Die zur Zeit vorherrschende Tendenz des öffentlichen Erinnerns an 1968 ist in Medien vom Film bis zur Buchpublizistik, ist geprägt durch die kommerzielle Konkurrenz um Aufmerksamkeitserfolg. Das hat selektive Wahrnehmung von Geschichte zur Folge; begehrt ist das Spektakuläre. Demgegenüber hat es eine auf historische Empirie gerichtete Auseinandersetzung mit „1968“ schwer, Interesse zu finden. Auch wird das Verfallsdatum des Themas nicht lange auf sich warten lassen. Die gegenwärtig stark beschleunigte Dynamik des Kapitalismus forciert das „Verdampfen“ des Traditionellen auch in dem Sinne, daß historisches Bewußtsein sich „verflüchtigt“.
Soweit es um die heutige Linke in Ihren verschiedenen Schattierungen geht: Da ein geschichtspolitischer Durchbruch mit dem Thema „1968“ in eine breitere Öffentlichkeit nicht zu erwarten ist, siehe oben, empfiehlt sich ein gelassener, aber sorgfältiger Umgang mit den Erfahrungen jener Jahre, nachforschend, analysierend, ohne den Impuls, „1968“ zu kopieren.
„1968“ war kein spezifisch deutsches Ereignis; die mit dieser Chiffre gemeinten gesellschaftsgeschichtlichen Vorgänge hatten aber deutliche Besonderheiten je nach den Strukturen der einzelnen Länder. Die folgenden Bemerkungen beziehen sich auf die westdeutschen Verhältnisse.
Versteht man unter „alter sozialer Bewegung“ in erster Linie die Arbeiterbewegung in ihren verschiedenen Varianten, so ist zu bedenken: Nach 1945 war in Deutschland die Tradition der historischen Arbeiterbewegung nur noch in Resten existent. Der deutsche Faschismus hatte nicht nur die Organisationen der Arbeiterbewegung zerschlagen, sondern auch die damit verbundenen Milieus und Mentalitäten nachhaltig beschädigt oder in seinem Sinne „transformiert“. Die Sozialdemokratie in Westdeutschland verzichtete damals, auf dem Wege zur „Volkspartei“, bewußt auf den Versuch, Arbeiterkultur wieder zu organisieren. Verbandliche Ausnahmen waren die „Falken“ (von der SPD nur halbherzig gefördert) und die „Naturfreunde“ (unabhängig von der SPD, aber auch mit sozialdemokratischen Mitgliedern). Weitaus eindeutiger als bis 1933 wollte die SPD nach 1945 nicht „Bewegung“ sein, sondern Parlamentspartei. Aus anderen Gründen hatte nach 1945 auch die KPD massive Scheu vor einem Bewegungscharakter; je mehr sie – ab 1949 – zur Vertreterin der Interessen des ostdeutschen Staatsapparats in Westdeutschland wurde, desto wichtiger war es ihrer Führung, Unberechenbarkeiten in der eigenen Anhängerschaft zu vermeiden. Allerdings blieben an der Basis der westdeutschen KP, in Betrieben und in etlichen traditionsbestimmten Regionen, Restbestände aus der „bewegten“ Geschichte des deutschen Kommunismus erhalten. Ihnen in der Mentalität sehr verwandt, wenn auch programmatisch verfeindet, existierten Kleingruppen aus der Tradition der Arbeiterbewegung, wie die „ARPO“, die Trotzkisten, die Überbleibsel der UAPD usw., sozusagen als Erinnerungsposten an die einstige Arbeiterbewegung. Couragierte politische Aktivisten (nicht etwa „Berufspolitiker“) aus dieser kommunistischlinkssozialistischen Subkultur hatten erhebliche Bedeutung für die Ansätze sozialer und politischer Bewegung, die es in Westdeutschland von 1946/47 bis in die Vorjahre von „1968“ in einem Ausmaße gab, das in der Literatur durchweg gar nicht zur Kenntnis genommen wird.
Keineswegs befand sich gesellschaftspolitisch Westdeutschland bis 1968 in einem „Tiefschlaf“. Die 68er Revolte ist nicht plötzlich über ein bis dahin außerparlamentarisch oppositionsloses Land hereingebrochen. Begrifflich macht es Schwierigkeiten, diese Ansätze sozialer und politischer Bewegungen nach 1945 und vor 1968 als „alt“ oder als „neu“ zu klassifizieren. Es wirkten dabei Anknüpfungen an die „alte“ Arbeiterbewegung mit, ideell, methodisch und personell; aber die Konflikte, um die es ging, die Konstellationen, in denen zu agieren war, und zum Teil auch die Aktionsformen fügten sich nicht in das historische Muster der Arbeiterbewegung vor 1933 ein.
Es lassen sich vier Phasen außerparlamentarischer Opposition in Westdeutschland nach dem Ende des NS-Staates erkennen:
- In der Zeit der „Währungsreform und der Staatsgründung der soziale Protest gegen die Benachteiligung der Arbeiterschaft beim „Wiederaufbau“, gegen die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen, gegen die Rückkehr der Industriebarone, mit spontanen Streiks und Demonstrationen, teilweise und eher widerwillig unterstützt von den Gewerkschaften, zugleich aber von diesen „gezähmt“.
- Anfang der 1950er Jahre ein vielgestaltiger Massenprotest gegen die geplante Remilitarisierung, die „Ohne uns“-Bewegung, getragen vor allem von Teilen der jungen Generation, nicht nur aus des Arbeiterbevölkerung. Die Gewerkschaften wurden dadurch in heftige innere Konflikte gebracht, die SPD nutzte zeitweise diesen Protest und brach ihm zugleich politisch die Spitze ab, die KPD förderte ihn und behinderte ihn zugleich durch Instrumentalisierung.
- Ab Mitte der 1950er Jahre die „Paulskirchenkampagne“ und die Aktionen „Kampf dem Atomtod“. Sie betrafen die politisch-militärische Einbindung der Bundesrepublik in den Westblock (und deren deutschlandpolitische Konsequenzen) sowie die atomare Bewaffnung. Kennzeichnend war hier die stärkere Beteiligung aus dem Intellektuellenmilieu. Die Vorstände von SPD und Gewerkschaften wurden nun anleitend tätig – und ließen die Aktionen schon bald wieder fallen.
- Ab 1960/61 dann die „Ostermärsche der Atomwaffengegner“, die sich zur „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ weiterentwickelten; sie hatten schon nach wenigen Jahren eine Massenbasis. Neu war dabei die völlige Unabhängigkeit von der SPD, aber auch, daß Kommunisten nicht ausgegrenzt wurden und daß die Ostermarsch-Bewegung nicht instrumentalisierbar war. Der Raum für Zustimmung zu dieser Kampagne in den Gewerkschaften wurde gegen Vorstandsbeschlüsse offen erkämpft, insbesondere Teile der Gewerkschaftsjugend engagierten sich für die Ostermärsche. In dieser Kampagne arbeiteten Nachfahren der Arbeiterjugendbewegung, so die Naturfreundejugend, intensiv mit. Neu waren die Organisations- und Aktionsformen der Ostermarsch-Bewegung: Das Bündnis als gemeinsamer Lernprozeß, die lokalen „Ausschüsse“ als von Parteiapparaten unabhängiges Gerüst, die „Veröffentlichung“ des persönlichen Engagements durch die massenhafte und vor Ort publizierte Unterzeichnung der Kampagne-Forderungen. Erstmals nach 1945 bekam Protest auch wieder ein kulturelles Gesicht, durch politische Konzerte u.ä.
Eng verschränkt mit der Ostermarschbewegung entwickelten sich in den Jahren vor 1968 auch die Kampagne gegen die geplanten Notstandsgesetze und der Protest gegen den Vietnamkrieg, beides nun unterstützt auch durch den Sozialistischen Deutschen Studentenbund, der anfänglich gegenüber solchem „Spontaneismus“ skeptisch gewesen war.
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Eine außerparlamentarische oppositionelle und in bestimmter Weise antiautoritäre Bewegung war damit in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren bereits vor der sogenannten Studentenrevolte existent, als wirksamer Faktor in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen, mit zahlenmäßig beachtlicher Beteiligung und im „Aufwind“, nicht zähmbar durch die SPD-Führung und nicht mehr zerstörbar durch antikommunistische „Volksaufklärung und Propaganda“. Sie wurde gestützt durch eine eigene oder sympathisierende Publizistik: informationen zur abrüstung, außerparlamentarische opposition, pläne, werkhefte, zivil, Junge Kirche, stimme der gemeinde, Naturfreunde-Jugend – und auch durch positive Berichterstattung in den Tageszeitungen Westdeutsches Tageblatt und Nürnberger Nachrichten, ebenso in Blättern, die als kommunistisch beeinflußt galten wie Die andere Zeitung, Deutsche Volkszeitung etc.
Außerparlamentarisch war diese oppositionelle Bewegung vor 1968 ganz prinzipiell insofern, als sie allein auf ihre eigene Kraft setzte und sich nicht als Zulieferer- oder Ersatzunternehmung für den Parteien- und Parlamentsbetrieb verstand. Allerdings wollte sie nicht darauf verzichten, von ihrer autonomen Position aus auch auf parteipolitisch-parlamentarisches Handeln einzuwirken. „Antiautoritär“ war sie in ihrer entschiedenen Opposition gegen die herrschenden Machteliten und ihre Helfer in Regierung, Parlament, Massenmedien etc. Aber: Einen „Umsturz“, eine „Revolution“ hatte sie nicht im Sinne, schon gar nicht einen „bewaffneten Kampf in den Metropolen“. Angezielt war vielmehr eine Veränderung der Kräfteverhältnisse, im Kern ausgehend von der Idee einer „Demokratisierung der Demokratie, die Bedingungen in der Bundesrepublik betreffend“.
Nicht als Ablösung dieser Kampagne für Abrüstung und Demokratie, gegen den Vietnamkrieg und gegen die Notstandsgesetzgebung, auch nicht als deren einheitlicher Entschluß, wohl aber im Zusammenhang mit ihren Erfahrungen und Erfolgen kamen auch Versuche zustande, eine neue, die historischen Trennungen überwindende linke Partei zu bilden; sie wurden hinfällig durch die Gründung der DKP einerseits, die Ausbreitung revolutionärer Stimmungen in der studentischen Opposition andererseits. Dieser neue, dem Selbstverständnis nach nicht mehr reformerische Trend versetzte die außerparlamentarische Opposition insgesamt in eine veränderte Lage; die mit den Ostermärschen eingeleitete neue politische Bewegung wurde damit zu einer „alten“, und diese Politikform brach damit ab, auch wenn sie nicht folgenlos blieb.
Mit der Chiffre „1968“ verbindet sich ein weites Spektrum von Herkünften, politischen Positionen, Verhaltensweisen der Akteure; die „Revolte“ war keineswegs in sich homogen. Aber einige hervorstechende neue Trends lassen sich erkennen:
Erstmals wurden die westdeutschen Universitäten zu Schauplätzen einer spontanen gesellschaftlichen Opposition. Die Charakterisierung von „1968“ als „Studentenbewegung“ greift auch für Westdeutschland zu kurz, aber neu war doch, daß studierende junge Leute in großer Zahl unter linken Vorzeichen politisch aktiv wurden und, angeregt durch Vorbilder vor allem aus den USA, unkonventionelle Methoden des Protests einsetzten. Die Bildungsexpansion hatte noch nicht stattgefunden, also waren es vornehmlich Studenten bildungsbürgerlicher Herkunft und solche aus Familien des gehobenen Mittelstandes, die revoltierten. Diese Tatsache hatte eine erhöhte Aufmerksamkeit in den großen (ja durchaus bürgerlichen) Medien und im etablierten öffentlichen Diskurs zur Folge, und spektakuläre Formen des Aufbegehrens kamen Bedürfnissen der Sensationspresse entgegen, BILD war also dabei. Neu war auch die verbale Radikalitat der Revolte, ebenso der unbedenkliche Zugriff auf revolutionäre „Muster“ aus vergangenen Epochen und aus fernen Gegenwartsgesellschaften, deren Leitbegriffe und Symbole. Die Wirkung dieser Neuerungen in der Geschichte der außerparlamentarischen Opposition war zwiespältig. Einerseits ergab sich so ein Durchbruch gesellschaftskritischer Ideen in eine breite Öffentlichkeit, auch ein ansteckender Effekt in Richtung auf Selbstorganisation politischen und sozialen Engagements. Daraus zogen auch oppositionelle Aktivitäten außerhalb des studentischen Milieus Nutzen, unter den Lehrlingen, in den Betrieben, in allen möglichen gesellschaftlichen Institutionen. Insofern gab es Schnittmengen zwischen der „alten“ oppositionellen Bewegung, der vor 1968, und der neuen „APO“. Aber es bestanden auch Differenzen, kulturelle Distanzen, politische Gegensätze und die von studentischen Aktivisten beschworene „Revolutionierung des Proletariats“ kam nicht zustande. Der radikale Auftritt blieb in Westdeutschland im Wesentlichen schicht- und generationsspezifisch beschränkt.
Die Fragwürdigkeiten, die nicht durchgängig, aber doch weitverbreitet in der Revolte in der Bundesrepublik steckten, 1968 und in den anschließenden Jahren, lassen sich knapp so skizzieren:
Fälschlicherweise wurde die politische Situation in Westdeutschland als „vorrevolutionär“ angesehen. Der irreführende Begriff vom „Spätkapitalismus“ deutet die Fehleinschätzung an, mit dem „System“ sei es bald zu Ende. Die zeitweise aufgeregte Reaktion der politischen Klasse (die Börse hingegen zeigte sich unbeeindruckt) erzeugte aufseiten der Revolte den Irrtum, die Machtstrukturen seien kurz vor dem Kippen. Was die kulturellen Wirkungen der Revolte angeht, so wurde die Fähigkeit des Kapitalismus, sich oppositionell gemeinte Neuerungen zu Nutze zu machen, sie ins Warenförmige umzuleiten, völlig unterschätzt. Der revolutionäre Anspruch gerade in dem studentischen Teil der Bewegung bekam häufig den Charakter wechselnder Inszenierungen, so als könne das Revolutionäre ausgeliehen werden aus einem exotischen Reservoir. Weder mit dem (sehr minoritären) Bild einer deutschen Stadtguerilla noch mit den (dann bald nach 1968 auftretenden und stärker frequentierten) Vorbildern aus Kuba, Rotchina, Nordkorea und gar Albanien ließ sich der „Durchbruch“ hin zur Arbeiterbevölkerung zuwege bringen. Etwas näher an Realitäten lag dann schon die Orientierung an der Sowjetunion oder der DDR, aber auch hier handelte es sich um „geliehene Stärke“, noch dazu zumeist angeeignet in Unkenntnis der gesellschaftlichen Zustände in diesen Staaten. Die Vorliebe für revolutionäre Reprints zur Zeit der Revolte hatte auch eine unfreiwillig ironische Seite: Irgendwo mußte die Revolution doch literarisch zu finden sein ...
Zweifellos enthielt die Revolte von „1968“ auch in der Bundesrepublik belebende Anstöße für soziales und politisches Engagement in der Arbeiterbevölkerung; von einem „proletarischen Mai“ kann aber hier keine Rede sein. Studentischer Aktivitätsdrang wirkte anregend auch im betrieblichen Milieu, manchmal selbst da, wo über die akademischen „Revoluzzer“ geschimpft wurde. Befördert wurde die Neigung, sich auch im gewerkschaftlichen Zusammenhang „antiautoritär“ zu verhalten, freilich war der „wilde“ Streik keine Erfindung studentischer Rebellen. Von den aus „1968“ hervorgegangenen „K“-Parteien und -Gruppen wurden ArbeiterInnen nur in kleiner Zahl angezogen, etwas besser war da die DKP dran, und zeitweise hatte das „Sozialistische Büro“ Erfolge mit seiner betrieblichen Aktivität. Allerdings hielten DKP und SB, bei unterschiedlichen politischen Positionen, Distanz zur Revolutionseuphorie. Aufgeregter Radikalismus, wie er von den Massenmedien zum historischen Ereignis hochstilisiert wurde, hatte in der Lebenswelt von Arbeitern und Arbeiterinnen typischerweise keinen Boden, selbst dort nicht, wo sozialpartnerschaftliche Deutungen sich nicht hatten festsetzen können, Zudem weckten „Avantgarde“-Ansprüche studentischer Aktivisten berechtigtes Mißtrauen.
Die produktiven Auswirkungen der Revolte von 1968 auf politische Mentalitäten und Praktiken in der Bundesrepublik sollen mit diesen kritischen Hinweisen nicht weggeschrieben werden. Die einige Jahre später aufkommenden Kampagnen und „neuen sozialen Bewegungen“ (in Sachen Militärpolitik, Ökologie, Gleichberechtigung der Frauen) haben, obwohl „reformistisch“ durch „revolutionäre“ Auftritte um 1968 wesentliche Impulse erhalten. Eine Erneuerung von Arbeiterbewegung ist aus dem Ereignis „1968“ nicht entstanden. Dem stand schon im Wege, daß die Revolte zu weiten Teilen mit einer Wiederkehr der „sozialen Frage“ in kapitalistisch-brutaler Art überhaupt nicht rechnete. Die „soziale Marktwirtschaft“ galt als wohlständiges „Bestechungsunternehmen“ gegenüber der arbeitenden Bevölkerung; daß der sogenannte Spätkapitalismus sozusagen frühkapitalistische Züge wieder annehmen könnte, ahnten die Liebhaber der Revolution nicht. In dieser Ahnungslosigkeit stimmten sie überein mit denjenigen, die 1968 von radikalen Studenten gern „professionelle Arbeiterverräter“ genannt wurden, also den Führungsschichten von SPD und Gewerkschaften.
Aus gewerkschaftlichen Seminaren damals habe ich in Erinnerung, daß die „ehrenamtlichen“ betrieblichen Vertrauensleute gegenüber dem langfristigen Wohlstandsversprechen des Kapitalismus zumeist eher skeptisch waren, offenbar – ein bißchen hochtrabend formuliert – gab es so etwas wie Klasseninstinkt.