Mit der Darstellung der Bundesrepublik 1949-1999 schließt Hans-Ulrich Wehler seine fünfbändige Deutsche Gesellschaftsgeschichte ab. [1] Diese sollte seinen strukturhistorischen Ansatz, den er seit Jahrzehnten dem vorher in Deutschland gepflegten Primat der Ereignis-, Geistes- und Organisationsgeschichte entgegensetzt, realisieren. Auch für den fünften Band unternahm er es, „in großzügiger, keineswegs philologisch strenger Anlehnung an Max Webers Überlegungen, von der relativ abstrakten Triade von Wirtschaft, Herrschaft und Kultur sowie, als Überschneidungsprodukt dieser Dimensionen, von Sozialer Ungleichheit als den vier maßgeblichen Achsen der gesellschaftlichen Entwicklung bei der Konstruktion einer Synthesekonzeption auszugehen.“ Andere Themen, die in der Aufzählung nicht genannt werden, fügen sich in dieses Muster ein, darunter die „Turbulenzen der Bevölkerungsgeschichte“, dem sich ein eigenes Kapitel annimmt.
Besonderes Interesse verdienen Wehlers Ausführungen über „Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse der Sozialen Ungleichheit“. Sie bieten zugleich einen Überblick über die Forschungsgeschichte zu diesem Gegenstand. Wehler bekennt sich zu einer „flexiblen, etwa auf Max Webers Überlegungen basierenden Klassentheorie“ und kritisierte, dass von dieser in den 1950er und 60er Jahren „keiner ausgehen“ wollte, „nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil der Klassenbegriff wegen der marxistischen Konnotationen, die er in der deutschen politischen Semantik mit großer Zählebigkeit behalten hat, geradezu stigmatisiert blieb.“ Im Ergebnis dieser Vermeidung habe die westdeutsche Soziologie sich auf „die weniger anspruchsvolle ‚Selbsteinschätzung’ der Befragten ihrer repräsentativen Samples“ verlassen. Die – von ihm so genannte – „neomarxistische Strömung“ verfällt ebenfalls der Ablehnung: „Sie stimmte zwischen der Mitte der 60er und der Mitte der 70er Jahre in einer überwiegend dogmatischen Form das alte Lied des orthodoxen Marxismus über eine winzige herrschende Klasse einflussreicher Kapitalisten und den unausweichlichen Konflikt zwischen dem Bürgertum und dem diskriminierten Massenproletariat an. Die Weiterentwicklung der Klassentheorie durch Max Weber und Theodor Geiger, Pitirim Sorokin und John Goldthorpe wurde entweder ignoriert oder mit arrogantem Gestus als irrelevant abgetan. Die Rückkehr zu Marx als Erzvater der einzig wahren Theorie galt dieser eigentümlichen Renaissance einer antiquierten Lehre als unverzichtbarer Heilsweg. Nur wenige Soziologen stemmten sich – nüchtern, sachkundig und mit kühlem Kopf wie etwa Ralf Dahrendorf – der Modeströmung öffentlich entgegen.“ Eine Fußnote nennt als kritisierte Texte u.a. „Institut für Marxist. Studien u. Forschungen Hg., Klassen- u. Sozialstruktur der BRD, 3 Bde. Frankfurt 1973–1975; Projekt Klassenanalyse. Materialien zur Klassenstruktur der BRD 1950–1970, 2 Bde, Berlin 1973/74“ sowie „K.H. Tjaden und M. Tjaden-Steinhauer, Klassenverhältnisse im Spätkapitalismus, Stuttgart 1973“. Ein Vergleich des Inhalts und der Argumentation der genannten Arbeiten mit Wehlers Pauschalurteil könnte vielleicht den zuweilen hinter vorgehaltener Hand geäußerten Zweifel, ob er denn alle Schriften, deren Titel er in breiten Fußnotenwolken darbietet, wirklich gelesen habe, nähren. Wehler findet, dass die nachfolgende Hinwendung der Soziologie zu Schichtungsmodellen keinen Aufschwung brachte und „daß die jüngste Ungleichheitsforschung ziemlich matt verlief.“ Die „kulturalistische Wende“ der deutschen Soziologie seit der Mitte der 1980er Jahre behandelt er mit nachvollziehbarem Spott. Ulrich Beck erscheint bei ihm als „einflussreichster Prophet der Individualisierungs- und Pluralisierungslehre“. Wehler hält ihr vor: „Denn in einem eigentümlichen Zustand intellektueller Schizophrenie nahm die neue Strömung die gleichzeitig ermittelten Befunde der empirischen Sozialforschung, welche auf vielen Gebieten die beharrliche Persistenz der vertikalen Ungleichheit, überhaupt die Überlebenskraft der Sozialhierarchie nachwies, nicht angemessen zur Kenntnis.“ Unter Benutzung der Terminologie von Pierre Bourdieu und gestützt u.a. auf die Arbeiten von Michael Hartmann kann er dann tatsächlich eindrucksvoll eine zentrale These belegen: Die Geschichte der Bundesrepublik war eine Geschichte zunehmender Ungleichheit. Mit süffisanter Empathie zeichnet Wehler die Hartnäckigkeit, Findigkeit, habituelle Geschicklichkeit und Netzwerkfähigkeiten auf, mit denen das Bürgertum in der Bundesrepublik sich reproduziert und nach unten hin nicht nur sichert, sondern zusehends abhebt. Zu den Kabinettsstücken der Darstellung gehört ein Abschnitt „Die klassenspezifischen Heiratsmärkte: Soziale Schließung durch Homogamie“. Aus seinen Befunden zieht der Verfasser eine „unabweisbare Konsequenz: Die vorschulische Ausbildung zwischen dem vierten und sechsten/siebten Lebensjahr, welche den Belastungen durch die soziale Herkunft kompensatorisch entgegenwirkt, muß endlich allgemeinverbindlich eingeführt werden. Anders lassen sich offenbar die starren Ungleichheitsgrenzen nicht auflockern.“
Das Ungleichheitskapitel ist das beste des ganzen Buches, allerdings ist es auch das einzige wirklich gelungene. Im Übrigen präsentiert sich der fünfte Band als ein recht trauriger Absturz eines groß begonnenen Unternehmens. Wirtschafts- und – vor allem – Technikgeschichte ist nur schwach behandelt, Gesellschaft ihnen gegenüber weithin verselbständigt. Hans-Ulrich Wehler schreibt alternativlose Siegergeschichte und begreift Abweichungen nur noch als extremistische Abweichungen am rechten und – vor allem – linken „Narrensaum“. Das Jahr 1968 versucht er wegzuschimpfen. Zu Herbert Marcuse (der im Register denn auch gleich wieder vergessen wird) liest man: „über die ‚repressive Toleranz’ der liberalen Gesellschaft ist selten perfider geschrieben worden.“ Mit Genugtuung stellt Wehler fest, das es „kaum Geschichtsstudenten gab, Assistenten und Privatdozenten schon gar nicht, die sich an der 68-er Bewegung aktiv beteiligten.“ Abneigung gegen die antiautoritäre Bewegung hindert den Verfasser wohl sogar an konkreter Datierung. Die Erschießung Benno Ohnesorgs findet bei ihm nicht am 2. Juni, sondern am 1. Juli 1967 statt, das Attentat auf Rudi Dutschke nicht am 11., sondern am 21. April 1968. Schon vorher verfährt der Autor nicht präziser mit der KPD: Er setzt ihr Verbot nicht auf 1956, sondern auf 1954 fest. Mag sein, dass der strukturgeschichtliche Ansatz, der sich nicht an punktuellen Ereignissen orientiert, zu einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem Kalender veranlasst. Der Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods fand laut Wehler nicht am 11. März 1973, sondern schon im Jahr 1972 statt.
Dass der Autor von marxistischer Wissenschaft nichts hält, hat er schon im Ungleichheitskapitel gezeigt. In seinen Fußnoten betätigt er mit knappen Bemerkungen seine Guillotine – „Bornierter Linker: R. Kühnl“ und „wie üblich dogmatisch: W.F. Haug“. Besonders hat es ihm eine mittelhessische Universitätsstadt angetan, die viel schlimmer gewesen sei als ihre südliche Nachbarschaft: „Von dem dogmatischen Kommunismus, den der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth um sich herum zuließ oder sogar selber heranzüchtete, hielten sich alle ‚Frankfurter’ freilich fern.“ Unklar bleibt, welche „faschismustheoretischen Pamphlete der Marburger DKP-Politologen, derer sich der Rowohlt Verlag annahm“, gemeint sind. Reinhard Kühnl jedenfalls – der zwar keine Pamphlete veröffentlichte, aber faschismustheoretische Schriften bei Rowohlt – hat der vom Autor offenbar verabscheuten Partei nicht angehört.
Für Wehler spricht, dass er seine eigene Klassenpositionierung nicht verleugnet, sondern sich ihrer bewusst bedient: Er versteht sich als bürgerlichen Historiker, sein Lebenswerk ist die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland. Sein Pech ist, dass es zwischen 1949 und 1990 einen nicht-bürgerlichen deutschen Staat gab, über den er am liebsten gar nicht schreiben möchte. „Die kurzlebige Geschichte der DDR hat in jeder Hinsicht in eine politische Sackgasse geführt. Daher wird auch in diesem Band der DDR-Geschichte keine gleichwertige Behandlung mit der Bundesrepublik eingeräumt. […] Das Intermezzo der ostdeutschen Satrapie muß aber nicht an dieser Stelle durch eine ausführliche Analyse aufgewertet werden.“ Damit soll sich eine wissenschaftliche Abdeckerei beschäftigen: „Man kann es der florierenden DDR-Forschung getrost überlassen, das Gelände eines untergegangenen, von seiner eigenen Bevölkerung aufgelösten Staatswesens mit all seinen Irrwegen genauer zu erkunden.“
Leider hat Hans-Ulrich Wehler sich nicht an seinen Vorsatz gehalten. Die Kapitel über die DDR füllt er mit unbeherrschten Wutanfällen. Wenn er diesen Staat immer wieder als „Satrapie“ und sein politisches System als „Sultanismus“ bezeichnet, meint er sich wohl immer noch im Begriffshimmel von Max Weber zu befinden. Die Funktionäre der SED nennt er „die deutschen Bolschewiki“. Walter Ulbricht hat sich gewiss so gesehen, Wehler aber versteht das offenbar als Schimpfwort. Natürlich stimmt es im Faktischen da und dort mal wieder nicht. „Der vollmundig proklamierte ‚Aufbau des Sozialismus’ seit dem Herbst 1949“ fand wohl eher ab 1952 statt.
Zur unverzichtbaren Ausstattung jedes Historikers (und jeder Historikerin) gehört Distanz zum Gegenstand. Dies schließt Engagement nicht aus. Von Thukydides bis Hobsbawm gibt es Beispiele, dass es möglich ist, über die eigene Gegenwart mit Abstand zu schreiben. Hans-Ulrich Wehler kann das nicht. Mag sein, dass er die Jahre 1949 bis 1990 durch das Medium jener 18 Jahre betrachtet, die seit dem Ende seines Untersuchungsgegenstandes verstrichen sind und die er offenbar nicht gut verarbeitet hat. Seit 1990 ist seiner Meinung nach einiges zutage getreten, was nicht zu seiner Genugtuung über einen von ihm gebilligten Gang der Geschichte passt. Dazu gehört die „Verkrustung des Arbeitsmarkts unter dem Einfluß der Gewerkschaften und der überhöhten Sozialabgaben“. Wenn Wehler unverkennbar missbilligend feststellt: „So übertrifft z.B. seit längerem die Größe des Krankenhauspersonals diejenige der Arbeiterschaft in einem dynamischen Wachstumssektor wie der Chemischen Industrie“, dann entgeht dem Sozial- (aber eben nicht Wirtschafts- oder Technik-)Historiker die notwendig unterschiedliche Entwicklung der Arbeitsproduktivität in beiden Bereichen. Unbegriffenes veranlasst Ressentiments, die sich cholerisch äußern. Auch wer den militanten Islamismus nicht mag, wird ihn nicht unbedingt eine „politische Pest“ nennen wollen. Der Affekt, welcher sich bei Wehler entlädt, ist immerhin dem Bekenntnis zu einer Moderne verpflichtet, die etwas eng gefasst ist. Der Zorn des Verfassers richtet sich gleichermaßen gegen den Bauernverband wie gegen Gewerkschaften, doch wenn er beklagt, dass „kostspieligen Rüstungsprogrammen“ die Entwicklung der Hochschulen geopfert wird, möchte man ihn – auch wenn hier ein eigenes Standesinteresse mitsprechen mag – nicht völlig verloren geben.
Ganz zum Schluss hält es Hans-Ulrich Wehler für nötig, sich von einem Vorläufer zu distanzieren. Nachdem er sich noch einmal erfreut über „die erstaunliche Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik“ geäußert hat, bremst er sich selbst: „Damit ist aber keineswegs ein rundum befriedigender Endzustand erreicht, den man – wie Treitschke in seiner Manier den neugeschaffenen deutschen Nationalstaat als nicht mehr zu überbietenden Telos der deutschen Geschichte verklärt hat – mit einem befriedigtes ‚Es ist geschafft’ als das Non plus ultra der deutschen Zeitgeschichte gewissermaßen einfriert. Der historische Prozeß schreitet unaufhaltsam weiter fort. 1990 hat er z.B. ganz unerwartet die Rückkehr Ostdeutschlands in den Westen gebracht, alte Probleme verschärft und neue aufgeworfen.“
Der Leser fühlt sich ertappt. Je länger er sich durch das umfangreiche Buch hindurcharbeitete, desto mehr fühlte er sich tatsächlich an Heinrich von Treitschke (1834–1896) erinnert. Gewiss, Hans-Ulrich Wehler muss sich nicht alles gefallen lassen. Er ist ein Liberaler, kein Konservativer und kein Antisemit. Aber in seiner Verherrlichung des Erreichten und in seiner aggressiven Abwehr dessen, was er nicht mehr versteht, erinnert er doch an den älteren Kollegen. Er scheint es gemerkt zu haben und baut vor. Trösten wir ihn und betonen den Unterschied: Hans-Ulrich Wehler ist nicht der Heinrich von Treitschke des Deutschen Kaiserreichs, sondern der alten Bundesrepublik.
[1] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR. 1949-1990, C.H. Beck, München 2008, 529 S., 34,90 Euro