Einer der klügeren Sponti-Sprüche lautete: „Wir
wissen nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber es muss
anders werden, damit es besser wird.“ Ähnlich der
zeitdiagnostische common sense auf dem 34. Kongress der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie: Gesellschaftliche
Transformationen infolge des zusammengebrochenen Staatssozialismus
und des rearrangierten Wohlfahrtsstaats, ergänzt um
Terrorismus und Überwachungstechnologie sowie den dramatischen
Klimawandel und – gerade rechtzeitig – die
Finanz-marktkrise, seien verantwortlich für eine neue soziale
Unsicherheit. Diese sei dramatisch, böte aber auch Chancen;
der Verlust des Vertrauens in Politik und Wirtschaft führe zu
einem wachsenden „Rebellionspotenzial“ –
wofür, wogegen und ob sie das gut oder schlecht finden,
ließen die Vortragenden weitge-hend offen.
Das Schöne an Parole und Zeitdiagnose ist, dass sie
unwillkürlich Sympathien wecken, der Nachteil, dass sie sich
un(an)greifbar machen. Insofern hat auch die mit jedem Kongress in
der Berichterstattung der letzten Jahre wiederkehrende Kritik, die
Veranstaltung sei aufgrund der Orientierung am kleinsten
gemeinsamen Nenner und des Systems der ausufernden Ad-hoc-Gruppen
inhaltlich beliebig, ihr Richtiges.
Darüber hinaus gibt es aus
gesellschaftskritisch-emanzipatorischer Perspektive bei
Großveranstaltungen wie der in Jena folgendes zu bedenken: Es
sind nicht nur die Inhalte, die gute von schlechten Vorträgen
und Diskussionen unterscheiden, genauso bedeutsam ist, ob und wie
sie die „Lehranordnung“ in der Präsentation von
Wissen, Kenntnissen und Forschungsergebnissen problematisieren. Ob
es also gelingt, nicht nur – im Sinne Gramscis –
„führend“ zu sein, Orientierung zu geben,
moralische und kulturelle Ausstrahlungskraft zu gewinnen, sondern
auch, diese Führung um ihrer Abschaffung willen zu nutzen. Von
Stärke zeugten zunächst die Vorbereitungen des lokalen
Organisationskomitees, nicht zuletzt die Bemühungen, mit einer
Ausstellung, Videodokumentation und Publikation zum Jenaer
Soziologentag 1922 und dem Soziologentreffen 1934 auch kritische
Anstöße zur Geschichte der eigenen Disziplin zu geben
und an die Affinität von Geist und Macht zu erinnern. Die
Veran-stalter hatten also alles getan, um der Wissenschaft ein
Forum zu bieten, aber auch einen Ort der Selbstverständigung
und des Streits über die tatsächliche Relevanz ihrer
Forschungsfragen. Dass die Risikobereitschaft der Vortragenden und
der Mut zur These gering waren, ist nicht ihnen vorzuwerfen.
Während etwa 1968 Dahrendorf noch feststellen konnte, dass der
Kongress (in Frankfurt/Main) in einer „Atmosphäre
beträchtlicher politischer Erregung“ stattfinde, kann
diese heute nur noch als ‚Thema’ auf Äquidistanz
gebracht werden (so in der Veranstaltung „1968 und die
Soziologie“).
Nicht ganz zu Unrecht hat sich die Jenaer Soziologie zwar einen Ruf
als gesellschafts- und kapitalismuskritisch erworben (vgl. etwa den
für 2009 ange-kündigten Band „Soziologie,
Kapitalismus, Kritik“ von Dörre, Lessenich und Rosa) und
die Erwartungen konnten dementsprechend hoch sein. Zudem
fokussierte das Kongressthema „Unsichere Zeiten“ auf
prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse und die
Transformation kapitalistischer Gesellschaften. Doch anders als vor
40 Jahren sind die Bildungsbedingungen kritischer Theorie schon
strukturell ganz andere – auch ein noch so gut organisierter
Kongress kann nichts daran ändern, dass die Universität
nicht mehr zentraler Ausgangspunkt von Gesellschaftskritik ist,
dass die Ökonomisierung und die Modularisierung des Studiums
die Möglichkeit ungegängelten Denkens austreibt, dass die
Prekarisierung Wissenschaftler materiell gefährdet und
Einsparungen den Zugang zu Produktionsmitteln, die kritische
Theorie ja auch immer braucht, beschneiden. Wurde Soziologie 1968
als – zugegeben: normativ überhöhte –
Emanzipations- oder Befreiungswissenschaft betrieben, wagt man es
heute gerade einmal, „soziologische Aufklärung“ zu
fordern (so Ulrich Beck und der DGS-Vorsitzende Hans Georg Soeffner
auf der Eröffnungsveranstaltung).
Kritische Impulse versprachen am ehesten noch die Debatten zu
Arbeitsmarktun-sicherheit/Prekarisierung sowie zur Gegenwart
gesellschaftlicher Klassen. Die Sozialwissenschaftler können
sich darauf einigen, dass Prekarisierung – entgegen
politisch-ideologisch überformter Deutungsweisen, die auf
mangelnde Eigenverantwortung der Betroffenen abheben – auf
gesellschaftliche Transformationsprozesse verweist, in deren
Zentrum der Wandel des Lohnarbeitsverhältnisses steht (Ende
der Normalarbeit, flexibilisierte Produktion, flexibilisierte
Arbeitsmarktpolitik). Umstritten ist hingegen zum einen die
tatsächliche Tragweite des Phänomens und zum anderen
seine Beurteilung: Handelt es sich um die „soziale Frage des
21. Jahrhunderts“ (Castel, Dörre, Paugam) oder sind
postfordistische Berufskarrieren nicht doch stabiler, als die
Kritiker glauben machen (so etwa Struck)? Gegen die
Kontinuitätsannahme spricht die Ausweitung tariflich und
sozialstaatlich nicht abgesicherter, gering qualifizierter und
schlecht bezahlter („unsicherer“)
Arbeitsverhältnisse – eine Entwicklung, die nicht allein
„Überflüssige“ oder
„Ausgeschlossene“, sondern zunehmend auch die Mitte der
Erwerbsgesellschaft betrifft (auf die Folgen der Prekarisierung des
öffentlichen Sektors für den normativen Haushalt der
Gesellschaft wies v.a. Bethold Vogel hin). Politisch sei dem durch
Mindestlöhne, Standards „guter Arbeit“ und den
Ausbau der Interessenvertretung für Arbeitnehmer abzuhelfen.
Die Verfechter der „Stabilitätsthese“ hingegen
erkennen zwar ein gewisses Maß der skizzierten
Veränderungen an, betonen aber, dass die Mehrzahl der
Erwerbsbiografien letztlich stabil verlaufe; das prekäre
Potenzial flexibilisierter Beschäftigung mache sich nur
vorübergehend und deshalb geltend, weil individuelle und
gesellschaftliche Bearbeitungsweisen noch in der
„Anpassungsphase“ steckten. In der Anwendung der
Forschungen ginge es darum, wie dieser Prozess sozialpolitisch zu
moderieren sei, d.h. wie Phasen des Übergangs von einem
Erwerbsverhältnis zum anderen sozialstaatlich abgemildert
werden können (etwa durch Maßnahmen zur Familienplanung;
so auch der zum Kongress geladene Arbeitsminister Scholz).
An beiden Strömungen der Prekarisierungsforschung ließe
sich die Einseitigkeit der integrationstheoretischen Perspektive
kritisieren, ist es doch letztlich die Eingliederung in den
Arbeitsmarkt, die als Problem ausgemacht wird und nicht etwa die
systematische Entwertung menschlicher Arbeitskraft im
(High-Tech-/postfordistischen/neoliberalen) Kapitalismus. Nach wie
vor müssen sich weite Teile der Sozialwissenschaften den
Vorwurf gefallen lassen, keinen adäquaten Begriff des
Kapitalismus zu haben und Phänomene wie Prekarisierung daher
nur reduziert begreifen zu können, weil sie nicht auf die
Logik kapitalistischer Vergesellschaftung zurückgeführt
wird.
Entscheidender als dieser Generaleinwand ist jedoch vielmehr,
Prekarisierung als spezifische Lohnarbeitsform im Postfordismus zu
thematisieren und damit: Klassenanalyse zu betreiben. In den auf
dem Kongress geführten Auseinandersetzungen über den
Klassenbegriff sind damit auch die Grenzen des
Prekarisierungsdiskurses markiert. Die „Sektion soziale
Ungleichheit“ (allein die Bezeichnung ist bezeichnend) nahm
das Jubiläum des Aufsatzes von Beck („25 Jahre Jenseits
von Stand und Klasse“) zum Anlass, einmal mehr einen
Klassen-begriff zu verabschieden, den ohnehin niemand verteidigen
mag. Statt Formen „postmoderner Sozialpositionierung“
(Ronald Hitzler, Dortmund) und – in einer Veranstaltung zu
„Neue Klassen?“ –
„Repräsentationsformen des Sozialen“ (Klaus
Kramer, Münster) zu untersuchen, die doch nur nachweisen
– wer hätte es gedacht –, dass es keinen
unmittelbaren Zusammenhang zwischen Klassenlage und -bewusstsein
gibt, hätte eine Umkehrung des Untersuchungsfokus gut getan:
Was sind die Formen von Klassenkampf, als welche die Dynamik
kapitalistischer Vergesellschaftung beschrieben werden könnte?
In welchen Praktiken konstituiert sich das „historische und
moralische Element“ in der Bestimmung des Werts der
Arbeitskraft? Statt das „Prekariat“ zu Tode zu
differenzieren, wäre ein Blick auf Potenziale politischer
Verallgemeinerung interessant gewesen. Dazu wäre es freilich
notwendig, die Perspektive der Betroffenen zu thematisie-ren, ihre
„praktischen Bedürfnisse“ und tatsächlichen
Praktiken in den Blick zu nehmen – selbst wenn die sich
zunächst in der Forderung „Wir wollen Arbeit“ zu
erschöpfen scheinen. Nicht „soziologische
Aufklärung“ der Öffentlichkeit, sondern
Aufklärung der Soziologie durch die Praxis hätte
geholfen.
Wer die Frage nach den Subjekten entprekarisierender Politik
stellt, so eine Debatte unter den kritischeren der Soziologen,
liefert sich dem Verdacht aus, den klassischen (Frauen und
Migranten exkludierenden) Wohlfahrtsstaat zurückzufordern.
Tatsächlich: Früher, auch in Frankfurt 1968, war nicht
alles besser. Doch die Erinnerung an „früher“
verweist auf gescheiterte soziale Kämpfe, ermöglicht
überhaupt erst Lernprozesse und muss daher angesichts von
Arbeits- und Aktivierungsanforderungen, die sich
gewissermaßen „zeitlos“ geben, fast schon
widerständig erscheinen. Niemand bringt das so schön auf
den Punkt wie die Hamburger Band Kettcar: „Wir sind
heiß und hungrig und hochmotiviert / Flexibel, spontan und
qualifiziert / Wir sind teamfähig, unabhängig und
be-lastbar / Uns ist heute egal, wo gestern noch Hass
war“