Am 9. November 1918 verkündete der Reichskanzler Max von Baden die Abdankung des Kaisers Wilhelm II. Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert übernahm die Regierungsgeschäfte, d.h. den Vorsitz im Rat der Volksbeauftragten. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann verkündete vom Reichstagsgebäude aus die Republik (was ihm der Monarchist Ebert nicht verzeihen wollte). Einige Stunden später verkündete Karl Liebknecht (Mitglied der USPD und der Spartakusgruppe) vom Berliner Stadtschloss aus die deutsche (sozialistische) Räterepublik nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution vom November 1917.
Dieser 9. November scheint ein Schicksalstag deutscher Geschichte zu sein:
- am 9. November 1848 wurde Robert Blum, einer der führenden Köpfe der Linken in der 48er Revolution, in Wien erschossen; es war der Anfang vom Ende der Revolution in den deutschen Staaten;
- der 9. 11. 1918 markiert das Ende der Monarchie in Deutschland;
- am 9. 11. 1923 (das Datum war bewusst gewählt) fand der der so genannte Hitler-Ludendorff-Putsch in München statt: gegen die Novemberevolution, gegen die Republik und gegen den Sozialismus/Bolschewismus;
- 1938: die (gut geplanten) „Novemberpogrome“ gegen die Juden und ihre Einrichtungen in Deutschland (Zerstörung der Synagogen, Massenverhaftungen, etc.);
- und schließlich 1989: die Öffnung der Berliner Mauer, der Anfang vom Ende der DDR und ihres Anschlusses an die BRD.
Revolutionen in der deutschen Geschichte
Bei den offiziellen Erinnerungsfeiern stehen die Jahre 1938 und 1989 im Vordergrund. Gleichwohl legen diese Daten die Frage nahe, ob es einen inneren Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen gibt – und: inwieweit uns dieser innere Zusammenhang wesentliche Dimensionen deutscher Geschichte seit dem 19. Jahrhundert erschließt. Der Umgang mit der Geschichte ( d.h. „Geschichtspolitik“ und die Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins) ist wesentlicher Bestandteil der Ausübung von ideologischer Herrschaft bzw. von Hegemonie. Daher ist das Geschichtsbild stets umkämpft; dieser ideologische Kampf ist Teil der realen Klassenkämpfe. In der deutschen Geschichte (mit Ausnahme der DDR) spielt die feierliche Erinnerung an Revolutionen eine durchaus marginale Rolle. Für die Konservativen – auch für große Teile der Liberalen – bilden die Revolutionen die Tiefpunkte, die Katastrophen der Geschichte. Letztlich haben sie sich immer mit der offenen Konterrevolution verbunden, wenn sie Angst um ihren Besitz und ihre Privilegien, d.h. wenn sie Angst vor der proletarischen, sozialistischen Revolution, hatten.
Gerade in dieser Frage besteht z. B. zwischen der politischen Kultur in Frankreich und in Deutschland eine fundamentale Differenz. Auf der Frontseite der Rathäuser aller französischer Kommunen steht die revolutionäre Losung von 1789 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Die berühmten Revolutionäre selbst werden gewürdigt, in Straßennamen und durch die Namen von Stationen der Pariser Metro. Nur Robespierre, so scheint es, muss für die übereifrige Bedienung der Guillotine – die freilich stets weniger Opfer forderte als die gegenrevolutionären Massaker – büßen![1] In dieser Differenz reflektieren sich Unterschiede der nationalen politischen Kulturen, die ihrerseits auf die unterschiedliche Bedeutung der bürgerlichen und der sozialen Revolution für die Entwicklung einzelner Länder im 19. und 20. Jahrhundert zurückgehen. Die deutschen Zustände waren in dieser Zeit meist zutiefst rückständig und reaktionär. Daher erwartete der junge Marx (1844) vom „Schmettern des gallischen Hahnes“ die Verkündung des „deutschen Auferstehungstages“. Und er fügte hinzu: „In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation zugleich von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Der Kopf der Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung der Philosophie, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie“(MEW 1: 391). Am Ende des Jahres 1918 war diese Problematik des jungen Marx auch für Deutschland real und praktisch geworden.
Im herrschenden Geschichtsbewusstsein unserer Zeit wird die „Revolution“ von 1989 gefeiert, weil sie gegen den Sozialismus und Kommunismus gerichtet war. Formell handelte es sich um eine Massenbewegung, deren Ziel der Sturz des Ancien Régime war; inhaltlich handelte es sich um eine „Konterrevolution“ gegen ein Regime, das sich als „revolutionär“ bezeichnete. Schon der Sturz des Schah-Regimes im Iran im Jahre 1978/79 war – als Massenbewegung – formell eine Revolution. Diese führte allerdings zur Errichtung eines theokratischen Regimes, das die kommunistische und sozialistische Linke brutal unterdrückte[2].
Bei der Erinnerung an den 9. 11. des Jahres 1938 steht das Gedenken an die Opfer des Faschismus, an seine einzigartigen Massenverbrechen gegenüber den Juden (Holocaust) im Vordergrund. Allerdings wird in der Regel der Zusammenhang zwischen dem Scheitern der Novemberrevolution als sozialistischer Revolution und dem Sieg der Konterrevolution in Deutschland bis 1933 ignoriert. Der Faschismus verstand sich explizit als Revanche für den „angeblichen Dolchstoß“ (der Massenstreiks 1917/1918) in den „Rücken des unbesiegten deutschen Heeres“, als Antwort auf die Begründung der Republik („Novemberverbrecher“) und den „jüdischen“ Marxismus/Bolschewismus.
Im herrschenden Bewusstsein unserer Zeit wird diese „gegenrevolutionäre“ Linie durch die Kampagnen der CDU gegen die Partei „Die Linke“ fortgeführt; für diese Kräfte scheint es geradezu selbstverständlich, den Sozialismus/Kommunismus und seine Geschichte zu kriminalisieren und ihn – daraus abgeleitet – als „verfassungsfeindlich“ der Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu unterstellen.
Die Errungenschaften der Novemberrevolution
Bevor wir auf die Langzeitwirkungen der Novemberrevolution eingehen, einige kurze Bemerkungen zum historischen Ort sowie zu den Errungenschaften dieser wohl tiefgreifendsten Revolution in der deutschen Geschichte.
Die revolutionäre Epoche zwischen 1917 und 1921 verweist auf den internationalen Charakter der Revolution. Es handelte sich – wie schon im Jahre 1848 – um eine Periode europäischer Revolutionen, wobei der russischen Oktoberrevolution des Jahres 1917 die Bedeutung eines welthistorischen Schlüsselereignisses zukam. Am Ende des Krieges kam es zu einer Welle von radikalen und revolutionären Bewegungen mit unterschiedlicher Intensität – am heftigsten in Deutschland, Österreich, Ungarn und Italien; begleitet von radikalen Arbeiterbewegungen auch in Frankreich und Großbritannien. Diese Ereignisse wiederum strahlten in die Kolonien der „Dritten Welt“ aus, vor allem nach Ostasien. Durch die Gründung der Dritten Internationale (1918) und die Spaltung der zuvor sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale gewann jede nationale Revolution globale Bedeutung.
Eines der wichtigsten Ergebnisse der Novemberrevolution war der Frieden, das Ende des Krieges, zu dem die Massenstreiks 1917 /1918 (vor allem die Streiks vom Januar 1918) einen entscheidenden Beitrag geleistet haben. Das Ende des Massenschlachtens an den festgefahrenen Fronten des Ersten Weltkrieges – wo u. a. durch den Gaskrieg das unendliche Grauen dieses 20. Jahrhunderts begann und sich über den Zweiten Weltkrieg hinaus fortsetzte. Dieses Ende herbeigeführt zu haben, war für den überwiegenden Teil der Bevölkerung in Deutschland und den anderen kriegsführenden Staaten kein „Dolchstoß“, sondern eine große humanistische Tat. Es bedurfte einer revolutionären Bewegung der Arbeiter und Soldaten, um diese Tat zu vollbringen; denn die herrschende Klasse und das Militär (Ludendorff-Hindenburg) – mit Unterstützung der Mehrheit der Führung der Mehrheitssozialdemokratie (die USPD hatte sich 1917 über diese Frage abgespalten) und der Gewerkschaftsführungen aus den „freien (sozialistischen) Gewerkschaften“ – wollten das Massenschlachten mit neuen Offensiven unbedingt fortsetzen. „Am 9. November 1918 siegt in erster Linie eine Revolution gegen Militarismus und Krieg, gegen das Morden draußen an den Fronten und gegen den Terror der Militärjustiz in der Heimat.“[3]
Der Sturz der Monarchie und die Proklamation der Republik, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts einschließlich des Frauenwahlrechtes und der Abschaffung des 3-Klassen-Wahlrechtes für den preußischen Landtag – auch diese politischen Errungenschaften waren ein Ergebnis der Revolution vom 9. 11. 1918. Es bedurfte des Drucks der revolutionären Bewegung von unten, des Drucks der europäischen Revolutionsbewegungen und insbesondere der russischen Revolution, um die herrschenden Klassen und Klassenfraktionen wenigstens zu diesem Kompromiss zu zwingen.
Eckpunkte waren die Anerkennung der Gewerkschaften und das Verbot „gelber Gewerkschaften“, der 8-Stunden-Tag, das Tarifvertragsgesetz, das Betriebsrätegesetz (von 1920); das Sozialisierungsgesetz (1919), im März 1919 die „Bekanntmachung der Reichsregierung über Sozialisierung“, die die Sofortsozialisierung des Kohlesyndikats, die Vorbereitung der Sozialisierung des Kalibergbaus und anderer Wirtschaftszweige ankündigt und feststellt: „Das Reich wird dafür sorgen, dass überall nach den Forderungen des Gemeininteresses und nirgends im kapitalistischen Profitinteresse gewirtschaftet wird. Und das ist Sozialismus!“
Darin deutet sich schon der Charakter dieser Revolution an; denn diese Zugeständnisse (vor allem das Bekenntnis zur Sozialisierung und die Anerkennung gewerkschaftlicher Forderungen) sind zugleich Ausdruck des Widerspruches dieser Revolution: Die Kapitalisten suchen das Bündnis mit der rechten Gewerkschaftsführung der freien Gewerkschaften in der so genannten „Zentralarbeitsgemeinschaftsvereinbarung“ vom 15. November 1918, um auf diese Weise weitergehende Forderungen der revolutionären Rätebewegung (nach russischem Vorbild) abzuwehren. Nachdem jedoch mit dem Sieg der Konterrevolution dieses Ziel erreicht war, gingen die Kapitalisten und ihre Verbände dazu über, diese Zugeständnisse wieder in Frage zu stellen. Dabei kam es zu zwei großen „Revisionen“: bis zum Jahre 1923 wurde erstens der 8-Stunden-Tag – zweifellos eine der großen Errungenschaften der Revolution – zurückgenommen; zweitens wurde die Republik selbst mit ihrer „Weimarer Reichsverfassung“, die immerhin sozialistische Elemente hinsichtlich der Wirtschaftsordnung, der sozialen Sicherungen und der Wirtschaftsdemokratie enthielt, im Jahre 1933 – mit tatkräftiger Unterstützung des Kapitals (d.h., wenn wir die Akteure betrachten, seiner Verbände, seiner Spitzenvertreter, seiner Wortführer in den politischen Parteien, Universitäten, der Armee etc.) – zerschlagen! Und gleichzeitig wird dann auch die deutsche Arbeiterbewegung zerschlagen, gleichsam als Strafe für die Novemberrevolution (so haben es Hitler und seine Kumpane schließlich verstanden).
Der kurze Blick auf diese Errungenschaften der Novemberevolution macht eines besonders deutlich: Zentrale Bestandteile der Demokratie (wie z. B. das allgemeine Wahlrecht), die heute vielleicht vielen jungen Menschen als selbstverständlich erscheinen, wurden keineswegs „im Selbstlauf“ – als Quasi-Geschenk „von oben“ oder aufgrund der Einsicht der Herrschenden – verwirklicht, sondern es bedurfte des revolutionären Drucks von unten und außen, d.h. aus Russland! Das ist eine wichtige geschichtliche Erfahrung, die keineswegs auf die Novemberrevolution beschränkt ist – sie sollte vor Illusionen über die Reformbereitschaft der Herrschenden schützen! Nur eine wirkliche Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse, dann auch der Machtverhältnisse, kann Fortschritte im Interesse der arbeitenden Menschen, der „Subalternen“ (Gramsci), dauerhaft durchsetzen!!
Die Niederlage der proletarisch-sozialistischen Revolution und ihre Gründe
Trotz dieser Errungenschaften der Revolution zeichnet sich diese dadurch aus, dass sie als proletarische, sozialistische Revolution gescheitert ist. Darüber gab es in den vergangenen Jahrzehnten unter den Historikern immer wieder – auch in der DDR – lebhafte Debatten. Was war denn nun der Charakter dieser Revolution: war sie eher bürgerlich-nachholend oder eher sozialistisch-antizipierend? Die revolutionäre Linke vertrat die Forderungen nach Sozialisierung der Wirtschaft und das Rätesystem als Grundordnung eines neuen plebiszitär-demokratischen, politischen Systems – nach dem Vorbild der Sowjets, der Räte in Russland. Die Niederlage der revolutionären Kräfte war bis 1921 (in Deutschland noch einmal mit dem Nachgang des Herbstes 1923) entschieden. Wolfgang Abendroth schrieb in der „Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung“ über das Ende der Revolutionsperiode nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1921: „In ihrem Verlauf hatte die Arbeiterklasse zum ersten Mal in der Geschichte in allen Ländern des europäischen Kontinents für ihre eigenen sozialistischen Ziele Massenaktionen durchgeführt. Die russische Oktoberrevolution hatte diese Periode eingeleitet, ihr Sieg hatte als Katalysator gewirkt. An ihrem Ausgang aber war die revolutionäre Arbeiterbewegung in allen Ländern außerhalb des früheren Zarenreiches geschlagen. In den hochindustrialisierten west- und mitteleuropäischen Staaten konnte sich die kapitalistische Gesellschaftsstruktur wieder festigen, wenn sie auch meist zur Demokratisierung ihrer Herrschaftsstruktur gezwungen worden war.“ Bei den Debatten über den Charakter der Revolution spielte immer wieder die Frage eine Rolle, welches die Gründe für diese Niederlage waren. Diese Frage bildete gleichsam den Leitfaden der Reflexionen von Antonio Gramsci in seinen „Gefängnisheften“: Das Scheitern der Revolution im Westen und dessen Konsequenz für die Revolution im Osten („Sozialismus in einem Lande“, das System der Stalin-Herrschaft). Italien war mit der Machtübertragung an den Faschismus (1923) – nach der Bewegung der Fabrikbesetzungen („biennio rosso“), den „zwei roten Jahren“ (1919-1920) – gleichsam vorangegangen. Der Faschismus war auch die politische Reaktion des alten herrschenden Blockes auf die Potentiale der proletarischen Revolution und natürlich auf die russische Oktoberrevolution. Gramsci notierte: „Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallertenhaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis, und beim Wanken des Staates gewahrte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war also nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand; von Staat zu Staat mehr oder weniger aber gerade dies verlangt eine genaue Erkundung nationaler Art“[4]. Daraus leitet sich letztlich auch die Unterscheidung zwischen der Revolution im Osten und der im Westen ab. Dort, wo die Zivilgesellschaft kaum entwickelt ist, im Osten, richtet sich der Bewegungskrieg direkt auf die Eroberung der Staatsmacht; diese wiederum – als Diktatur – muss gleichsam den Bestand der Revolution sichern. Im Westen hingegen, wo die Zivilgesellschaft (einschließlich der demokratischen Traditionen und Institutionen) auch ein Ergebnis des Klassenkampfes und des Wirkens der demokratischen Kräfte ist, muss in einem langwierigen Stellungskrieg die Hegemonie der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten in der Zivilgesellschaft als Voraussetzung der Eroberung der Staatsmacht errungen werden. Dieser „Stellungskrieg“ hat freilich auch den Reformismus begünstigt – insofern tritt die Frage der Dialektik von Kämpfen um Reformen mit dem Ziel der Transformation der Eigentums- und der politischen Machtverhältnisse ins Zentrum der strategischen Überlegungen.
Rekapitulieren wir kurz die wichtigsten Determinanten der Niederlage in Deutschland:
Erstens muss die „Unreife“ der revolutionären Kräfte, ihre mangelnde Hegemoniefähigkeit genannt werden. Diese umschloss auch Defizite der politischen Führung und Orientierung – vor allem im Verhältnis zwischen Massenbewegung und Organisation. Das Zögern mit der Spaltung der SPD, das Chaos in der jungen KPD usw. Abendroth zählt dazu auch die – wie er sagt – „wunderlich widerspruchsvollen Beschlüsse des Ersten Allgemeinen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands“ vom 16.-21. Dezember 1918 in Berlin. Er führt sie auf den Einfluss der MSPD auf die Mehrheit der Delegierten zurück.
Zweitens muss die große Gewaltbereitschaft (und die Härte) berücksichtigt werden, mit der die Kräfte der Gegenrevolution (aus der Armee, aus dem Staatsapparat, aus den Wirtschaftsverbänden, aus den Parteien der nationalistischen und konservativen Rechten, aus den Kirchen) die Revolution zu unterdrücken bereit waren. Ihre Gewalt richtete sich gegen zahlreiche prominente Vertreter der Linken – Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren nur die prominentesten Opfer dieser Mörderbanden! Später kamen die Morde an den Vertretern der Weimarer Demokratie – Erzberger und Rathenau – hinzu. Es bestätigte sich wieder einmal eine Erfahrung aus den französischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts – vor allem bei der Niederschlagung der Pariser Kommune. Die siegreiche Konterrevolution wandte stets ein Vielfaches an Gewalt gegen die Revolutionäre an – im Vergleich zu den Gewaltakten der Revolution, denen die Konservativen immer das Etikett des „Terrorismus“ anzuheften versuchten. Dass die Anführer der konterrevolutionären Truppen beim Volk oftmals den Beinamen „der Schlächter“ (von Paris, zum Beispiel) erhielten, verdeutlicht nur diese einfache Wahrheit.
Die Bereitschaft zur gewaltsamen Niederschlagung der Revolution (und zur Aufhebung der Demokratie) markiert gleichsam die Grundlinie der politischen Orientierung des „herrschenden Blockes“ in Deutschland nach 1917. In der Anfangsphase der Weimarer Republik wurden diese Kräfte noch ausgebremst, sofern die Linke und die Arbeiterbewegung zur Zusammenarbeit und zur gemeinsamen Aktion fanden - etwa beim Generalstreik gegen den Kapp-Putsch im Jahre 1920. Während und nach der Weltwirtschaftskrise nach 1929 verband sich – auch als Reaktion auf die erneute Furcht vor der proletarischen Revolution – der Abbau der Demokratie (über die Präsidialkabinette), das Drängen der Wirtschaftseliten auf den Abbau sozialpolitischer Errungenschaften der Weimarer Republik mit dem Aufstieg der NSDAP – nicht nur bei Wahlen, sondern in den Gewalttaten der SA, in denen sich die Traditionen der Freikorps aus den Jahren 1918-1920 fortsetzten. Das faschistische Herrschaftssystem – die Gewalt, die gegen Juden, Sinti und Roma auf der einen, Demokraten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten auf der anderen Seite ausgeübt wurde – verstand sich als legitimer Sachwalter der deutschen Konterrevolution am Ende des Ersten Weltkrieges.
Schließlich muss drittens auf die Rolle der Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie eingegangen werden. Die Spaltung der Sozialdemokratie hatte natürlich eine Vorgeschichte, die vor das Jahr 1914 zurückreicht. Seit der Zustimmung der Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten im August 1914 – danach stellte sich die Sozialdemokratie (bzw. ihr rechter Flügel) an die Seite der Kriegsparteien – war die Spaltung unvermeidlich geworden. Die heutige sozialdemokratische Geschichtsschreibung preist Friedrich Ebert und seine Gefolgsleute als Bannerträger der Demokratie gegen die Diktatur (gegen die Monarchie ebenso wie gegen die „Diktatur nach sowjetischem Vorbild“). Dabei wird aber oftmals ausgeblendet, dass das Engagement und die Zusammenarbeit von Ebert, Noske u.a. mit den Vertretern der alten Ordnung (zum Beispiel mit der Obersten Heeresleitung während des Krieges und der Novemberrevolution) eindeutig auf die Niederschlagung der Linken gerichtet waren. Damit wurde faktisch jener Konterrevolution zugearbeitet, die dann nicht nur das Ansehen Eberts in den Dreck zog, sondern auch die Republik und die Sozialdemokratie (1933) vernichtete.
Das Bild von der Sozialdemokratie als „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“, das der Sozialdemokrat und Gewerkschafter Fritz Tarnow 1931 – bei der Debatte über den Kampf gegen die Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit – als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise entworfen hatte, ist – auch im Blick auf manche gegenwärtige politischen Auseinandersetzungen, allgemeiner als Problem der richtigen Bewertung reformistischer Politik – nicht von vornherein zu verwerfen. Dennoch, wer sich in Krisenzeiten an der Reparatur des Kapitalismus beteiligt, muss immer damit rechnen, dass er nach der Überwindung der Krise von den wieder erstarkten Kräften der Reaktion „erwürgt“ wird. Auf jeden Fall bleibt die Verantwortung der Sozialdemokratie – genauer: der Führung der MSPD – für die Ermordung nicht nur von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, sondern für den Einsatz von Truppen gegen demonstrierende Arbeiter (etwa bei der Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes 1920), für die Niederwerfung der Räterepublik (z. B. in München), für die militärischen Aktionen gegen die Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen usw. usf. Diese Entscheidungen und Ereignisse trugen dazu bei, die Spaltung in der Arbeiterbewegung zur teilweise hasserfüllten Konfrontation zu steigern. Diese hielt während der gesamten Republik an und wurde immer wieder neu entfacht. Damit wurde zugleich eine Bedingung für den Sieg des Faschismus im Jahre 1933 geschaffen. Und auch dies muss hinzugefügt werden: Die Generation derer, die nach 1945, genauer: nach 1949 in der DDR die Macht ausübten, waren nicht nur durch die Erfahrungen mit dem deutschen Faschismus, sondern eben auch durch die Niederlage der Novemberrevolution – und das heißt auch, durch die Rolle der Sozialdemokratie – geprägt.
Immerhin hat das „Prager Manifest“ des (nach 1933 ins Exil vertriebenen) Parteivorstandes der SPD im Jahre 1934, das Wolfgang Abendroth stets in die Reihe der sozialdemokratischen Parteiprogramme gestellt hat, von schweren historischen Fehlern der Sozialdemokratie in der Novemberrevolution gesprochen. Allerdings verzichteten seine Autoren – darunter Rudolf Hilferding – darauf, z. B. das persönliche Versagen Eberts oder die Rolle des „Bluthundes“ Gustav Noske bei der Zusammenarbeit mit der Obersten Heeresleitung bzw. mit der Reichswehr bei der Niederschlagung der Revolution zu benennen. Das „Prager Manifest“ stellte u. a. fest: „Der politische Umschwung von 1918 vollzog sich am Abschluss einer konterrevolutionären Entwicklung, die durch den Krieg und die nationalistische Aufpeitschung der Volksmassen bedingt war. Nicht durch den organisierten, vorbereiteten, gewollten, revolutionären Kampf der Arbeiterklasse, sondern durch die Niederlage auf den Schlachtfeldern wurde das kaiserliche Regime beseitigt. Die Sozialdemokratie als einzig intakt gebliebene organisierte Macht übernahm ohne Widerstand die Staatsführung, in die sie sich von vornherein mit den bürgerlichen Parteien, mit der alten Bürokratie, ja mit dem reorganisierten militärischen Apparat teilte. Dass sie den alten Staatsapparat fast unverändert übernahm, war der schwere historische Fehler, den die während des Krieges desorientierte deutsche Arbeiterbewegung beging. Die neue Situation (nach 1933) schließt jede Wiederholung aus!“
Diese Widersprüche, die in der Niederlage der Revolution aufgebrochen sind, haben die deutsche Geschichte – und namentlich die Geschichte der Arbeiterbewegung – über einen langen Zeitraum bestimmt. Sie wirken am Ende des zweiten Weltkrieges, als nach dem Sieg über den Faschismus – aber in ganz anderen internationalen Machtkonstellationen – eine neue Periode der „Revolution“, d.h. der antifaschistisch-demokratischen Neuordnung, eröffnet wurde. Sie wirken durch die Geschichte der DDR, indem sie sich in das Bewusstsein ihrer kommunistischen Führungsgruppen eingeprägt hatten. In der Geschichte der BRD manifestiert sich der Geist der Konterrevolution, des Antisozialismus und des Antikommunismus, im KPD-Verbot und den Kommunistenverfolgungen der 50er und 60er Jahre und sie manifestierten sich in den verschiedenen Reaktionen des Staates und der ihn tragenden Parteien auf das Wiedererstarken der Linken im Gefolge von 1968 (Politik der Berufsverbote, „Krieg gegen den Terrorismus“ in den 70er Jahren). Nach 1989 schließlich konstruiert der herrschende Block für das 20. Jahrhundert ein Geschichtsbild und ein Geschichtsbewusstsein, nach dem die Geschichte des Sozialismus und Kommunismus kriminalisiert – auf eine Stufe mit den Verbrechen des Faschismus – gestellt wird. Die Erinnerung an die Novemberrevolution, an ihre Errungenschaften und an ihr Scheitern, ist demnach auch Moment jenes ideologisches Klassenkampfes, in dem die Verbrechen des Kapitalismus – und namentlich die der deutschen Bourgeoisie und anderer Fraktionen des herrschenden Blockes – in vermeintliche Siege der Demokratie und der Menschenrechte umgedeutet werden.
Revolutionen im 21. Jahrhundert?
Es ist natürlich nicht einfach, über die Rekonstruktion der Legitimität der Revolution in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zum Begriff der Gegenwart oder gar zum Begriff der Revolutionen des 21. Jahrhunderts zu gelangen. Die Revolutionen des 20. Jahrhunderts waren durch die Katastrophen des Kapitalismus – Weltkriege, imperiale und koloniale Herrschaft, Weltwirtschaftskrise, Faschismus – bestimmt. Seit 1917 – vor allem nach 1945 – gab es die Systemkonkurrenz, die mit dem Kalten Krieg die Widersprüche in den jeweiligen Systemen gleichsam „einzementierte“ – und an die Peripherie der so genannten „Dritten Welt“ verlagerte. Im 20. Jahrhundert – zumindest im Zeitalter der Katastrophen, der so genannten Zwischenkriegsperiode – waren die Revolutionen bzw. die revolutionären Bewegungen durch Massenbewegungen und Massenorganisation der Arbeiterklasse – genauer: von Teilen der Arbeiterklasse – bestimmt. Vieles von diesen Bedingungen und von den Organisationsformen dieses Kampfes ist inzwischen historisch geworden – die alte Arbeiterbewegung mit ihrem revolutionären Flügel gibt es als reale Kraft nicht mehr und sie wird wohl auch (zumindest in den alten Formen) nicht wieder auferstehen.
Marx schrieb im Vorwort des „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852): „Bürgerliche Revolutionen, wie die des 18. Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich [...] Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des 19. Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend, in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze“ (MEW 8: 118).
Die sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts bewirkten nachhaltige und dauerhafte Veränderungen: Die „zweite Kommune“, die mit der russischen Oktoberrevolution begründet wurde, bestand immerhin mehr als 70 Jahre. Sie strahlte in die gesamte Welt aus: als Fanal für die Befreiungsbewegungen an der Peripherie, als Herausforderung für die Kapitalmetropolen, aber auch als Belastung für die Arbeiterbewegung in den Metropolen des Kapitalismus. Die chinesische Revolution, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts begann und im Jahre 1949 siegte, bildet die historische Voraussetzung für den Aufstieg der Volksrepublik China zu einer wirtschaftlichen und politischen Weltmacht am Anfang des 21. Jahrhunderts. Kuba begeht im Januar 2009 den 50. Jahrestag seiner Revolution – und selbst Gegner des Regimes bewundern die Brüder Castro stellvertretend für die politische Führung des Landes, das dem Druck der USA, den Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion standgehalten hat und den Prinzipien der Revolution treu geblieben ist. Um zu überleben, haben diese Revolutionen Maßnahmen ergriffen (Aufbau einer gewaltigen Militärmaschine, Unterdrückung der Demokratie, Entwicklung eines kapitalistischen Sektors in der Ökonomie), die auch eine Dialektik des Niedergangs der Revolution – bzw. des Zusammenbruchs der Sowjetunion – eingeleitet haben. Gleichzeitig fanden diese Revolutionen in Ländern bzw. in Regionen statt, in denen die kapitalistischen Produktionsverhältnisse (und die ihnen entsprechenden Sozialstrukturen) keineswegs vollständig entwickelt waren – im Gegenteil, es handelte sich um so genannte „unterentwickelte“ Gesellschaften. Auch im 21. Jahrhundert wird in den Ländern der Peripherie mit Massenarmut die soziale und politische Revolution, die die einheimischen Oligarchien entmachtet und sich aus der Abhängigkeit von den Internationalen Konzernen und den Finanzinstitutionen löst, auf der Tagesordnung bleiben. Wie die Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts in Lateinamerika zeigt, sind die Methoden und Wege einer solchen Emanzipation im Interesse der Volksmassen äußerst unterschiedlich.
Im 21. Jahrhundert wären – nach der Vorstellung von Marx – Revolutionen in den Metropolen des Kapitals nur möglich, sofern eine „Situation“ geschaffen ist, „welche jede Umkehr unmöglich macht“. Natürlich können wir gegenwärtig nicht sagen, welche „Situation“ dies genau sein könnte. Die „Verhältnisse“, die solche Situationen möglich machen, resultieren aus dem Widerspruch, dass auf der einen Seite – aufgrund der Produktivkraftentwicklung – die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung enorm zugenommen haben (damit werden die objektiven Bedingungen für die Erweiterung individueller Freiheit optimiert), während die Logik der Kapitalverwertung und der Profitproduktion auf der anderen Seite diese Möglichkeiten systematisch einschränkt und negiert: Durch die Polarisierung der Einkommen und Vermögen, durch die Massenarbeitslosigkeit und die wachsende Armut der Prekären und Marginalisierten, durch die allgemeine Unsicherheit, die die Menschen ergreift, durch die Krisen, die die Menschen mit der Gefahr des Absturzes konfrontieren, aber auch durch den Abbau demokratischer Rechte, die Anwendung von Gewalt nach innen und außen (als eine Barbarisierung der Weltpolitik, die seit „Nine Eleven“ beständig zugenommen hat).
Diese Widersprüche haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten viele Menschen betroffen. Sie haben jedoch nicht – wie wir wissen – zur Entwicklung revolutionärer Bewegungen geführt. Die große Mehrheit denkt und verhält sich nach wie vor systemkonform oder gleichgültig, was allerdings auch eine Folge der tiefen Krise sozialistischer und kommunistischer Organisationen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist. In Lateinamerika hingegen haben die Verwüstungen, die die Militärdiktaturen der 70er Jahre und der Neoliberalismus seit den 80er Jahren ökonomisch und politisch angerichtet haben, Bewegungen und eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse nach links ausgelöst, die sich ebenfalls nicht bruchlos als Fortführung der klassischen revolutionären Bewegungen und Erfahrungen bestimmen lassen – wenn sie sich zum Beispiel im Rahmen der politischen Formen der parlamentarischen Demokratie bewegen. Auf jeden Fall werden tiefgreifende Funktionsstörungen der kapitalistischen Systeme – ökonomisch, politisch und kulturell – für die Formierung von systemkritischen Bewegungen und Organisationen eine wichtige Rolle spielen. Die gegenwärtige Krise des Finanzmarktkapitalismus liefert erste Hinweise darauf, wie sich solche systemischen Funktionsstörungen (in komplexen Gesellschaftssystemen) in rasender Geschwindigkeit auf andere Subsysteme auswirken.
Insofern befinden wir uns – wenn wir den Stellungnahmen bürgerlicher Ideologen glauben wollen – an einer Bruchstelle in der Entwicklung des Kapitalismus von welthistorischer Bedeutung. In welche Richtung sich allerdings die Krisenüberwindungsstrategien entwickeln werden, das hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab – vor allem aber auch davon, ob es Massenproteste gegen die Folgen der Krise und deren Bewältigung im Interesse der Kapitalverwertung gibt und ob es der kapitalismuskritischen Linken gelingt, sich zu erneuern, Kraft zu entwickeln und auf die Entwicklung der Kräfte- und Machtverhältnisse tatsächlich einzuwirken. Diese Entwicklung des „subjektiven Faktors“ entscheidet letztlich darüber, ob solche „Situationen“ tatsächlich einen revolutionären Charakter gewinnen. Schon der Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme hatte übrigens den Gedanken nahegelegt, dass dieser Zusammenbruch eher der Logik der Involution als der einer Revolution folgt.
Das heißt: Das System bricht zusammen, ohne dass die „herrschende Klasse“ (in diesem Fall die Staatsklasse) dem – und den Volksbewegungen – massiven Widerstand entgegensetzt. Es sind die systemischen Funktionsstörungen, die den schleichenden Prozess des Niedergangs eingeleitet haben und die letztlich auch beim Zusammenbruch des politischen Systems dominant bleiben. In den Revolutionen des 19. und 20. Jahrhunderts hingegen explodierten die inneren Widersprüche nach außen, an die Oberfläche – eben in der Form revolutionärer Massenbewegungen und der Gewaltanwendung zum Sturz des Ancien Regime. Heute wäre wohl – ohne dass schon eine relevante Gegenbewegung vorhanden wäre – vor allem für die USA eine Konstellation vorstellbar, in der sich eine solche Tendenz zur Involution entwickeln könnte. Das Herrschaftssystem des US-Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass sich zugespitzte soziale Widersprüche nicht in kapitalismuskritischen sozialen und politischen Bewegungen/Organisationen artikulieren. Dabei spielt auch die Fragmentierung der Arbeiterklasse und der subalternen Klassenfraktionen durch Migration und Rassismus eine zentrale Rolle für die Neutralisierung des Prozesses der Formierung individueller und kollektiver revolutionärer Subjekte. Involution als systemische Funktionsstörung wäre daher heute verbunden mit dem Zusammenbruch der Infrastruktur, der Verslummung der Großstädte[5], den wachsenden Müllbergen, Staus im Autoverkehr und der Ausbreitung psychischer Krankheiten sowie der Alltagskriminalität. Hier verbindet sich die soziale Krisentendenz des Kapitalismus mit der Krise der Mensch-Natur-Beziehungen. Die Umweltkatastrophe verschmilzt mehr und mehr den Lebensverhältnissen der Armut und der Marginalität, nicht nur in der sog. „Dritten Welt“.
All diese Fragen erfordern eine genaue Analyse der heutigen Organisationsformen komplexer Gesellschaften sowie der Spezifik des Funktionierens der Mechanismen von Herrschaft und Macht im gegenwärtigen Kapitalismus. Auf diesem Gebiet gibt es also für die Intellektuellen viel zu tun. Auf jeden Fall wird jede Reflexion über die Bedingungen, die Möglichkeit und die Notwendigkeit der antikapitalistischen sozialen Revolution im 21. Jahrhundert das Niveau der Globalisierung kapitalistischer Vergesellschaftung in Rechnung zu stellen haben.
Damit stellen sich auch zahlreiche Fragen hinsichtlich des „revolutionären Subjekts“, die keineswegs mit dem Hinweis auf die nationalen Arbeiterklassen in den Kapitalmetropolen beantwortet werden können. Die Foren der globalisierungskritischen Bewegung (seit Porto Alegre 2001) haben zumindest Hinweise auf die – im globalen Maßstab – vielfältige soziale und kulturelle Zusammensetzung des Blocks der „Subalternen“ vermittelt, die sich kritisch mit Neoliberalismus und Kapitalismus auseinandersetzen. Die Aufgabe politischer Organisationen würde gerade darin bestehen, den inneren Zusammenhang – bezogen auf die Kritik des Kapitalismus und die Alternativen – zwischen den verschiedenen Erfahrungswelten, die hier einander begegnen, herzustellen, ins Bewusstsein zu heben und strategisch zu orientieren.
Geschichtliche Lektionen?
Die praktische Bearbeitung dieser Fragen liegt auf den ersten Blick weit in der Zukunft. Ihre theoretische Bearbeitung beginnt freilich schon mit der kritischen Aneignung der Geschichte der sozialen Revolutionen und der Revolutionsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Erinnerung an die Novemberrevolution – das sei abschließend noch einmal betont – vermittelt dabei drei wichtige historische Lektionen, die gewiss auch perspektivisch von Bedeutung sein werden:
Die Massenaktionen der Arbeiter haben den imperialistischen Krieg (und das Massensterben) beendet. Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg und gegen den Militarismus war – hatte er erst einmal Erfolg – gleichsam die Eröffnung des Kampfes um die Veränderung der Machtverhältnisse im Staat, in der Gesellschaft und in der Wirtschaft.
Die Revolutionsbewegungen am Ende des Ersten Weltkrieges haben umfangreiche (und zum Teil sehr konkret ausgearbeitete) Programme für die Sozialisierung, also für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und deren Kontrolle durch die gesellschaftlichen Produzenten, entwickelt. Das Scheitern der staatssozialistischen Systeme – mit der zentralisierten Planung und dem Staatseigentum – verlangt also auch eine kritische Aufarbeitung der Frage, welche Bedeutung der demokratischen Planung, der Vergesellschaftung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft für zukünftige Sozialismusprojekte zukommen wird.
Die Rätebewegung setzte sich für ein radikales Modell der plebiszitären Demokratie ein. Die Rolle der Räte (auch ihrer Widersprüche; denn sie sind nicht per se revolutionär) muss historisch konkret aufgearbeitet werden. Diese Geschichte vermittelt stets Erkenntnisse über Modelle der Demokratie, die durch Formen der Selbstverwaltung und der Partizipation „von unten“ gekennzeichnet sind.
[1] In Deutschland dagegen kann der Schriftsteller Martin Mosebach bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, einem der höchsten Literaturpreise dieses Landes, im Jahre 2007 den französischen Revolutionär Saint-Just, der radikaler Demokrat war und maßgebend an der demokratischen Verfassung von 1793 mitgewirkt hatte, mit dem SS-Führer Heinrich Himmler in Beziehung setzen. Mosebach ist bekennender katholischer Traditionalist und damit (nach eigener Aussage) „Reaktionär“. In seiner Rede ging er auf Büchners „Dantons Tod“ ein und nannte Saint-Just, der auch die „Terreur“ gerechtfertigt hatte, im gleichen Atemzug mit Heinrich Himmlers Rede über „SS-Moral“. Saint-Just war radikaler Vorkämpfer für das Programm der Volkssouveränität. Mosebach wiederholt nur, was primitivste Varianten der Totalitarismustheorie im Kalten Krieg am Beispiel der politischen Theorie von Rousseau unterstellten: radikale (plebiszitäre) Demokratie – verbunden mit radikaler Kritik an bestehender sozialer Ungleichheit – führte zum Terrorismus, d.h. letztlich zum Kommunismus. Mosebach kann als katholischer Traditionalist diesen Strang der Geschichte der Demokratietheorie und der Revolution nur mit Schrecken betrachten; denn stets befand sich die katholische Kirche (seit der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution) auf Seiten der Reaktionäre, die gegen die Revolution und gegen die Demokratie kämpften. Herr Mosebach vergaß auch zu erwähnen, dass die Faschisten in der Zwischenkriegsperiode (in Kroatien, in Ungarn, in der Slowakei, in Polen, in Spanien und Portugal, aber auch in Italien und im Deutschen Reich) stets den Segen der Päpste und ihrer nationalen Bischöfe hatten, wenn sie mit Gewalt und Terror gegen die „Ungläubigen“, d.h. gegen die Bolschewisten, vorgingen. Mosebachs Auslassungen waren nicht besonders überraschend. Dass er freilich den höchsten Literaturpreis, der einem deutschen Vormärz-Revolutionär und dem Verfasser des „Hessischen Landboten“ gewidmet ist, erhält, reflektiert den geistigen Zustand der Elite unseres Landes ebenso wie das Bemühen des FAZ-Feuilletons, die Rede von Mosebach als „Jahrhundertrede“ hochzujubeln.
[2] „Die iranische Revolution war die erste, die unter dem Banner des religiösen Fundamentalismus stattfand, siegte und das alte Regime durch eine populistische Theokratie ersetze, deren erklärtes Ziel die Rückkehr zum 7. Jahrhundert nach Christus beziehungsweise, da es hier ja um ein islamisches Milieu geht, zur Zeit nach der Hedschra und Niederschrift des Heiligen Korans“ (E. Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, München 1998, S. 565).
[3] Man stelle sich vor, der Zweite Weltkrieg wäre 1943/44 durch Massenstreiks der deutschen (genauer: der europäischen) Arbeiterklasse beendet worden (nach dem Vorbild der Massenstreiks der norditalienischen Arbeiter). Millionen Menschenleben wären gerettet worden – der Völkermord der Faschisten an den Juden , aber auch die '“Ausrottung“ slawischer „Untermenschen“ wäre zumindest vorzeitig beendet worden.
[4] A. Gramsci, Gefängnishefte, Hamburg 1991f., S. 874
[5] Vgl. dazu M. Davis, Planet of Slums, London/New York 2006.