Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49, Bd. 3, Hrsg. Walter Schmidt, FIDES Verlag, Berlin 2010, 788 S., 68,50 Euro
Im marxistischen Denken hatte sie immer eine Schlüsselstellung, die Revolution von 1848/49. Sie diente als Material politischer Analyse und als Folie strategischer Überlegungen. Die Erinnerung an diese Revolution schulte das historische Selbstverständnis der Arbeiterbewegung. Die akademische Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland hatte lange Zeit ein eher distanziertes Verhältnis zu diesem Gegenstand. Noch 1970 musste der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann anlässlich der Schaffermahlzeit in Bremen mahnen, das Thema nicht allein der DDR-Geschichtswissenschaft zu überlassen.[1] Seitdem ist die Forschung zur Revolution von 1848/49 weit vorangeschritten und die vorliegende Literatur nur noch schwer zu überschauen. Zu den bemerkenswerten Unternehmen auf diesem Gebiet zählt, den Akteuren dieser Zeit ein Gesicht zu geben, ihren Lebensläufen und Schicksalen nachzuspüren. Autoren um den Herausgeber Walter Schmidt haben nun schon den dritten biografischen Sammelband vorgelegt. Der erste Band dieser Reihe[2] ist inzwischen bereits vergriffen, was für das Unternehmen spricht. Das Projekt unter dem Schirm der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin ist umso bemerkenswerter, da es ohne großzügige Förderung auskommen muss.
Der Band 3 vereint 17 Lebensporträts aus der Feder von 15 Autor(inn)en, wenn man die bei Ludmila Assing integrierte kurze Skizze zu Varnhagen von Ense mitzählt. Allein die in den Anmerkungen dokumentierte akribische Spurensuche nötigt Respekt ab. Jeder, der schon einmal mit ähnlichen Recherchen beschäftigt war, wird wissen, wie schnell sich die Spuren von Personen verwischen, die nicht weit oben in der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelt waren, obwohl sie für kurze oder längere Zeit Geschichte mit gestaltet haben. Mit dem 3. Band liegen nun insgesamt 60 Biografien vor. Die Mehrzahl davon ist das erste Mal gründlich biografisch erforscht worden. Es gehört zu den Stärken aller drei Bände, dass Vertreter aller politischen Richtungen erfasst und auch Frauenporträts vorgestellt werden, die bisher leider zu wenig Aufmerksamkeit fanden.
Der Band beginnt mit Ludmilla Assing (1821-1880), der Nichte Varnhagen von Enses, die mit der Veröffentlichung seines Nachlasses die Erinnerung an die Revolution wach hielt. Preußen bedachte sie dafür mit Prozessen. Zeit ihres Lebens blieb sie nach eigenem Bekunden „dem Fortschritt und der Freiheit verbunden“ (45). Zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zählte u. a. Emma Herwegh (1817-1904), die sich „über alle konventionellen Grenzen“ hinwegsetzte (259), Fäden der Konspiration knüpfte und weit mehr war als nur Partnerin an der Seite ihres Dichtergatten. Etwas anders gelagert die Schriftstellerin Fanny Lewaldt (1811-1889), die als Sympathisantin und präzise Beobachterin an die Orte des Revolutionsgeschehens und seiner Nachwirkungen in Frankreich, Deutschland und Italien reist, um unmittelbar mitzuerleben und zu beschreiben. Dabei kommt sie auch in Berührung mit der sich formierenden Arbeiterbewegung und etlichen ihrer Protagonisten. Gemeinsam war allen, sich aus Zwängen des überlieferten Frauenbildes befreien zu müssen. Wer die Frauenporträts nacheinander liest, wird typische Gemeinsamkeiten, aber auch manche differenzierende Nuancen im Netzwerk der handelnden Personen erkennen.
Doch auch „Männer der Revolution“, die in nahezu jedem Standardwerk erwähnt werden, lohnen intensivere biografische Ermittlung. Dies wird u. a. an Julius Stein (1813-1889) deutlich, dessen Motive und Handlungen in den Auseinandersetzungen um Demokratie und die Souveränität der gewählten Versammlung mit viel Liebe zum Detail nachgezeichnet ist. Ähnliches gilt für Adolf Streckfuß (1823-1895).
Nur selten ist im Blickfeld, dass etliche Akteure des Revolutionsgeschehens sich neben ihrem politischen Engagement auch auf anderen Gebieten bleibende Verdienste erwarben. Als Beispiel kann Max Joseph Becker (1828-1896) gelten, der in der Reichsverfassungskampagne auf der Seite der Revolution focht, sich später in den USA als erfolgreicher Eisenbahnbauingenieur einen Namen machte und zum Präsidenten der „American Society of Civil Engineers“ aufstieg. Ebenfalls im vorliegenden Band vertreten ist Hermann Brehmer (1828-1889). Diesem schlesischen Radikaldemokraten verdankt Deutschland entscheidende Anstöße für die moderne Tuberkulosebehandlung, die noch lange Zeit die Volkskrankheit Nr. 1 bleiben sollte. Der demokratische Studentensprecher und Jurastudent Paul Börner (1829-1885) begegnet uns nach der Revolution als Arzt, Verfechter medizinischer Reformen, Sprecher der Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege und Redakteur der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ wieder. Auch Hans Victor von Unruh (1806-1886) ist nicht nur als liberaler Politiker hervorgetreten. Sein Ruf als Unternehmer und Pionier des Eisenbahnbaus steht dem als Präsident der Preußischen Nationalversammlung und Mitbegründer der Fortschrittspartei nicht nach.
Von den Biografien aus unterschiedlichen und teilweise verfeindeten Lagern seien noch die Studien der kürzlich verstorbenen Historiker Harald Müller und Rolf Dlubek erwähnt. Müller geht dem „Missverhältnis zwischen Wollen und Wirken“ im Leben des reformkonservativen Ratgebers Christian Karl Josias von Bunsen (1791-1869) nach. Dlubek widmet sich Julius Standau (1817-1869), einem Geheimbündler und Vertreter der frühen Arbeiterbewegung, der später als Major im amerikanischen Bürgerkrieg kämpfte. Mit Johann Adam von Itzstein (1756-1855) wird der Bogen von der Mainzer Republik zur Demokratiebewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts und mit Emil Oscar Weller (1813-1886) eine Brücke zwischen 1848 und der Sozialdemokratie geschlagen.
Ärgerlich, dass die Lebensdaten im Inhaltsverzeichnis in einigen Fällen (Assing, Herwegh) nicht mit denen in den Beiträgen übereinstimmen. Auch die vielen im Satzspiegel verstreuten Worttrennungen wären zu vermeiden gewesen. Diese kleinen technischen Mängel beeinträchtigen den Gewinn der Lektüre insgesamt aber nicht.
Wer Interesse an quellengesättigten, differenzierten Beschreibungen verschlungener und oft sogar abenteuerlicher Lebenswege hat, dem sei diese biografische Sammlung empfohlen. Der aufmerksame Leser wird ein ganzes Panorama gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse der Vormärz- und Märzzeit sowie des Nachhalls der Revolution entdecken. Wer Lust auf mehr hat, kann – wie aus Herausgeber- und Autorenkreisen zu erfahren ist – vermutlich in nächster Zeit mit einem neuen, dem vierten Band rechnen. Stoff dafür gibt es noch in Fülle.
Jürgen Hofmann
[1] Gustav W. Heinemann: Die Geschichtsschreibung im freiheitlich demokratischen Deutschland, in: Bulletin der Bundesregierung vom 17.2.1970.
[2] Helmut Bleiber/Walter Schmidt/Susanne Schötz (Hrsg.): Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49, Bd. 1, Berlin 2003 und Bd. 2, Berlin 2007.