Krise

Die Transformation des fossil basierten Reproduktionsmodus

Anmerkungen zur Krisenkritik Karl Otto Henselings

März 2009

Es gibt die Auffassung, daß die aktuelle globale Finanzmarktkrise eine „Systemkrise“ ist, welcher realökonomische Disproportionalitäten zugrunde liegen, die als „Überakkumulation“ (von Sachkapital) und „Unterkonsumtion“ (der Arbeitsbevölkerung) begriffen werden können (vgl. Jörg Goldberg in Z 76) Wenn dies so ist, dann gibt es auch einen Zusammenhang dieser globalen Krise mit der Umwelt- und Ressourcenkrise auf diesem Globus. In Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie ausgedrückt implizieren die genannten gesamtwirtschaftlichen Disproportionalitäten (die nicht nur Resultat neoliberaler Strategien sind) einerseits eine bereits erfolgte und fortgesetzte Aufblähung des konstanten Kapitals und seines stofflichen Gehalts, nicht zuletzt auch des zirkulierenden konstanten Kapitals, das in Materialien jedweden Typs verkörpert ist; andererseits implizieren sie eine gewinnträchtige Einsparung bezahlter lohnabhängiger Arbeit, insbesondere von Vollzeit-Arbeitskräften, auch (immer noch) in Gestalt des Ersatzes der Betätigung lebendiger Arbeitskraft durch maschinelle Anwendungen nicht-menschlicher Energie. Das geht nun, in the long run, bekanntlich schon so, seit sich die industriell-kapitalistische Vermittlung von Stoff- und Energieströmen zwischen „Mensch und Natur“ zur „Großen Industrie“ entwickelt hat. Deshalb eben ist die Geschichte dieser Industrie (das „aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte“, wie Marx [MEGA I/2, 271], hoffentlich: irrtümlich, meinte) eine Geschichte der Plünderung und Belastung der Erde und ihrer Bewohner durch Raubbau, Umformung und Zerstreuung von Roh- und Grundstoffen und Brenn- und Kraftstoffen sowie von hieraus gewonnenen Erzeugnissen und Rückstands- und Abfallstoffen, insbesondere solchen fossilen Ursprungs. Es wäre also falsch zu meinen, man könne heutzutage wegen angeblich viel wichtigerer ökonomischer Krisenphänomene – welcher Art auch immer – die Umwelt- und Ressourcenkrise vergessen. Im Gegenteil: jene Phänomene gehören zur Vielzahl der Ausdrucksformen des „Endes des fossilen Zeitalters“ – so der Titel des 2008 erschienenen Buches von Karl Otto Henseling, der, von Haus aus Ingenieur, Pädagoge und Chemiker, im Umweltbundesamt Probleme des gesellschaftlichen Stoffstrommanagements bearbeitet.

In den ersten Hälfte dieses Buches geht es um diese geschichtliche Entwicklung des industriellen Stoffwechsels zwischen Menschen und nicht-menschlicher Natur. Sie wird mit dem Blick auf die Stoff- und Energieströme betrachtet, die das Innerste dieser Industriegeschichte ausmachen. Der „dramatische Eingriff in den globalen Energiehaushalt“ und die „Plünderung des Planeten durch industrielle Kraftentfaltung“ setzten mit der Verfeuerung und Verarbeitung von Kohle in großem Umfang ein, mit der auch die umfängliche Rückverwandlung der fossilen Brenn- und Rohstoffe in Kohlendioxid und andere Stoffe begann, und er wurde seit Mitte des 19. Jh. mehr und mehr durch die Chemische Industrie vorangetrieben. Deren Geschichte, eine Geschichte der umwelt- und gesundheitszerstörenden Verwertung der eigenen Abfälle als geldwerte Güter, wird in ihren vielfältigen Verzweigungen äußerst sachkundig dargestellt. Der Autor greift hier auf den Text seines bahnbrechenden, seit langem vergriffenen Buches „Ein Planet wird vergiftet“ (1992) zurück, den er aktualisiert und neu strukturiert hat. Dabei werden in einem besonderen Kapitel Verflechtungen der Chemietechnik und -wirtschaft mit kriegs- und verkehrstechnischen Entwicklungen, das Vordringen des Brenn- und Grundstoffs Erdöl sowie der Aufstieg der Petrochemie behandelt. Die Ressourcen- und Umweltkrise, die – begleitet von massiven schleichenden Vergiftungen von Menschen und ihrer Um- und Mitlebewelten – sich in diesen beiden industriellen Jahrhunderten, vor allem im Westen Europas und in neoeuropäischen Regionen, entwickelt und zugleich global ausgegriffen hat, gipfelt heute in zwei Vorgängen: im Rückgang der Menge leicht zu fördernden Erdöls auf dem Globus sowie in der Zunahme der Menge des klimastörenden Kohlendioxids in der Atmosphäre. Sie künden das unvermeidliche, aber aus dem Bewusstsein verdrängte Ende einer gesellschaftlichen Lebensweise an, die insgesamt auf jener Übernutzung vor allem fossiler Roh-, Grund-, Brenn- und Kraftstoffe beruht und die ich als einen besonderen, eben fossil basierten Reproduktionsmodus zu begreifen vorschlage. Dieser Modus ist, wie aus den von Henseling aufgewiesenen stofflich-energetischen Verflechtungen hervorgeht, u. a. mit Siedlungsweisen und Verkehrswesen sowie mit Infrastrukturpolitik und Kriegswesen eng verknüpft, ist also nicht nur eine ökonomische Angelegenheit, sondern prägt auch die familiale und die politische Dimension gesellschaftlicher Reproduktion.

Zum Begriff des fossil basierten Reproduktionsmodus noch zwei Anmerkungen: (1) Die exzessive Nutzung fossiler Stoff- und Energiequellen ist ein Produkt der sog. Industriellen Revolution des 18. bzw. frühen 19. Jahrhunderts, hat aber (wie ich anderswo zeigen möchte) eine lange Vorgeschichte in der gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung einer „produktionsfixierten Subsistenzstrategie“ auf dem sog. west-europäischen Entwicklungsweg. „Produktionsfixiert“ bedeutet eine starre Ausrichtung der gesellschaftlichen Arbeit auf die Produktion von Mitteln, mit denen in erweitertem Umfang produziert werden kann. Diese Vorgeschichte, die auf die sog. Neolithische (agrarische) Revolution in Südwestasien zurückgeht, ist von Henseling verständlicherweise nicht berücksichtigt worden. (2) Sehr wohl beachtet aber ist in seinem Buch eine noch viel gravierendere Zäsur, mit der sich das „fossile Zeitalter“ an seinem „Ende“ verbindet, und dieser Einschnitt ist erdgeschichtlicher Art. Voraussetzung der Exploitation fossiler Ressourcen ist bekanntlich die Entstehung Kohlendioxid umwandelnder und Sauerstoff abgebender Landpflanzen, die die Entwicklung tierlichen Lebens ermöglichte und darüber hinaus, in der Karbon-Zeit, auch die Bunkerung von Kohlenstoff in Form von Kohle, Öl und Erdgas. Durch die Evolution photosynthetisch aktiver Organismen entstand – wie Barry Commoner es in „The Closing Circle“ 1972 sehr schön beschrieben hat – eine durch Sonnenenergie gespeiste Zirkulation sich transformierender anorganischer und organischer Stoffe, die die weitere Entwicklung und den Fortbestand des Lebens auf der Erde überhaupt erst ermöglichte. Dieser Kreislauf wurde dann durch – die Zugkraft von Tieren einsetzende – Agrarökonomien zwar z. T. schon wesentlich modifiziert, aber erst mit der modernen Industriellen Revolution endgültig durchbrochen, in einem Gewaltakt, der sich schon zweihundert Jahre später global als desaströs erweist.

Der zweite Teil des Buches spielt, abgesehen von einem abschließenden Blick in mögliche (teils schreckenerregende, teils hoffnungsvolle) Zukünfte, hauptsächlich in der Gegenwart. Nachdem zuvor schon verdeutlicht wurde, daß die Industrieentwicklung mit dem Eintritt des Ölfördermaximums und des Klimawandels Konsequenzen gezeitigt hat, welche die „fossile“ Lebensweise untergraben, wobei sie unser Leben selber bedrohen, wird zunächst nach Ursachen und Formen der Verdrängung dieser Bedrohung aus dem Bewusstsein gefragt. Henseling unterscheidet zwischen einem Nicht-Wahrhaben-Wollen (wegen eingefahrener Denk-, Verhaltens- und Handlungsmuster oder eines Strebens nach Machterhalt) und einem Nicht-Wahrnehmen-Können (wegen der Entferntheit, Zerstreuung und tatsächlichen Unsichtbarkeit langfristiger Bedrohungen und Schadwirkungen). Interessant ist auch die Darstellung der sehr zögerlichen Entwicklung der (zunächst äußerst beschränkten) wissenschaftlichen Wahrnehmung von Indizien für das bevorstehende Endes des „fossilen Zeitalters“. (Solche Wahrnehmungsschwierigkeiten gibt es auch bezüglich anderer Fragen und Gegenstände der Umweltwissenschaft und Umweltmedizin.) Ein letztes großes Kapitel befasst sich mit der gewaltigen Aufgabe der Transformation der fossil basierten gesellschaftlichen Lebensweise, dieses Reproduktionsmodus, im Sinne einer Nachhaltigkeit des Stoff- und Energiefluß-Managements. Was sich auf den ersten Blick ausnimmt wie eine Reihe bloßer Ratschläge aus „alternativem“ Schrifttum, erweist sich bei genauerem Lesen als sehr sachkundige Darstellung eines Systems materiell-technischer Optionen in einer Vielzahl miteinander verbundener Felder gesellschaftlicher Reproduktion, deren Realisierung ansteht und praktisch zu leisten ist. Dazu gibt es Verweisungen auf politische, rechtliche, ökonomische und organisatorische Instrumente und Akteure. All das wird praxisorientiert erläutert. In diesem Zusammenhang wird auch das Problem der energetischen Nutzung von Biomasse ökologisch, ökonomisch und politisch kompetent diskutiert. (Vgl. für eine aktuelle Zusatzinformation: Henseling in Mies/Tjaden Hrg., Gesellschaft, Herrschaft und Bewusstsein, 2009, im Druck.) Auf ein paar Seiten gibt es auch Auskünfte über „Netzwerke für eine nachhaltige Entwicklung“. Auch wenn einem das Wort Vernetzung zum Hals heraus hängt und möglicherweise das eine oder andere Dargestellte mehr Wunsch als Wirklichkeit ist: dies ist eine sehr interessante Informationsquelle. Ökonomisch orientierte Kritiker des Missmanagements der Stoff- und Energieströme in der kapitalistisch formierten Gesellschaft mögen in diesem Buch freilich die ausdrückliche Forderung vermissen, den materiell-technischen (und zugleich ökonomischen) Produktionsapparat der Volkswirtschaft um- oder zurückzubauen. So könnte man in der Tat argumentieren. Allerdings: ist nicht diese Forderung in den Plädoyers für einen Umbau der (materiell-technischen) Nutzungssysteme und Infrastrukturen dieser Gesellschaft, die im eben erwähnten praxisorientierten Kapitel nachdrücklich vorgetragen werden, selber schon enthalten, und ist nicht die Thematisierung dieses Aspekts der Realität – der Beziehungen zwischen den Bedürfnissen menschlicher Lebewesen und den Dargeboten der nicht-menschlichen Natur – dem hier anstehenden Problem durchaus angemessen: dem Problem einer richtigen Praxis der Menschen in der weitergehenden Evolution der Gesamtnatur?

Ob und ggf. inwieweit netzwerkgestützte kritische Aktivitäten zur Realisierung materiell-technischer Optionen im Sinne einer Überwindung des fossil basierten Reproduktionsmodus dazu beitragen können, entgegenstehende ökonomische Verfügungsgewalten und -rechte zurückzudrängen und deren Protektion durch den Staatsapparat entgegenzuwirken, bleibt zu diskutieren. (Sie sind allemal sinnvoller als das repetitive Rekommandieren staatlicher Investitionsprogramme zur Förderung des sogenannten Wirtschaftswachstums, die, wenn auch mit „ökologischen“ Kautelen, als Mittel zur Bekämpfung gesellschaftlicher Krisen verkauft werden.) Dabei ist zu bedenken: „Eine Beschränkung der Steigerung des Einsatzes von Arbeitsmitteln zwecks Eindämmung korrespondierender Energie- und Stoffumsätze und Arbeitsplatzverluste ist eine Beschränkung des Vorantreibens der Akkumulation produktiven Kapitals.“ (Czeskleba-Dupont/Tjaden, Marx, Mensch und die übrige Natur – ex und hopp?, 2008/2009, unveröffentlicht) Immerhin entsprechen solche Praxen eher der Forderung der 11. Feuerbachthese Marxens (daß man die Welt nicht nur verschieden interpretieren dürfe, sondern es darauf ankomme, sie zu verändern), als es jene Interpretationsaktivität tut, die Marx den Philosophen zuschreibt. Und auch beim Interpretieren haben ja Philosophen nicht immer die glücklichste Hand. Wenn sie z.B. allgemeinen Regelmäßigkeiten der Entwicklung und der Wechselbeziehungen von Natur, Gesellschaft und Denken nachgehen möchten, kommen sie meistens längst nicht so weit wie Wissenschaftler/innen, die die stofflichen und energetischen Verflechtungen dieser Seinsbereiche ernsthaft erforschen.