicht hätte, weniger vereinheitlichend einzugreifen, findet er [Marx] auch hier nicht.“ (440) Die Termini „Kapitalvorschuß“, „Kapitalausgabe“ oder „Kapitalauslage“ seien ebenfalls synonym verwandt worden, weiter „gesellschaftliches Kapital“, „Gesellschaftskapital“ und „gesellschaftliches Gesamtkapital“. Marx hatte Vollgraf zufolge nach wie vor „Schwierigkeiten, seine Begrifflichkeit eindeutig zu handhaben.“ (441)
Unter dieser Voraussetzung konnte der erste „Kapital“-Band in der Fassung von 1867 ebenfalls nicht als endgültig gelten – eine Tatsache, der Marx in den folgenden Auflagen Rechnung trug. In der frühen Version fänden sich, so Vollgraf, zahlreiche „Belege für die mangelnde finale Durcharbeitung der Druckvorlage“, das lasse sich „als Anzeichen von Eile deuten.“ (931)
Marx stand nicht nur unter dem Druck schließlich selbst gesetzter zeitlicher Vorgaben für die Fertigstellung 1867, sondern – auch danach noch und wichtiger – ebenso seines Bestrebens, der raschen Entwicklung von zeitgenössischer Realität nachzukommen. Im ersten Band des „Kapital“ ging er noch vom zwölfstündigen Arbeitstag aus, ab Dezember 1867/Januar 1868 vom zehnstündigen. „Der Gegenstand […], das reale Kapital, war in ständiger Veränderung begriffen.“ (436)
So ergab sich ein Zug hin zur Empirie und zu Methoden der Annäherung an diese. Marx begann sich für Buchführung und die ersten Ansätze betriebswirtschaftlicher Verfahren zu interessieren. In den Materialien zum dritten Buch nehme „die Darstellung durchaus positivistische Züge an“. (438) Deshalb: „Bei der Mehrzahl der vorliegenden Texte, Teil wie Ergebnis eines Forschungsprozesses, ist dialektische Darstellung der Sache nach nicht am Platze. Wenn Marx Fragen der konkreten Reproduktion der Kapitalbestandteile aufarbeitet, Umschlags-, Abschreibungs- und Amortisationsberechnungen vornimmt, Reproduktionsschemata entwirft und, nicht zuletzt, die Möglichkeiten von Differentialrente auslotet, so verlangt das zuallererst nach den Qualitäten eines arithmetisch geschulten und betriebswirtschaftlich versierten Operateurs.“ (444) Marx’ Bemühungen um die Differentialrechnung hätten – anders als vielfach behauptet – durchaus einen Zusammenhang mit seiner ökonomischen Forschung und zielten in Richtung auf noch stärkere Formalisierung, ja Mathematisierung. Seit 1866 hatte er auch Kenntnis von William Stanley Jevons, einem der Begründer der Neoklassik. Unter der Überschrift „Methodische Vielfalt im Forschungsprozeß“ merkt Vollgraf an: „Marx passt die Methode seinen wechselnden Gegenständen an.“ (443)
Der Bearbeiter weist auf Anzeichen dafür hin, dass Marx zunehmend größeres Interesse an Problemen der Finanzwirtschaft, der Transportindustrie, des Aktienkapitals und des Grundeigentums entwickelte. Dies zeigte sich allerdings schon in der von Engels 1894 herausgegebenen Version des dritten Buchs (teilweise, die Transportindustrie betreffend, auch im zweiten, 1885) und ist tatsächlich viele Jahrzehnte lang in der „Kapital“-Rezeption vernachlässigt worden. Aktuelle Entwicklungen im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhunderts mögen dieses Defizit überwinden helfen, könnten allerdings auch zu Projektionen gegenüber dem Text führen: man liest zwar nicht etwas in ihn hinein, sondern tatsächlich heraus, was drin ist, aber es stellt sich die Frage nach den Proportionen, also nach dem Verhältnis zu Aussagen, die für die Gegenwart weniger von Bedeutung zu sein scheinen, für Marx aber vielleicht ebenso wichtig gewesen sein mögen (oder gar mehr). Für Carl-Erich Vollgraf stellte „sich bei der Sichtung seines [Marx’ GF] gesamten handschriftlichen Nachlasses aus der Zeit zwischen 1865 und 1881 immer wieder das Gefühl ein, er betrachte den Kreislauf des Kapitals zunehmend als Sonderfall einer wirtschaftlich zwar höchst effizienten, aber sozial unverträglichen Verwertung des immerwährenden Stoffkreislaufs, was auf eine nochmalige Richtungsänderung seines bereits mehrfach modifizierten Werkes hinauslaufen würde.“ (421/422) Die in MEGA II/4.3 veröffentlichten Texte könnten selbstverständlich allenfalls nur für einen Teil des hier genannten Zeitraums dazu Belege bieten. Inwieweit dies überhaupt möglich ist, müsste eine gesonderte Untersuchung, wofür die Einführung dieses Bandes und die Erläuterungen keinen Raum bieten konnten, zeigen. Vollgraf resümiert: „Der Nachweis des tendenziellen Falls der Profitrate gelingt Marx in den vorliegenden Profitraten-Texten nicht.“ (451) Dies trifft zu und ist aus zwei Gründen nicht erstaunlich: Erstens hatte Engels bei der Erstellung des dritten Bandes von 1894 freie Auswahl zwischen den ihm vorliegenden Manuskripten zu diesem Thema, und er nahm dann die Darlegungen, die ihm am geeignetsten erschienen, das angesprochene Problem aber ebenso wenig endgültig behandelten wie das, was er zunächst nicht veröffentlichte und was jetzt endlich zugänglich ist. Zweitens ging es Marx erst einmal darum, sein „Gesetz“ des tendenziellen Falls der Profitrate als Konsequenz des vorangehend Entwickelten aufzustellen und zu begründen, nicht aber zu „beweisen“. Hierzu fehlten noch einige logische – die Stringenz der (Arbeits-) Mehrwertlehre betreffende – und empirische Voraussetzungen, wovon letztere aufgrund des ihm zeitgenössisch zur Verfügung stehenden Materials und des damaligen Stands der Wirtschafts- und Sozialstatistik (um das Mindeste zu sagen) außerhalb des seinerzeit Leistbaren lagen.
Bei allen hier referierten denkbaren weiteren Tendenzen von Marx’ Forschungsinteressen und -methoden: dominierend und unverändert bleibt auch jetzt seine bisherige Agenda – die Akkumulation des Kapitals mit ihren historischen Konsequenzen. Bis zum Analytischen Marxismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre er gewiss nicht gelangt, es wäre seine politische Kapitulation gewesen.
„Marx, der wiederholt das ‚artistische Ganze’ seiner drei ‚Kapital’-Bücher als seine besondere Leistung hervorhob (siehe Marx an Engels, 31. Juli 1865 und 20. Februar 1866) und damit sein Selbstzeugnis, ‚Bester der politischen Ökonomie’ verknüpfte (Marx an Engels, 13. Februar 1866), hat an sein Projekt Hand angelegt, als er den ersten Band separat veröffentlichte.“ (438) Gibt es wirklich ein „Selbstzeugnis“ von Marx, er sei „Bester der politischen Ökonomie“?
Am 13. Februar 1866 schrieb er an Engels: „Sage oder schreibe dem Gumpert, er solle mir das Rezept mit Gebrauchsanweisung schicken. Da ich das Vertrauen in ihn habe, schuldet er schon dem Besten der ‚Politischen Ökonomie’, professionelle Etikette zu übersehn und mich von Manchester aus zu behandeln.“ (MEW 31, S. 178).
Dr. med. Gumpert war ein gemeinsamer Freund. Marx scherzte, eine Fernbehandlung aus Manchester diene dem Wohl, hier: dem Besten, einer Wissenschaft, nämlich der „Politischen Ökonomie“. Diese Interpretation scheint mir näher zu liegen.
Georg Fülberth
Die Politik der Differenz und der Missbrauch des Nationalstaats
Jane Burbank/Federick Cooper, Imperien der Weltgeschichte. Das Repertoire der Macht vom Alten Rom und China bis heute, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2012, 612 S., 39,90 Euro
Um mit einem Gemeinplatz anzufangen: Dieses Buch sei jenen Politikern empfohlen, die gerne über ‚Integration’, das angebliche Scheitern von ‚Multikulti’ und ‚Leitkulturen’ schwadronieren. Ihnen wird vor Augen geführt, was für katastrophale Folgen es haben kann, kulturelle Differenzen im Namen angeblich überlegener Werte auslöschen zu wollen. So gesehen ist der Titel des Buches – vor allem der deutschen Ausgabe – eher irreführend. Zwar geht es tatsächlich auch um eine kurz gefasste Geschichte von unterschiedlichen historischen Gebilden, die teilweise (nicht immer) als „Imperien“ bezeichnet werden – aber eben nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Daher ist der Untertitel des 2010 erschienenen englischen Originals, „Power and the Politics of Difference“ (Macht und die Politik der Differenz) aussagekräftiger. Denn tatsächlich geht es darum, wie „große politische Einheiten“, die unterschiedliche Bevölkerungen aufnehmen, regiert wurden. „Das Imperium … greift über seine Grenzen aus und nimmt meist unter Ausübung von Zwang Völker auf, deren Verschiedenheit unter der imperialen Oberherrschaft nicht negiert wird. Das Konzept des Imperiums setzt voraus, dass innerhalb des Gemeinwesens unterschiedliche Völker auch unterschiedlich regiert werden.“ (24) Beide Autor(inn)en sind ausgewiesene Spezialisten, die eine für slawische Geschichte, der andere für Afrika und den Kolonialismus. Sie zeigen auch, dass es keinen scharfen Gegensatz zwischen der Welt der Imperien und der Welt der Nationalstaaten gibt. Zwar heißt es im ersten, einleitenden Kapitel noch: „Die Übereinstimmung von Staat und Nation ist ein jüngeres Phänomen ….“ (15), wobei im weiteren Verlauf aber deutlich wird, dass die Idee des Nationalstaats fast überall dazu dient, bestimmte Bevölkerungsteile auszugrenzen, zu massakrieren, auszusiedeln oder mit minderen Rechten auszustatten.
Die beiden Autoren gehen in der Behandlung ihres Themas, der „imperialen Politik der Differenz“ – ein Begriff der immer wieder auftaucht – historisch vor, wobei sie sehr unterschiedliche politische Gebilde behandeln und auch solche untersuchen (wie das mongolische Weltreich oder das napoleonische Reich), die nur wenige Jahre oder Jahrzehnte existiert haben. Sie beginnen mit einem Vergleich des römischen und des chinesischen Weltreichs, die zwar beide etwa zur gleichen Zeit entstanden (im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung), aber doch sehr unterschiedliche Schicksale hatten. Es folgen die nachrömischen Reiche Byzanz und islamisch geprägte Gebilde, die großen, aber kurzlebigen Mongolenreiche des 13. Jahrhunderts, das Osmanische und das Spanisch-Habsburgische Imperium und die koloniale Machtausdehnung des letzteren, und schließlich das russische Reich. Das 8. Kapitel widmet sich der Frage, ob die im 18. Jahrhundert aufkommenden Ideen von Nation und Volkssouveränität wirklich etwas verändert haben. Immerhin: „Das neue Arsenal politischer Ideen des 18. Jahrhunderts macht es möglich, sich ein Nicht-Imperium vorzustellen: ein einziges Volk als Souverän über ein einziges Territorium.“ (280) Allerdings war die Bühne, auf der das neue Stück „Volkssouveränität“ gegeben wurde, weiterhin der Raum der alten Imperien: Mit dem Ergebnis, dass „Demokratie, Staatsbürgerschaft und Nationalität“ (284) rasch zu Herrschaftszwecken funktionalisiert wurden. Am Beispiel der Haitianischen Revolution und dem Verhältnis der revolutionären französischen Republik zu dieser zeigen Burbank/Cooper exemplarisch, wie wirtschaftliche Interessen und rassistische Nationalvorstellungen erneut der „Politik der Differenz“ Platz machten, dieses Mal aber besetzt mit eindeutigen Vorstellungen vom Wert bzw. Unwert der verschiedenen Völker. Nation wurde – wie Rasse und Religion – zu einem Herrschaftsinstrument (456).
Diesen Zwischenüberlegungen folgen in Kapitel 9 und 10 Darstellungen der neueren Imperien USA und Russland und der verschiedenen kolonialen Reiche und Praktiken. Auch der Erste und der Zweite Weltkrieg werden als Konflikte nicht zwischen Nationalstaaten sondern zwischen Imperien dargestellt – wobei auch die Tatsache Erwähnung findet, dass große Teile der kämpfenden Armeen Menschen aus den Kolonien und Halbkolonien waren, denen gleichwohl das Bürgerrecht verweigert wurde. Im 13. Kapitel fragen sich die Autoren, ob mit der Auflösung der Kolonialreiche Mitte des 20. Jahrhunderts das Ende der Imperien gekommen sei: „Wann löste die Welt der Imperien sich auf? Oder: Löste sie sich wirklich auf?“ Ohne diese Frage definitiv zu beantworten machen die hier angestellten Überlegungen doch deutlich, dass „das Bild einer Welt gleichwertiger Nationalstaaten trügerisch“ ist (514). Angesichts höchst unterschiedlicher militärischer und ökonomischer Machtkonstellationen stellen sie im 14., zusammenfassenden Kapitel fest: „Das Imperium hat keiner stabilen, funktionierenden Welt der Nationalstaaten Platz gemacht.“ (550). Dies zeigen nicht nur die zahlreichen blutigen Konflikte der Gegenwart, sondern auch die Politik der abgestuften Souveränität, in deren Rahmen politische und selbst militärische Interventionen – manchmal im Namen eines „Freihandelsimperialismus“ – durchgeführt werden. „Die Versuche, Nation und Staat zur Deckung zu bringen, hatten … bis ins 21. Jahrhundert hinein zerstörerische Folgen.“ (563) Trotzdem sind die Autoren nicht ohne Hoffnung: „Die Herausforderung für die Zukunft besteht darin, sich neue Gemeinwesen vorzustellen, die weithin gehegte Wünsche nach politischer Zugehörigkeit, Chancengleichheit und gegenseitiger Achtung anerkennen.“ (570) Um das zu erreichen, dies ist die (implizite) Ansicht der Autoren, kann man von Herrschaftsformen der Imperien mehr lernen als von Nationalstaaten: „So oder so befassten sich Imperien direkt mit Verschiedenheit; Nationalstaaten hingegen hatten die Vorstellung – vielleicht eine Illusion – dass Verschiedenheit durch die Anziehungskraft der nationalen Idee und den Reiz der Teilhabe an staatlichen Institutionen oder, negativ, durch Ausschließung, Ausweisung und Zwangsassimilierung, überwunden werden könnte.“ (568)
Auch wenn den Imperien angesichts ethnisch und/oder religiös geprägter Konflikte, die die Geschichte der Nationalstaaten bis heute prägen, nicht nachgeweint wird, „über das Imperium nachzudenken heißt nicht, das britische, das osmanische oder das römische Imperium wieder auferstehen zu lassen“ (570), so sehen die Autoren an der „Politik der Differenz“ einiger Imperien durchaus positive Seiten. Die große Frage war dabei immer: Wie konnten die unterschiedlichen Völker bzw. deren Eliten dauerhaft so an die Zentralmacht gebunden werden, dass sie der Zentralisierung von Ressourcen (sprich: Besteuerung) zur Finanzierung von Militär und dem Ausbau der Infrastrukturen keinen Widerstand entgegensetzten. Im Rahmen eines Vergleichs zwischen dem russischen Reich und dem China der Quing im 18. Jahrhundert stellen die Autoren fest: „Sich auf Verschiedenheiten einzustellen, nicht sie auszumerzen, war ein Kennzeichen der beiden Regime.“ (280) Unter diesen Bedingungen gab es zwei Typen von Herrschaft – von den Autoren als „Idealtypen“ im Weberschen Sinne definiert –, deren sich die Zentralmacht bedienen konnte: ein System der „Klassenhierarchie“ und ein System „patrimonialer Herrschaft“ (193). Im Rahmen des Klassenhierarchiemodells stützte sich die Zentralgewalt auf bestehende Herrschaftsstrukturen, also in der Regel auf den lokalen Adel; das patrimoniale Modell dagegen setzte lokale Befehlshaber ein, die in direkter Abhängigkeit vom imperialen Herrscher stehen. Obwohl in der Realität immer Mischformen existierten, gehörten das römische Reich und seine Nachfolger mit ihren Adelssystemen eher in die erste Kategorie, während China mit seinem ausgebauten Beamtenapparat eher dem zweiten Modell zuneigte. Selbst die europäischen Kolonialimperien waren gezwungen, die unterworfenen Völker in gewissem Grade an der Verwaltung zu beteiligen und Herrschaftsformen zu entwickeln, die mehr dem einen oder dem anderen Typ von Herrschaft zuneigten.
Das Buch, das Ausflüge in die Weltgeschichte mit theoretischen Überlegungen verbindet, vermeidet historisches oder soziologisches Fachchinesisch, ist also ein im positiven Sinne wirklich populärwissenschaftliches Werk. Wegen der Komplexität der Materie ist es trotzdem nicht leicht zu lesen. Es bietet sich an, zunächst mit dem letzten zusammenfassenden Kapitel zu beginnen; dies erleichtert es, die oft sehr spezifischen Geschichtserzählungen der einzelnen Imperien einzuordnen. Wer es kann, sollte sich die englische Fassung beschaffen, die als Taschenbuch weniger als die Hälfte kostet.
Jörg Goldberg
Europa in der Krise
Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Suhrkamp, Berlin 2013, 271 S., 24,95 Euro
Streeck, geboren 1946, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsanalyse in Köln und zugleich Professor der Soziologie, legt mit diesem dicht geschriebenen und sprachlich gut verständlichen Buch die erweiterte Fassung seiner dreiteiligen Adorno-Vorlesung vor, die er im Juni 2012 am Institut für Sozialforschung gehalten hat.
Das Buch gliedert sich neben einer Einleitung und einem Schlussteil in drei Teile. Zuerst geht es Streeck insbesondere um die „Darstellung des Zusammenhangs zwischen Finanz-, Fiskal- und Wachstumskrise“ (19), die er auch als Bankenkrise, Krise der Staatsfinanzen und Krise der „Realökonomie“ (29) fasst. Der von Streeck behandelte Krisenzusammenhang ist explizit der des Kapitalismus „im Kontext der reichen Demokratien der westlichen Welt“ (12). Im zweiten Teil stehen die besagte „Krise der Staatsfinanzen und ihre Ursachen und Folgen“ (20) im Fokus. Der nach Streecks Meinung den Schuldenstaat als politische Organisationsform – zumindest in Ansätzen – ablösende „Konsolidierungsstaat“ ist das bestimmende Thema im dritten Teil. Im Schlussteil wendet sich Streeck neben einer abrundenden Zusammenfassung einem eigenen Lösungsansatz der Krise zu, von dem er selbst auch zutreffend im Vorhinein schreibt, dass es sich um einen „nicht sehr realistische[n] Vorschlag“ handelt. Sowieso hält der Autor nichts davon, einer Krisenanalyse stets immer auch eine Lösung mitliefern zu müssen (8).
Die „Finanz- und Fiskalkrise des demokratischen Kapitalismus der Gegenwart“ (9) betrachtet Streeck „in der Kontinuität und als Moment einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung“, die Ende der 1960er Jahre ihren Anfang nahm. Im Rückblick wird dies als „Prozess der Auflösung des Regimes des demokratischen Kapitalismus der Nachkriegszeit“ beschrieben (10). Streeck unternimmt bei seinen Betrachtungen den Versuch, an die „Frankfurter Krisentheorien“ der 1960er und 1970er Jahre anzuschließen, die sich in der damaligen Zeit mit dem Spätkapitalismus auseinandergesetzt haben (9). Prinzipiell ist er der Auffassung, dass die neomarxistisch geprägten Krisentheorien „zu Unrecht für wiederlegt gehalten“ (23) werden. Streecks Argumentation zeichnet sich auch darüber hinaus durch eine begrüßenswerte Offenheit gegenüber marxistischen Ansätzen aus: Streeck betont grundsätzlich, dass die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen ohne die Verwendung und den Rückgriff auf durch Marx geprägte Schlüsselbegriffe nicht adäquat nachvollzogen werden können, bei der Betrachtung von Politik und Wirtschaft die kapitalistische Organisationsform Berücksichtigung finden muss und überhaupt ein Verständnis von „Politik und politische[n] Institutionen“ ohne ein In-Beziehung-Setzen zu Märkten, wirtschaftlichen Interessen und sich daraus ergebenen Klassenstrukturen und Konflikten nicht zu haben sei (17f.).
Die Reaktionen auf die Krise der 1960er/1970er Jahre seien aus jetziger Sicht als „erfolgreiches Kaufen von Zeit mit Hilfe von Geld“ zu beurteilen – eine Strategie, die sich bis heute fortgesetzt habe. Um jeweils großflächige soziale Instabilitäten zu verhindern, sei zunächst auf Inflation gesetzt worden, dann auf Staatsverschuldung, Ausweitung der Kreditmärkte und ganz aktuell auf den Kauf von Staat- und Bankschulden über die Zentralbanken (15). Dieser Ablauf von „Aufschub und Streckung der Krise“ ist für Streeck eng mit dem Prozess der Finanzialisierung verbunden. Jede bisherige vermeintliche Lösung der vergangenen Krisen habe die jeweils neue Krise bereits vorbereitet (16). Seit Dekaden würden wir zugleich Zeuge der „Entfaltung der sehr alten und sehr fundamentalen Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie“, und zwar im Sinne einer immer weiter fortschreitenden Auflösung dieser Verbindung (27). Es werde versucht, das Vertrauen der „Märkte“ zurückzugewinnen, in dem „die Immunisierung der Wirtschaftspolitik gegen demokratischen Druck“ vorangetrieben werde (ebd.). Dieser „Prozess der Entdemokratisierung des Kapitalismus vermittels Entökonomisierung der Demokratie“ sei insbesondere seit 2008 stark vorangeschritten (28), wobei sich die kapitalistische, auf Märkte beruhende, Wirtschaft nicht von den Staaten unabhängig zu machen versuche, da diese „in vielfacher Weise zur Absicherung“ grundlegend nötig seien (77).
Streeck liest die „Entfesselung“ des globalen Kapitalismus als „Erfolg des Widerstandes der Besitzer von und Verfüger über Kapital“ (26), als „Geschichte des Ausbruchs des Kapitals aus seiner sozialen Regulierung“, es werde die radikale Abkehr von allen sozialen Verpflichtungen verfolgt (45). Die Demokratie habe dahingehend versagt, dass die „Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus“ nicht „durch Demokratie und demokratische Politik“ erkannt worden sei, die „Nutznießer des Wachstums“ keine höheren Steuern zahlen mussten und der im Entstehen befindliche Finanzsektor nicht frühzeitig einer Regulierung unterworfen wurde (111f.). Der Autor lässt an diesem Punkt aber bewusst offen, wie dieser Entwicklung hätte effektiv entgegengewirkt werden können (112).
Diese neoliberale ,Erfolgsgeschichte‘ konnte aber erst vollends durch die „Internationalisierung der europäischen politischen Ökonomie und der Umgestaltung des europäischen Staatensystems in ein Mehrebenenregime mit national eingegrenzter Demokratie und multinational organisierten Finanzmärkten und Aufsichtsbehörden“ (158f.), also der EU und ihrer Ausformung in den 1990er Jahren, erreicht werden. Die jüngsten Entwicklungen gipfeln für Streeck im „europäische[n] Konsolidierungsstaat“, der kein „nationales, sondern ein internationales Gebilde“ darstellt (163). Diese „historisch neuartige institutionelle Konstruktion […] [dient] der Sicherung der Marktkonformität vormals souveräner Nationalstaaten“ (163f.).
Streeck hält Widerstand gegen die geschilderte Situation für durchaus möglich (215), plädiert aber hierbei für eine „destruktive Opposition“, denn eine konstruktive Richtung würde nur darauf hinaus laufen, die bestehenden Schulden abzuzahlen und alles dafür Notwendige anzuerkennen und durchzuführen (218). Zaghaft deutet er auch die Möglichkeit von Gewalt an (223), aber tiefergehende Gedanken zu dieser Thematik bringt er nicht.
Das Buch vereint auf überzeugende, innerhalb seiner selbst konsistent argumentierte Weise geschichtliche Betrachtungen und Analysen mit demokratie- und staatstheoretischen Erkenntnissen und lädt dazu ein, aus explizit marxistischer Perspektive diskutiert zu werden. Zahlreiche Statistiken und Diagramme, die graphisch gut aufgearbeitet sind, untermauern den Gang der Argumentation.
Die hier nur skizzenhaft dargestellte reichhaltige Arbeit bietet Anschluss für zahlreiche weiterführende Forschungsfragen. So wäre die von Streeck skizzierte Entwicklung in Zusammenhang zu bringen mit anderen Krisenzusammenhängen, vor allem der Umweltfrage: Welche Auswirkung hat bspw. der Konsolidierungsstaat auf die Durchführung von Energie- und anderen Umweltprojekte? Droht nicht eine immense Vertiefung der Klima- und Umweltkrise? Zudem wäre es – entgegen den Absichten des Autors – dann doch von erheblicher Wichtigkeit, eine breite, von links getragene gesellschaftliche Handlungsperspektive zu entwickeln bzw. real bestehende Möglichkeiten auszufüllen. Bei Streeck scheint es keinen Spielraum zu geben. Grundsätzlich aus marxistischer Sicht in Frage zu stellen ist die Denkfigur des demokratischen Kapitalismus. Auch wenn Streeck an keiner Stelle andeutet, zu diesem zurückzuwollen, muss deutlich gemacht werden, dass eben auch jene Form des Kapitalismus kapitalistisch war und somit fernab einer emanzipatorischen Gesellschaft im Marxschen Sinne.
Sebastian Klauke
Rechtspopulismus in Europa
Peter Bathke/Anke Hoffstadt (Hrsg.), Die neue Rechte in Europa. Zwischen Neoliberalismus und Rassismus, PapyRossa Verlag, Köln 2013, 362 S., 18,- Euro
Seit mehr als 20 Jahren lässt sich innerhalb der europäischen politischen Rechten ein Erneuerungsprozess verfolgen, der inzwischen sehr unterschiedliche Facetten zutage gefördert hat, der sich jedoch vor allem durch eine Abgrenzung von klassischen Formen faschistischer Politik bei gleichzeitiger Kontinuität zahlreicher traditionell rechter Ideologiemomente auszeichnet. Der Begriff des „Rechtspopulismus“ hat sich für diese erneuerte Form der extremen Rechten durchgesetzt, häufig ergänzt oder ersetzt auch durch die mindestens ebenso schillernde Bezeichnung „Neue Rechte“. Als historischer Ausgangspunkt dieser erneuerten extremen Rechten wird zumeist die 1986 von Jörg Haider übernommene FPÖ angesehen, die Ende der 1990er Jahre zur zweitstärksten Kraft in Österreich wurde und erstmals auf gesamtstaatlicher Ebene in Regierungsverantwortung kam. Zahlreiche Parteien in unterschiedlichen – zumeist westeuropäischen – Ländern folgten der FPÖ nach und konnten ebenfalls direkten oder indirekten Einfluss auf die nationalen Regierungspolitiken erlangen.
Bereits 2006 hat Peter Bathke, damals zusammen mit Susanne Spindler, einen Sammelband zum Thema „Rechtspopulismus und Neoliberalismus in Europa“ vorgelegt. Zusammen mit Anke Hoffstadt hat Bathke erneut eine Reihe von Autorinnen und Autoren versammelt, die einen aktuellen Überblick zur Entwicklung dieser Spielart der extremen Rechten in Europa geben.
Die Beiträge des Bandes gliedern sich in vier Teile und gehen (1.) den politischen und ideologischen Voraussetzungen des erfolgreichen Rechtspopulismus, (2.) den konkreten Ausprägungen dieses Aufstiegs in einzelnen europäischen Ländern, (3.) den dominanten ideologischen Versatzstücken des Rechtspopulismus und schließlich (4.) möglichen politischen Alternativen von links zu diesem – aufhaltsamen – Aufstieg des Rechtspopulismus nach.
Für die Aufstiegsphase des Rechtspopulismus in den 1990er Jahren wird häufig auf die erfolgreiche Adaption neoliberaler Ideologiemoment verwiesen, wodurch Parteien wie die FPÖ, aber auch die Alleanza Nazionale in Italien, als Bündnispartner für die etablierten konservativen Parteien interessant wurden. Herbert Schui u.a. hatten damals schon auf ideologische Gemeinsamkeiten von Neoliberalismus und extremer Rechter aufmerksam gemacht (Schui u.a., Wollt ihr den totalen Markt?, München 1997). Christina Kaindl und Katrin Reimer verdeutlichen im vorliegenden Band nun die Bedeutung der neoliberalen Hegemonie für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Jedoch dauerte diese Phase der ideologischen Modernisierung nur bis etwa zum Beginn der 2000er Jahre. „Erst mit dem Schwenk der europäischen Sozialdemokratie auf eine (vermeintlich sozial abgefederte) neoliberale Modernisierung wird die ‚Modernisierung‘ im rechten Diskurs brüchig“ (27), so Kaindl. Der Populismus als Stilmittel, wie er von einer ganzen Reihe von Autoren des Bandes charakterisiert wird, beinhaltet eine scharfe Abgrenzung vom etablierten Politikbetrieb und eine Rhetorik des „wir hier unten, gegen die da oben“. Mit dem Einschwenken der Sozialdemokratie auf den Neoliberalismus ist die populistische Rechte gezwungen, eine andere Position einzunehmen und die Anliegen des „kleinen Mannes von der Straße“ stärker in Zentrum der Politik zu stellen, ohne dabei zu einer völkisch grundierten Wirtschaftspolitik des traditionellen Faschismus zurückzukehren.
Als zentrales Element rechtspopulistischer Politik wird von vielen Autorinnen und Autoren die „Ethnisierung der sozialen Frage“ benannt, mit der der traditionelle Rassismus der extremen Rechten, aber auch die auf Konkurrenz und Wettbewerb gerichteten Inhalte des Neoliberalismus, verbunden werden können. Vor dem Hintergrund der Nicht-Existenz einer erfolgreichen rechtspopulistischen Partei in Deutschland sieht Reimer „die zentrale Lehre für die Forschung mit Blick auf Deutschland (…) darin, nicht das ganze Programm prototypischer rechtspopulistischer Parteien in einer Partei finden zu wollen.“ (33) Denn auch unter Schwarz-Gelb habe es in den 1990er Jahren bereits eine scharfe Wende hin zu einer Ethnisierung des Sozialen in Deutschland gegeben, die sich nicht von der Entwicklung in anderen Ländern unterscheide. Offen bleibt jedoch, warum es in anderen Ländern rechtspopulistischer Projekte bedurfte, um den Diskurs in diese Richtung voranzutreiben. Die besonderen historischen und organisatorischen Schwierigkeiten der Etablierung einer erfolgreichen rechtspopulistischen Partei in Deutschland werden von Alban Werner und Richard Gebhardt im Band treffend dargestellt.
Werner Seppmanns Darstellung der entzivilisierenden Tendenzen im modernen Kapitalismus ist für das Verständnis von „Vermittlungsprozessen von sozio-ökonomischen Strukturen und den individuellen Orientierungs- und Verhaltensmodi“ (67) sehr erhellend. In Hinblick auf die Entwicklung der extremen Rechten in Ostdeutschland vernachlässigt Seppmann indes die bereits in der Spätphase der DDR entstehende Naziszene, deren Inhalte wohl auch jenseits kapitalistischer Realitäten ideologische Anknüpfungspunkte gefunden haben.
Die Länderbeispiele zu unterschiedlichen Ausprägungen des Rechtspopulismus reichen von Italien über Dänemark und die Niederlande bis Ungarn. Hervorzuheben ist hier die überaus aufschlussreiche Darstellung des „Berlusconismus“ durch Karin Priester. Sie kann anschaulich machen, wie ein häufig belächelter Politiker wie Berlusconi erfolgreich unterschiedliche bürgerliche Teile der Wählerschaft bedient und damit seine Hegemonie über mehr als ein Jahrzehnt aufrechterhalten konnte, ohne dass ein wirkliches Ende abzusehen ist.
Das Versagen der Linken hat in Italien zum Erfolg eines Berlusconis beigetragen. So wird zu Recht im letzten Teil des Bandes nach „linken Alternativen“ gefragt. Eine zentrale Sorge der Linken müsse dabei sein, dass zahlreiche rechtspopulistische Parteien inzwischen zu den stärksten Arbeiterparteien ihrer Länder geworden sind, also gerade abhängig Beschäftigte und Prekäre überproportional zum Wählerreservoir des Rechtspopulismus gehören.
Ungeklärt ist nach wie vor die Tragweite des Begriffs Rechtspopulismus. Für die meisten AutorInnen des vorliegenden Bandes ist hiermit vor allem eine inhaltliche Adaption neoliberaler Politikelemente, die Überwindung faschistischer Politikkonzepte bei gleichzeitiger Beibehaltung zentraler Inhalte der extremen Rechten (Rassismus, Nationalismus) und die Etablierung eines spezifischen politischen Stils verbunden. Dennoch bleibt fraglich, welche Parteien man unter diesen Begriff begründet fassen kann und welche keinesfalls dazugehören (z.B. die NPD). Somit bietet der Band nicht nur einen guten Überblick zur aktuellen Entwicklung in Europa, sondern auch genügend Anstoß für weitere Forschungen und Debatten zum Thema.
Gerd Wiegel
Sozialproteste und politische Streiks in Europa
Alexander Gallas, Jörg Nowak, Florian Wilde (Hrg.), Politische Streiks im Europa der Krise. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, VSA-Verlag, Hamburg 2012, 238 Seiten, 14,80 Euro
Mit der 2008 ausgebrochenen „großen Krise“ und ihrem Hinüberwachsen aus einer Konjunktur- und Bankenkrise in eine Krise der Staatsfinanzen haben die Sozialproteste in Europa gegen die neoliberale Austeritätspolitik und die Krisenfolgen für die Lohn- und Sozialtransfer-Abhängigen deutlich zugenommen. Das gilt in erster Linie für die besonders krisenbetroffenen peripheren Länder. Am 14. November letzten Jahres fanden erstmals in mehreren europäischen Ländern gewerkschaftlich koordinierte Streiks und soziale Protestbewegungen statt. Selbst in der streikarmen Bundesrepublik hat sich von 2011 auf 2012 die Zahl der Streikbeteiligten bei Warn- und Kurzstreiks verdoppelt, allerdings auf einem Niveau, das noch weit unter dem z.B. des Jahres 2006 (mehrwöchiger Arbeitskampf im öffentlichen Dienst) liegt.
Der vorliegende Sammelband enthält in seinem ersten Teil drei Untersuchungen zu „Politische Generalstreiks und Sozialproteste in Europa“: Einen allgemeinen Überblick mit Fallstudien zu Frankreich und Großbritannien von Alexander Gallas und Jörg Nowak (S. 24-106), eine Übersicht zu „Generalstreiks in Westeuropa 1980-2011“ (S. 107-113) von Kerstin Hamann, Alison Johnston und John Kelly sowie einen Überblick zu politischen Sozialprotesten im Südosten Europas von Boris Kanzleiter (S. 114-129). Im zweiten Teil des Bandes folgen zehn Interviews mit „Basisgewerkschaftern“ aus Österreich, Belgien, Frankreich, Portugal, Spanien, Griechenland, dem Baskenland und Großbritannien, in denen es um deren „praktische Erfahrungen mit politischen Streiks“ geht (S. 130-193). Der dritte Teil thematisiert mit Beiträgen von Lucy Redler, Heidi Scharf, Detlef Hensche, Veit Wilhelmy und Klaus Ernst politische Streiks und Gewerkschaften in Deutschland (S. 194-235). Dem ganzen vorangestellt ist eine Einleitung von Florian Wilde, Referent für Gewerkschaftspolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung (S. 8-21).
Die Autoren gehen von einer „deutlichen Zunahme politischer Streiks im Europa der Krise“ aus (Wilde, S. 20). Die Abgrenzung von „politischen“ und „ökonomischen“ Streiks erweist sich allerdings als schwierig. Als charakteristisches Merkmal eines politischen Streiks gilt, dass er sich „primär gegen Regierungshandeln richtet, auf die Beeinflussung politischer Entscheidungen abzielt oder starke allgemeinpolitische Implikationen hat – im Gegensatz zu ökonomischen Streiks, die sich primär gegen Unternehmerhandeln richten.“ (S. 19) Schon die Schwierigkeit solcher Abgrenzung und der besondere Focus, den die AutorInnen auf politische Streiks legen wollen, hätten eigentlich Anlass sein müssen für eine stärker gesellschaftstheoretische Analyse, vor allem für die Frage nach der Bedeutung von Staatstätigkeit im heutigen Kapitalismus. Die Reproduktion der Arbeitskraft und die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen sind in hohem Maße von staatlichen Aktivitäten abhängig. Stichworte wie Rentenpolitik, Hartz IV, Mindestlöhne usw. weisen darauf hin. Insofern hat jede sozialpolitische Auseinandersetzung auch eine politische Dimension. Das gilt besonders für Zeiten der rigorosen Rücknahme sozialstaatlicher Klassenkompromisse und austeritätspolitischer Krisenbewältigung, bei der der Staatssektor, die im wesentlichen staatlich organisierten Bildungs- und Gesundheitssysteme, die Kommunalhaushalte etc. ins Blickfeld geraten. Die – unbeschadet aller neoliberalen Rhetorik – auch weiterhin enorme Bedeutung des Staates für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess drückt sich u.a. darin aus, dass in England, um nur ein Beispiel zu nennen, die Staatsquote, die 1979 45 Prozent ausmachte, am Ende der Regierungszeit der eisernen Lady immer noch bei 39 Prozent lag (FAZ, 9. 4.2013). Die gegenwärtige finanzkapitalistische Krise erhält zudem eine besondere Charakteristik durch die staatlich organisierte Abwälzung der Krisenlasten (Bankenrettung) auf die Gesellschaft. Dass sich ökonomische Basis und politischer Überbau durchdringen, ist an sich nichts Neues. All das verweist aber darauf, dass heute insbesondere in Zeiten der Krise der Staat und „die Politik“ stärker ins Zentrum sozialer und politischer Auseinandersetzungen rücken müssen.
Hamann u.a. konstatieren für die Jahre 1980-2006 (EU15 und Norwegen) stark rückläufige ökonomische Streiks (Rückgang von 16,6 auf 1,1 Streiktage pro 10.000 Beschäftigte von 1980/82 bis 2004/2006), aber eine deutliche Zunahme von Generalstreiks in der Periode 1980-2011, insbesondere in den letzten Jahren (S.107 ff). Sie sehen dies als Indiz für den starken Bedeutungsgewinn „politischer“ Streiks im oben angeführten Sinne. Die nähere Betrachtung zeigt allerdings große Unterschiede in den EU-Ländern. Von 118 Generalstreiks entfielen 83 Prozent auf fünf südeuropäische Länder: 50 Streikfälle auf Griechenland und 22 auf Italien sowie 13 auf Frankreich, 8 auf Spanien und 5 auf Portugal. Umgekehrt fanden im gesamten Zeitraum in fünf europäischen Ländern überhaupt keine Generalstreiks statt (Irland, Dänemark, Deutschland, Schweden und Großbritannien). Insofern kann von einem einheitlichen Trend nicht die Rede sein. Umgekehrt fällt die besondere Bedeutung der nationalen Traditionen und spezifischen Klassenverhältnisse ins Auge. Die AutorInnen konstatieren, „dass der Ausschluss der Gewerkschaften von der Politikgestaltung mindestens genauso viel Sprengkraft hat wie die Inhalte der umstrittenen Gesetzesvorhaben selbst“ (S. 111).
Gallas/Nowak charakterisieren in ihrem informativen Übersichtsbeitrag die Streiks und Sozialproteste im Europa der Krise 2008 ff. als durchweg defensiv. Es handelt sich um Abwehrkämpfe. Soweit sie branchenübergreifend und gegen staatliches Handeln/Regierungen gerichtet waren, ist dies eben Ausdruck der – gegenüber der Zeit der Luxemburgschen Massenstreik-Broschüre (1906), auf die die Autoren sich beziehen – stark gewachsenen sozialpolitischen und ökonomischen Staatsfunktionen. Das bei Luxemburg in ihrem Verständnis von politischem und Generalstreik dominierende politische Moment mit Perspektive auf gesellschaftliche Umwälzung tritt demgegenüber (vorerst jedenfalls) nicht hervor. Die Autoren behandeln die wichtigsten europäischen Länder und geben dann einen detaillierten Vergleich der Entwicklung in Frankreich (S. 44 ff.) und Großbritannien (S. 64ff.). In diesen Übersichten tritt auch realistischerweise die Fokussierung auf explizit politische und Generalstreiks gegenüber Streiks und Sozialprotesten insgesamt in den Hintergrund. Frankreich mit traditionell niedrigem Organisationsgrad (am höchsten noch im öffentlichen Sektor) und fehlender Tradition institutionalisierter Aushandlungsverfahren der „Sozialpartner“ erlebte seit 2009 relativ mobilisierungsstarke Aktionstage, Streiks und Demonstrationen u.a. gegen Rentenkürzungen bei hoher Zustimmung der Bevölkerung. Sie wurden von der Regierung Sarkozy jedoch ausgesessen, trugen aber wohl zu deren späterer Abwahl 2012 bei. In Großbritannien formierte sich nach dem Regierungswechsel 2010 zuerst Massenproteste gegen Kürzungen im Bildungsbereich (Schüler und Studenten), die dann auch von Gewerkschaften unterstützt wurden und zu großen Demonstrationen (März 2011) und Streiks (Juni und November 2011) in allen Teilen des Landes führten, getragen insbesondere von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Auch in Großbritannien konnten diese Proteste von der Regierung ausgesessen werden. Immerhin: Ähnlich wie in Spanien oder Portugal schufen diese Bewegungen „eine zeitlich begrenzte Öffentlichkeit auf der Straße“ als „Orte des Zusammenfindens der in ihren Arbeitsplätzen, Freizeitaktivitäten, Lebensstilen und Milieus hoch fragmentierten Arbeiterklasse“ (S. 90), und, wäre zu ergänzen, sozialer Bewegungen wie der Schüler und Studierenden, der Occupy-Proteste u.a.m.
Boris Kanzleiter berichtet über den Zyklus sozialer Protestbewegungen, die sich seit 2008 in den Ländern Südosteuropas in sehr unterschiedlicher Weise (ausgeprägt in Rumänien) herausgebildet haben (S. 114ff). Fragmentierung, Kluft zwischen den Beschäftigten im öffentlichen und privaten Sektor, höchstens schwache Kontakte zwischen Gewerkschaften und Organisationen der Studierenden und anderen Protestbewegungen werden als wesentliche Probleme hervorgehoben. Gerade letzteres ist auch eine durchgehende und sich für alle Gewerkschaften stellende Frage in den Interviews mit Gewerkschaftsaktiven. Ein belgischer Gewerkschaftssekretär konstatiert als Schwachpunkt, dass keine Verbindungen zu den sozialen Bewegungen, Vereinigungen prekär Beschäftigter oder studentischen Organisationen geschaffen wurden (S. 142). Aus Portugal wird gerade die besondere Bedeutung der sozialen Bewegungen (z.B. Empörte, Bewegung des 12. März, Prekäre) hervorgehoben (S. 152), ebenso für Spanien (S. 156 ff), ohne dass die ausgeprägten Differenzen zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen ausgeklammert würden.
Im abschließenden Themenblock zu politischem Streik und Gewerkschaften in Deutschland gibt Detlef Hensche den nüchternen Ratschlag, es sei „bereits viel gewonnen, wenn der Streik insgesamt, namentlich der Streik für tarifvertragliche Ziele, mehr den sozialen Alltag der Bundesrepublik prägte“. Nur durch Ausübung die Streikfreiheit in der Praxis sei Rechtsfortschritt möglich. Die Aneignung des Rechts auf politischen Streik erfordere auch den Mut zur kalkulierten Regelverletzung.
Jüngst hat die ILO „ein wachsendes Risiko sozialer Unruhen in Europas Krisenländern“ konstatiert. Eine weitergehende und ähnlich detaillierte Analyse der Formierungsprobleme sozialer Protestbewegungen in Europa wie im vorliegenden Band wäre dringend notwendig. Ein Schlüsselproblem, was hier jedoch nur am Rande angesprochen wird, sind die politischen Defizite der Bewegungen, das Fehlen massenwirksamer und plausibler Alternativen der Linken. Das dürfte aber weniger eine Frage der Programme sein, sondern in erster Linie der Entwicklung eines handlungsfähigen Blocks, dem die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung zugetraut wird. Dies ist, wie die Dinge liegen, heute nicht mehr nur die Frage der Formierung von Kräften im Rahmen der einzelnen Nationalstaaten, sondern auch die der Koordinierung auf europäischer Ebene, wenn der geballten Austeritätspolitik des europäische Überbaus etwas entgegengesetzt werden soll.
André Leisewitz
Protestpotentiale in Deutschland
Stine Marg/ Lars Geiges/ Felix Butzlaff/ Franz Walter (Hrsg.), Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen? BP-Gesellschaftsstudie, Rowohlt Verlag, Reinbek 2013, 346 S., 16,95 Euro
„Die Studie wurde von BP finanziert und das müsste schon mal stutzig machen.“ Dieses Urteil zur jüngst publizierten Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung um den auch über akademische Kreise hinaus bekannten Politikwissenschaftler Franz Walter zur Frage der Motivationslage von Akteuren der gegenwärtigen sozialen Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland erscheint – eingedenk der Tatsache, dass auf dem Buchcover die grün-gelbe Sonne des Firmenlogos des einst als „British Petroleum“ bekannten Energiekonzerns abgebildet ist und diesen somit deutlich als Förderer ausweist – als eine naheliegende Abwehrreaktion. Das zitierte Verdikt stammt aus einer dreizeiligen „Rezension“, die ein offenkundig aktiver Gegner des Bahnprojekts „Stuttgart21“ in das Webangebot des Onlinehändlers Amazon gestellt hat und die mit einer „Nicht-Empfehlung“ endet. Dem soll sich an dieser Stelle keinesfalls angeschlossen werden. Es hieße, nicht nur den Doppelcharakter von Wissenschaft als Mittel der Erkenntnis einerseits und als Mittel der Herrschaft andererseits1 zu ignorieren, sondern auch die wissenschaftliche Leistung der AutorInnen und damit die Möglichkeit, die Erkenntnisse aus fortschrittlicher Perspektive nutzbar zu machen, zu negieren. Dass das Interesse von BP an der Förderung der Studie zweifelsfrei nicht nur von altruistischen Motiven geleitet war, gibt der Vorstandsvorsitzende der europäischen BP-Aktiengesellschaft Michael Schmidt im Vorwort offen zu. Er weist darauf hin, dass BP „ein Unternehmen [ist], welches selbst Ziel von Protesten war und ist“, und er fragt deshalb: „Was treibt unsere Mitbürger […] in den Protest gegen eine Baumaßnahme, gegen eine Schulpolitik, gegen fossile wie erneuerbare Energien.“ (7) Es scheint daher nahezuliegen, auf die Expertise eines renommierten Instituts zur Beantwortung dieser Fragen zurückzugreifen. Dieses ist sich der Problematik der Förderung der Forschung seitens der Industrie im Übrigen selbst bewusst (vgl. 12f.).
Der Band deckt ein breites Feld der in der Bundesrepublik aktiven Protestgruppen ab und umfasst sowohl die schon beinahe als „klassisch“ einzustufende und daher in methodischer Hinsicht als Vergleichsgruppe fungierende Anti-Atom-Bewegung, aber auch satirische Protestgruppen wie die den Neofaschismus persiflierende „Front deutscher Äpfel“ oder Internet-Aktivisten. Die vom Forscherteam zur Anwendung gebrachte Untersuchungsmethode stützt sich auf klassische Instrumente der empirischen Sozialforschung, namentlich Einzelinterviews, Gruppendiskussionen und teilnehmende Beobachtungen, die zum Teil auch gleichzeitig als erster Forschungskontakt mit der jeweiligen „Szene“ dienten. Die Motivationslage der einzelnen oftmals formal höher gebildeten und älteren Akteure, deren politische Sozialisation zumeist zeitlich mit den Formierungen der „neuen sozialen Bewegungen“ in Deutschland zusammenfiel, richtet sich subjektiv auf eine „Verbesserung“ der Demokratie, die als Wert positiv konnotiert wird. Die von Walter als „Misstrauensgesellschaft“ apostrophierte Stimmungslage, die diesem Wunsch nach „Verbesserung“ zugrunde liegt, hat indes zum Teil die angebliche Verfälschung von Wählerwillen durch die Macht organisierter Interessen im Visier. Dass sich diese Haltung gegen alle möglichen Formen der Artikulation von „Partikularinteressen“ richten kann, zeigt einen offenen Widerspruch auf, bilden die hier erforschten Protestgruppen doch tatsächlich selbst Einzelinteressen ab. Hiermit drückt sich Gefahr und Fortschrittspotential der derzeitigen Protestbewegungen – wie im Band exemplarisch deutlich wird – gleichermaßen aus.
Im Einzelnen erscheint zwar beispielsweise das Innenleben der untersuchten Hamburger „Recht auf Stadt“-Bewegung einstweilen als eine sehr sympathische Vorwegnahme einer alternativen Gesellschaft; die Tatsache, dass sich diese Protestgruppe vor allem aus einem „linksalternativen Mittelklasse-Milieu“ (54) rekrutiert, und damit ganz dem von Franz Walter selbst formulierten allgemeinen Trend in den untersuchten Formationen entspricht, der in ihrer habituellen und sozialen „Bürgerlichkeit“ (10f.) besteht, deutet jedoch weniger auf eine andere Gesellschaftsformationen antizipierende Haltung hin. Das von den Hamburger Aktivisten formulierte Perspektivziel, wonach „lediglich die Verteilung der erwirtschafteten Gewinne […] gerechter erfolgen“ soll (63), liest sich dementsprechend vergleichsweise bescheiden, stellt aber in jedem Falle einen Gegenbeweis zum lassalleanischen Verständnis von allen nicht-proletarischen Schichten als „reaktionärer Masse“ dar. Anders verhält es sich im Falle der Gegner von tendenziell der Bildungsgleichheit zugeneigten Schulreformen und den euro-kritischen Spektren, die sich klar als Besitzstandswahrer begreifen lassen. Im Allgemeinen beleuchtet die Studie sich in verschiedenen Ein-(oder-Mehr-)Punkt-Bewegungen engagierende „Wutbürger“ mit einem entsprechend freien Zeitkonto (vgl. 302), deren politische Zielvorstellungen Gegenstimmen zur herrschenden Ideologie bilden und damit eine Integrationskrise zumindest andeuten, sich aber nach wie vor auf kapitalismuskompatiblen Bahnen bewegen.2 Dieser Befund gilt zwar nicht für Teile der ebenfalls in der Studie behandelten Occupy-Bewegung, hierin zeigt sich jedoch das unmittelbar praktische Interesse an Forschungsergebnissen wie den vorliegenden. Dieses Interesse erklärt sich allerdings aus divergierenden, mit unterschiedlichen Soziallagen verbundenen, Intentionen. Die neuesten Erkenntnisse der Göttinger Demokratieforschungsgruppe sind daher dringend zur Kenntnis zu nehmen.
Phillip Becher
Nelkenrevolution in Portugal
25. April 1974 – Die Nelkenrevolution. Das Ende der Diktatur in Portugal. Hg. von Willi Baer und Karl-Heinz Dellwo, Laika-Verlag, Reihe Bibliothek des Widerstands Bd. 15, Hamburg 2012, 344 Seiten, 24,90 EURO
Der Sammelband enthält elf Beiträge von Autor(inne)n aus Portugal, Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland, als Beigaben zwei DVDs mit Reportagen aus den Jahren 1974 und 1975, außerdem Fotos von Massenaktionen und Kundgebungen.
In ihrer Einführung nimmt die Historikerin Raquel Varela Bezug auf Auseinandersetzungen in Portugal um die – wie sie es nennt – „historiographische Bilanz“ der portugiesischen Revolution. Als Motto für ihren Aufsatz „Konflikt oder soziale Kohäsion“ wählt sie ein Orwell-Zitat: „Die Kontrolle über die Vergangenheit ist eine politische Waffe für die Gegenwart’“. Sie hebt hervor, dass die Diktatur – im Unterschied zum Regimewechsel in Spanien – auf revolutionärem Wege beseitigt worden sei. Anders als dort habe die Revolution in Portugal immerhin eine – wenngleich mittlerweile vielfach revidierte – Verfassung hervorgebracht, die in der Präambel den Sozialismus als Ziel vorgebe und faschistische Organisationen verbiete. Eine Bürgerbewegung habe die Öffnung der Archive der Diktatur erzwungen. Während in Spanien die alten Eliten es ablehnen, sich mit der Vergangenheit öffentlich auseinander zu setzen, seien in Portugal Versuche, Salazar zu rehabilitieren, auf Widerstand gestoßen, und es gelang nicht, den 25. April als nationalen Feiertag abzuschaffen.
Um die Bewertung der Gedenkfeiern zum 25. April geht es in der Kontroverse zwischen Antonio Costa Pinto und Eugénio Rosa anläßlich des 30. Jahrestages der Nelkenrevolution 2004. Rosa weist Versuche der Mitte-Rechts Parteien und ihrer intellektuellen Zuarbeiter zurück, die April-Revolution als „Evolution“ der Diktatur zu einem demokratischen Regime umzudeuten und so für sich zu vereinnahmen. „Der April selbst stand nicht für Evolution, weil die portugiesischen Rechten historisch gesehen unfähig waren, einen Prozess des Übergangs zu realisieren“. Costa Pinto sieht die Gedenkfeiern positiv, spöttelt über die „wenigen Verteidiger einer Geschichte im Dienste der Revolution heute und für immer“ und hält es für angemessen, ausschließlich der (damals) 30 Jahre demokratischer Entwicklung und friedlichen Fortschritts zu gedenken, die auf die Umwälzung von 1974/1975 folgten.
Eher linksradikale revolutionstheoretische Überlegungen finden sich im Text des Brasilianers Valério Arcary „Die einsame Revolution“. Er vertritt die These, das präsidial-parlamentarische Regime im heutigen Portugal sei kein direktes Erbe der Revolution, jener „achtzehn intensiven Monate, in denen Freiheiten und soziale Grundrechte erkämpft wurden“. Vielmehr sei das heutige Regime Ergebnis eines „langen reaktionären Prozesses der besitzenden Klasse und ihrer Verbündeten aus der besitzenden Mittelschicht“, das Resultat eines „autogolpe“ („Selbstputsch“) der Militärspitze am 25.11.1975. Die „Reaktion“ habe sich einer „demokratischen Taktik“ bedient, einen gewaltsamen Putsch wie 1973 in Chile vermieden, zugleich aber auch die Vollendung der sozialen Revolution verhindert.
Neben den Auseinandersetzungen um die Bewertung der Aprilrevolution werden in mehreren Beiträge Einzelaspekte der Revolution behandelt: die Bewegung der Landarbeiter im Alentejo und die Agrarreform (Constantino Piçarra), die Verstaatlichung der Banken (Ricardo Noronha), die Rolle des Kolonialkrieges als Katalysator für den Sturz der Diktatur. (Dálila Cabrita Mateus), die Gruppen der extremen Linken (Jorge Fontes) sowie die Rolle der Portugiesischen Kommunistischen Partei im Kampf um die Macht (Raquel Varela). Ein Gespräch mit dem MFA-Offizier Otelo Saraiva de Carvalho gibt dessen Sicht und Bilanz der Ereignisse wieder. António Simões do Paço, der das Interview mit Carvalho führte, schildert im Vorspann dessen Geschichte während und nach der Revolution und fragt:„Wo sind die Perspektiven hin, die sich mit dem April eröffneten?“ Der Journalist Luis Leiria, Betreiber der Internetplattform „esquerda.net“, ruft den militärischen Ablauf der Militärerhebung in Erinnerung.
Ein Vortrag Eugenio Rosas über „Revolution und Demokratie und ein Beitrag von Dominic Heilig mit dem Titel „Die Tragik der portugiesischen Linken ist die fehlende Solidarität“ schließen den Band ab. Heilig beschäftigt sich mit der Geschichte der Portugiesischen Kommunistischen Partei, beklagt ihre fehlende Bereitschaft zu einer „Erneuerung“ im Sinne westeuropäischer Linksparteien und schildert die schwierigen Bemühungen des „Bloco de Esquerda“, in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen in Portugal eine Massenbasis zu gewinnen.
Es fehlen aktuelle Stimmen von Menschen aus der zivilen Massenbasis der damaligen Revolution, die Aufschluss darüber geben könnten, wie sie ihr damaliges Engagement heute beurteilen und was für sie selbst, ihren gegenwärtigen Alltag und das Leben ihrer Kinder die einstigen Kämpfe bedeuten. Immerhin waren es viele. Mit qualitativen Interviews müsste so etwas doch zu machen gewesen sein.
Wer sich nicht nur aus politologischem oder revolutionstheoretischem Interesse mit der Nelkenrevolution beschäftigt, sondern sich ein Bild von den Menschen machen möchte, die sich für oder gegen den revolutionären Prozess engagiert haben, wer etwas über die individuellen Motive von Akteuren, Sympathisanten und Beobachtern erfahren will, um zu verstehen, was in Portugal vor knapp 40 Jahren geschah, sei auf vier Zeitzeugen hingewiesen, die in den 1970er und -80er Jahren das Land bereisten, mit Einwohnern verschiedener Herkunft und Ansichten gesprochen haben und sich dabei nicht so sehr auf die politische Klasse und die Hauptstadt konzentrierten, sondern auf den „povo“, die Arbeitenden, die sich politisch engagierten. Jaques Frémontier: Die Nelken sind verwelkt, Berlin/DDR 1978, Michael Vester: Die vergessene Revolution, Frankfurt 1982, Hans Blume: Portugal braucht Zeit zum Kennenlernen, Frankfurt 1986 und Klaus Steiniger: Portugal im April, 2. Aufl. Berlin 2011.
Urte Sperling
Bilanz der ersten Obama-Regierung
Ingar Solty, Die USA unter Obama. Charismatische Herrschaft, soziale Bewegungen und imperiale Politik in der globalen Krise, Argument, Hamburg 2013, 343 S., 23,00 Euro.
Dieses Buch war überfällig. Zwar sind dem aufmerksamen (linken) Leser Soltys Texte aus Publikationen wie „Das Argument“, „junge Welt“, „Sozialismus“ oder der vorliegenden bereits bekannt. Doch sie gesammelt – versehen mit einer 70seitigen Einleitung – in Buchform lesen zu können, vermittelt erst ein umfassendes Bild der „USA unter Obama“ aus kritisch-materialistischer Perspektive. Die in den letzten fünf Jahren entstandenen Beiträge behandeln Obamas Außenpolitik (Libyen-Krieg, Beziehungen zu China, „Kriege gegen den Terror“), innenpolitische Themen wie die Gesundheitsreform sowie die Rolle von sozialen Bewegungen wie der rechten Tea-Party und der linken Occupy-Bewegung. Im Zentrum indes steht eine Gesamtbilanz der ersten Amtsperiode Obamas im Kontext der globalen, von Amerika ausgehenden Finanzkrise von 2007ff. Solty erinnert an die übergroßen Hoffnungen, die – auch von Linken – in den ersten afroamerikanischen Präsidenten der USA gesetzt wurden. Wie so oft können große Erwartungen schnell enttäuscht werden. So auch bei Obama. Der Verfasser sieht die Obamamanie-Blase schon kurze Zeit nach seinem Amtsantritt platzen.
Freilich erliegt der marxistisch geschulte Autor nicht der Gefahr, eine personalisierende Analyse zu betreiben. Vielmehr geht es ihm darum, zu einem „besseren Verständnis der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in den USA zu verhelfen“ (11). Entgegen der Hoffnung, dass die USA unter Obama den Weg der Transformation hin zu einem stabileren, grünen Kapitalismus beschreiten würden, bewertet Solty Obama als denjenigen Präsidenten, der „anstatt den Neoliberalismus ... zu überwinden, ihn mit Staatshilfe restauriert und vertieft hat.“ (12f.) Das mag im Grundsatz nicht allzu überraschend sein; die Art und Weise der Begründung ist es schon. Ein Beispiel: Häufig ist in der hiesigen Kommentierung zu lesen, dass die USA im Unterschied zu europäischen Krisenreaktionen mit klassischen staatsinterventionistischen, keynesianischen Maßnahmen auf die Folgen des Lehman-Desasters reagierten. Solty jedoch argumentiert, dass die USA einen „versteckten Austeritätskurs“ fahren. Zur selben Zeit nämlich, als der Nationalstaat im keynesianischen Stil Geld in die Hand genommen habe, um konjunkturell gegenzusteuern, schränkten sich alle darunterliegenden Verwaltungsebenen finanziell dramatisch ein (20f.). Der Autor beziffert mit Zahlen aus dem Economist den Anstieg des Staatsverbrauchs am Volkseinkommen trotz des massiven Konjunkturprogramms lediglich auf 0,4 Prozent. Wohl wahr: keine beeindruckende Steigerung. Neben der Quantität des Konjunkturprogramms kritisiert Solty auch die Qualität desselben; überdies erachtet er Obamas Verzicht auf öffentliche Beschäftigungsprogramme und sein Vertrauen in die kapitalistische Privatwirtschaft als deutlichsten Unterschied zu Roosevelts New Deal. Die Parallele zu Roosevelt wird mehrmals gezogen, weil sich in seiner Regierungszeit die Vereinigten Staaten nach der Weltwirtschaftskrise von 1929ff. in eine progressive Richtung transformierten – dies allerdings nur unter dem Druck von sozialen Bewegungen. Ihr Fehlen, vor allem einer Arbeiterbewegung, sieht Solty daher als Hauptgrund für die enttäuschenden Resultate der Politik Obamas an. Nur diese könnten Obama den „politischen Handlungsspielraum verschaffen, auch gegen die in den Staatsapparaten verdichteten Kräfteverhältnisse (charismatische) Politik zu betreiben.“ (67f.) Eben wie es Roosevelt gelungen sei, dem die Institutionalisierung vorhandener Klassenkämpfe den Raum verschaffte, auch gegen den Großteil der Bourgeoisie eine Reformpolitik im langfristigen Interesse des Bürgertums durchzuführen.
Zwar charakterisiert der Verfasser die Arbeitskämpfe von Wisconsin im Jahr 2011 als ein Aufflackern der Arbeiterbewegung, doch sie haben dem Austeritätskurs von Obama nichts anhaben können. Gleichwohl meint er, in Wisconsin ein Fanal dafür erkennen zu können, dass solidarische Gegenmacht der sozialen Bewegungen immer noch möglich sei.
Welche Perspektiven sieht der Autor für die USA unter Obamas zweiter Amtszeit? Angesichts der sogenannten Fiskalklippe prognostiziert er eine „kommende Offensive der neoliberalen Einheitspartei“. Mit dem Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein zeichnet Solty folgendes Szenario: Obama wird den Republikanern höhere Steuern für Reiche bei dramatischen Kürzungen in der Gesundheits- und womöglich auch in der Rentenversicherung abtrotzen (322f.). Das wiederum könnte eine Wiederauflage von Wisconsin und Occupy ermöglichen.
Dass Widerstand von Links gegen diese US-amerikanische Version der Austerität nicht so unwahrscheinlich erscheinen mag, wie es zunächst klingt, zeigen Umfrageergebnisse zur Krisensubjektivität. Demnach hätten insgesamt 50 Prozent eine positive und 40 Prozent eine negative Auffassung vom Kapitalismus bzw. 31 Prozent eine positive und 60 Prozent eine negative Auffassung vom Sozialismus. Bei den unter 30-jährigen überwog gar eine negative Sicht des Kapitalismus (309). Erstaunlich hohe Werte für ein Land mit ausgeprägten antikommunistischen und pro-kapitalistischen Traditionen. Von Einstellungen zu politischen Handlungen ist es ein weiter Weg; wie diese tatsächlich auf die politischen Klassenauseinandersetzungen einwirken, bleibt daher abzuwarten.
Wer dieses Buch zur Hand nimmt, muss bei der Lektüre ein wenig „Arbeit“ in Kauf nehmen. Gelohnt wird es einem mit vielen Erkenntnissen und anregenden Gedanken – das kann man von den anderen Büchern zum Thema auf dem Markt nicht in gleichem Maße behaupten.
Fabian Westhoven
Kommunismusforschung
Jahrbuch für Historische Kommunis-musforschung 2012, Aufbau Verlag, Berlin 2012, 460 S., 38,00 Euro
Der thematische Schwerpunkt des Jahrbuchs lautet „Den neuen Menschen schaffen ... – Utopie und Zwang im Kommunismus“. Ihm sind 14 Beiträge zugeordnet, von denen einige peripher oder indirekt, die meisten aber wenig mit dem Thema „Debatten um den neuen Menschen“ zu tun haben. Kein Autor reflektiert die als Scheinalternative fungierende Überschrift. Das Spektrum der Gegenstände ist weit gespreizt, vom Versuch, die kasachischen Nomaden zwangsweise seßhaft zu machen über Kanalbauten als „Großbaustellen des Kommunismus“ in der UdSSR, die Erschließung Sinkiangs in China durch Han-Siedler, Chruschtschows Kommunismusvorstellungen bis zu Analysen des Kommunismusbildes in Heiner Müllers Theaterstück „Die Umsiedlerin“ aus der DDR oder in antikommunistischer polnischer Literatur und manches andere. Als historische Facetten beleuchten einige Beiträge durchaus informativ einzelne Ereignisse, Prozesse oder Probleme in verschiedenen Ländern, doch konstituieren sie keinen Themenkomplex über Debatten und Praxis der Gestaltung eines „neuen Menschen“, wiewohl der einleitende Beitrag von Florian Grams geradezu einlädt, ein solches Problemfeld zu bearbeiten.
Grams, Jg. 1974, Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Hannover, unterscheidet drei Vorstellungen vom „neuen Menschen“, die in der Arbeiterbewegung vor und nach der russischen Revolution parallel präsent waren: „In diesem Terminus schwingt sowohl die biblische Vorstellung von der Vereinigung des Menschen mit Gott mit, als auch die vermeintliche Erfüllung des menschlichen Glücks durch den technologischen Eingriff des Menschen in den Menschen.“ (1) Beiden Vorstellungen liege eine Heilslehre zugrunde. Davon grenzt Grams die Vorstellung vom „neuen Menschen“ ab, die „sie als Kategorie zur Erklärung der historischen Bedingtheit menschlicher Möglichkeiten“ begriff, beispielsweise, „daß mit der Renaissance der Homo faber – der tätige Mensch, der sich seiner Arbeit nicht schämt – die Bühne der Welt betritt“. In der Arbeiterbewegung wären immer alle drei Vorstellungen vom ‚neuen Menschen’ gegenwärtig. Grams hebt hervor, daß Marx in Polemik mit falschen Lesarten seiner Schriften Wert darauf gelegt habe, „daß die kommunistische Gesellschaft kein ,Glückseligkeitsstall’ werden würde, sondern geprägt sein werde von heftigen Auseinandersetzungen der assoziierten Produzenten um die Gestaltung des Zusammenlebens“. Grams stellt fest: „Die Interpretation, wie sie zum Beispiel von Karl Löwith vorgetragen wurde, daß Marx die Geschichte des christlichen Messianismus fortgeschrieben habe, entbehrt angesichts dieser Befunde jeglicher Grundlage.“ (3)
Während Marx und Engels die Fragen nach der konkreten Gestaltung einer kommunistischen Gesellschaft oder eines „neuen Menschen“ offen ließen, nannte die Sozialdemokratie zwar den „neuen Menschen“ als Bildungsziel und hielt dafür, daß Bildung im Kampf der Arbeiter um ihre Emanzipation eine starke Waffe sei, Vorstellungen von einem sozialistischen Menschen aber entwickelte sie nicht. Solche Diskussionen erhielten dann durch die Revolution in Rußland starke Impulse, in der es nach 1925 auch Versuche gab, eine originär sozialistische Eugenik zu gestalten, was jedoch nach 1930 auf wachsenden Widerstand stieß. „Für eine aktive Eugenik in der Sowjetunion lassen sich auf der Grundlage dieser Fakten keine Belege finden.“ (8) In der Weimarer Republik aber, betont Grams im Anschluß an Kristine von Soden, „war Zustimmung zu eugenischen Positionen neben bürgerlichen Wissenschaftlern nur bei Sozialdemokraten des reformistischen Flügels der Partei zu erkennen“. (7)
Unter den deutschen Kommunisten des 20. Jahrhunderts ist Edwin Hoernle zumeist als Agrarpolitiker bekannt. Grams nimmt ihn als führenden Pädagogen der KPD und konstruiert am Beispiel seiner Auffassungen nicht die verkündeten, sondern die angestrebten und praktizierten Erziehungsideale des „neuen Menschen“ – eine Alternative aus den Extremen dressierter Gorilla und blinder Automat auf der einen Seite und Eigenaktivität und Teilhabe der betroffenen Menschen am Entscheidungsprozeß auf der anderen Seite. Der revolutionäre Elan nach 1917 ging hinsichtlich der Vorstellungen eines „neuen Menschen“ davon aus, daß es zwischen der Durchsetzung sozialistischer Produktionsverhältnisse und der Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten einen zwingenden Zusammenhang gäbe. Der „Traum von der Gleichschaltung der Menschen“, folgert Grams aus seinen Untersuchungen, gehörte jedenfalls nicht zum Ideenhorizont des Kommunismus. „Er war vielmehr das Ergebnis staatlicher Machtpolitik, die notwendigerweise jeden emanzipatorischen Gehalt ihrer Legitimationsideologie stillegen mußte.“ (9) Grams hält es mit Hoernle, der sein Erziehungsziel in bewußter Abgrenzung von Vorstellungen einer Umgestaltung des Menschen formuliert: „Nicht harmonische Idealmenschen mit ‚schönem Innenleben’ müssen wir heute erziehen, sondern knorrige Klassenkämpfer, Proletarier, die Solidarität zu üben und sich zu wehren wissen.“ (5) Leider bleibt Grams Beitrag zu kurz und zu kursorisch, um die Fragen des angesprochenen Problemfelds zu differenzieren und zu analysieren.
Zum Hauptthema des Bandes findet sich auch ein Beitrag von Olaf Mertelsmann und Aigi Rahi-Tamm über „Estland während des Stalinismus 1940-1953. Gewalt und Säuberungen im Namen der Umgestaltung einer Gesellschaft“. Der Text ist ein Musterbeispiel dafür, wie eine antikommunistische Obsession auch noch die Minima kritischer Historiographie beiseite schiebt. Während die Autoren selbst erwähnen, daß „während der deutschen Okkupation fast alle Männer im wehrfähigen Alter auf deutscher Seite im Einsatz gewesen“ sind und im Text nur Bilder abgedruckt werden, die diese militärische Kollaboration feiern, wird die Verherrlichung dieser Kollaboration in der gegenwärtigen estnischen Historiographie und ihre politische Normierung als heutige Staatsdoktrin als „nationales Paradigma“ verschleiert. Kontroverse Diskussionen seien ausgeblieben, weil das kleine Land nur wenig Historiker habe – immerhin reichten sie für Kommissionen, Forschungsstellen usw. aus, sofern sie nur die Staatsdoktrin bestätigten. Von der systematischen Vorbereitung der Kader für die spätere Kollaboration mit den deutschen Faschisten in Finnland, Deutschland und im estnischen Untergrund wollen die Autoren nichts wissen. Was sie aber ganz sicher zu wissen glauben ist, daß die Massendeportationen vom Juni 1941 nichts mit der versuchten Ausschaltung der Fünften Kolonne der Nazis in den baltischen Ländern zu tun hatten. Nach dem 22. Juni 1941 gab es „mitunter tatsächlich“ antisowjetische Partisanen. Es sei aber schließlich der stalinistische Terror – nach dem 22. Juni 1941 – gewesen, der „zu einer verstärkten Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern in Estland führte“. (104/5)
Gleich drei Beiträge versuchen zu erklären, warum der Eurokommunismus zwar in Italien, Frankreich und Spanien, nicht aber in Bundesdeutschland Fuß fassen konnte. Neben der Unterbrechung der Tradition der kommunistischen Arbeiterbewegung durch die faschistische Diktatur und die Wirtschaftskonjunktur verweist Ralf Hoffrogge u.a. darauf, daß die am Ende der 1960er Jahre neu entstandenen linken Milieus sich kaum aus der Arbeiterschaft, vielmehr aus bürgerlichen bzw. bildungsbürgerlichen Kreisen rekrutierten, die sich dann in verschiedene Szenegruppen aufspalteten, aber nicht zur Partei wurden oder fanden. Der Neuanfang der Kommunistischen Partei 1968 fand auch deshalb keine Massenbasis und sei mißglückt, weil sein Beginn politisch im Schatten jener außerparlamentarisch bürgerlichen Protestbewegungen blieb.
In einer Fallstudie zum Verhältnis von MfS und SED dokumentiert Siegfried Suckut, wie sich die Leitung der DDR-Staatssicherheit und Mielke persönlich viele Jahre lang um die Absetzung des DDR-Verteidigungsministers Armeegeneral Heinz Hoffmann bemühten. Hoffmann war populär, nicht nur unter Offizieren und Soldaten. Sicherheitsleuten aber galt er als Sicherheitsrisiko. Zweifellos wäre Hoffmann nach gegenwärtigen bundesdeutschen Maßstäben wegen seiner Frauengeschichten und der Saufereien in der Militärspitze ebenso bewertet worden. Doch bei Mielkes Bestrebungen ging es nicht nur um Saufereien, sondern um Konkurrenz und Rivalitäten. Der Oberbefehlshaber der Armeen des Warschauer Paktes, Marschall Gretschkow, verhinderte Hoffmanns Absetzung. Über den Fall Hoffmann hinaus beleuchtet Suckuts Studie, welche Funktionen und Kompetenzen sich Mielkes Ministerium unbeschadet aller Gesetze und Festlegungen praktisch anmaßte und dazu Herrschaftswissen illegal sammelte, gleichzeitig aber auch, für welche Aufgaben dieses Ministerium ständig oder situativ einspringen mußte, weil die SED ihre proklamierte und gesetzlich fixierte Führungsrolle in der Praxis nicht erfüllte.
Hermann Weber stellt Lesefrüchte zu neuer Literatur von bzw. über Trotzki sowie über den Anarchismus vor und diagnostiziert an ihrem Beispiel ein „neues Interesse an alten Ideen von Häretikern“. Er schränkt diese Diagnose aber sofort wieder ein, weil dieses Interesse sich als wenig dauerhaft erwiesen hätte. „Häretiker“, also Ketzer, aber sind Trotzkismus wie Anarchismus nur vom Standpunkt einer dogmatischen Orthodoxie. Will Weber sich mit dieser Bewertung zum orthodoxen Kommunismus bekennen?
In einer Sammelrezension bespricht der Berliner Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler drei Bücher, die den Einfluß grundlegenden ökonomischen Wandels auf ethnische Auseinandersetzungen in multinationalen Staaten untersuchen, und zwar vergleichend für Jugoslawien und die Sowjetunion. Die vier Bürgerkriege als Staatsgründungskriege in Jugoslawien, auch im Kaukasus, die Vertreibung und Flucht nationaler Minderheiten hätten manche Autoren „veranlaßt, ja verführt, die ethnischen Konflikte zur Leitlinie der historischen Darstellung dieser Staaten zu machen“ (381). Dieser Auffassung, nach der der Balkan von jeher ein Minenfeld ist, dessen Grundstruktur zivilisatorischer Inkompatibilitäten sich immer wieder in Auseinandersetzungen äußert, die typisch für den Balkan seien, widersprachen nicht zuletzt Wissenschaftler aus den Balkanstaaten selbst. Der Rezensent nimmt eindeutig Partei für solche Autoren, die die Völker in ihrer Art und ihren Beziehungen zueinander nicht ein für alle Mal vorgeprägt sehen, sondern deren historischen Wandel untersuchen. Roesler lobt in diesem Zusammenhang „die außerordentliche Fähigkeit“ von Marie-Janine Calic (LMU München), „Politik-, Ökonomie- sowie Sozial- und Kulturgeschichte überzeugend miteinander zu verbinden“. (383)
Entscheidend für den Zerfall Jugoslawiens war nicht der Tod Titos 1980. Die weltweite Wirtschaftskrise 1981/82 verschärfte die Staats- und Gesellschaftskrise Jugoslawiens. Seine Produkte erwiesen sich hinsichtlich Qualität, Service und Marketing immer weniger als wettbewerbsfähig. Ausbleibende Deviseneinnahmen konnten nach 1981 nicht mehr durch Kreditaufnahme bei westlichen Banken ausgeglichen werden. „Die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit hätte die Umstellung der Wirtschaft auf Sparten wie Elektronik oder Telekommunikation erfordert“, dazu die gleichzeitige „Konzentration der knappen Investitionsmittel in der Hand des Bundes“. Solche „Reformvorschläge zur Stärkung der Macht der serbisch dominierten jugoslawischen Bundesregierung lehnten Kroatien und Slowenien jedoch ab. Sie kultivierten ,eine Art kollektiven Wohlstandsegoismus’, der keine Rücksicht mehr auf die Folgen für den Gesamtstaat nahm.“ (Marie-Janine Calic) Das entzog dem Bund in den 1980er Jahren die Steuerungsfähigkeit. Roesler bilanziert: Die Publikationen von Calic regen zum Vergleich mit den Entwicklungen in anderen realsozialistischen Ländern an, weil sie die nationalstaatliche Entwicklung stets im Rahmen sich global vollziehender ökonomischer Veränderungen betrachten.
Der Jahrgangsband enthält wie seine Vorgänger „The International Newsletter of Communist Studies“, diesmal Vol XVIII (2012) NO 25.
Werner Röhr
1 Vgl. Reinhard Kühnl, Faschismustheorien. Ein Leitfaden, Heilbronn 1990, S. 19.
2 Vgl. zur Integrationsproblematik die Arbeiten von Reinhard Opitz.