Berichte

„Rückkehr“ des Staates in der Wirtschaft – zwei Konferenzen

Internationaler Workshop der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, 21.-23.11.2008; WSI – Herbstforum, Berlin, 27.-28.11.2008

März 2009

Es war kein Zufall, dass nahezu zeitgleich zum ersten Höhepunkt der globalen Finanzmarktkrise und zum Konjunktureinbruch in der Wirtschaft zwei Veranstaltungen stattfanden, die sich mit den Hintergründen und Konsequenzen der Wiederentdeckung der Rolle des Staates in der Wirtschaft beschäftigten. Seit Jahren war die Öffentlichkeit auf Deregulierung und Privatisierung eingeschworen worden. Nun sind unter dem Druck eskalierender Krisenprozesse aus dem Lager der radikalen Marktideologen selbst Forderungen nach staatlichem Eingreifen in den Wirtschaftsablauf laut geworden. Der neoliberale Staat erklärte sich schnell bereit, sie zu erfüllen. Umfassende Konjunkturprogramme werden aufgelegt und zur Abwendung des Zusammenbruchs großer Banken- und Industriekonzerne werden in bislang unvorstellbarer Höhe finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Private Unternehmen oder Unternehmensteile gehen mit einem Federstrich in staatliches Eigentum über.
Nicht nur die Tatsache, dass diejenigen, die die Krisenprozesse zu verantworten haben, vom Staat kaum zur Kasse gebeten werden und dass vor allem die werktätigen Bevölkerungsschichten infolge von Massenentlassungen, von Einkommensverlusten und durch Abbau von Sozialleistungen betroffen sind, weist einmal mehr auf die Dringlichkeit eines Politikwechsels hin. Die Komplexität der schon längerfristigen Krisenprozesse lässt neoliberale Konzeptionen in aller Deutlichkeit völlig ungeeignet zur Lösung der aktuellen und der zukünftigen Probleme er-scheinen. Demokratische Alternativkonzepte für die Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung sind gefragt, an die – wie die beiden Veranstaltungen beweisen – unterschiedlich, vielfältig und auch kontrovers herangegangen werden kann.
Der Workshop der RLS „Die sichtbare Hand – vor uns ein neuer (Staats-) Interventionismus?“ war der dritte einer im Jahre 2006 initiierten Reihe „Ist eine andere Wirtschaft möglich? Konzepte alternativer Ökonomie“. Zielstellung war es, die in vielfältigen Formen vor sich gehende Herausbildung einer Art von neuem Staatsinterventionismus zu analysieren, der dazu dienen soll, dem internationalen Finanzkapital neue Verwertungsspielräume zu erschließen und Machtzuwächse zu ermöglichen. Auf dieser Grundlage galt es, alternative Ansätze und Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Lutz Brangsch (RLS Berlin) griff diese Gedanken in seinen einleitenden Bemerkungen auf, wies auf die Verflechtung der verschiedenen Krisenprozesse mit der globalen Krise hin und machte auf sich andeutende Veränderungen in der gegenwärtigen Regulierungsweise im Kapitalismus aufmerksam.
Vier Themenkomplexe bestimmten die Debatte. Ein erster Beitrag zur „Geschichte des Problems“ kam von Joachim Bischoff (Hamburg). Nach jahrzehntelangem Abbau staatlicher Aktivitäten in der Wirtschaft konstatierte er tatsächlich eine Rückkehr des Staates. Im Zusammenhang mit der aktuellen Finanzkrise vollziehe sich ein Paradigmenwechsel, der voller Widersprüche und Hindernisse steckt und der zutiefst undemokratische Züge trägt. In der Diskussion wurde entgegengehalten, dass staatliche Eingriffe zur Funktionsweise des Kapitalismus gehören und dass Neoliberalismus nie „laissez faire“ war. Richard Rosen (Boston/USA) wies für die Entwicklung der US-amerikanischen Energiepolitik nach, dass es eine wirkliche Deregulierung nie gegeben habe und dass der Staat stets eine (sichtbare) Hand im Spiel gehabt hatte. Der Staatsinterventionismus habe insofern neue Züge bekommen, als dass er mehr als früher auf die Beherrschung der internationalen Märkte gerichtet sei.
Ein interessanter Beitrag zur Rolle des Staates in der VR China kam von Xinhua Zhang (VR China). Er stellte fest, dass die Wirtschaft Chinas von der globalen Finanzkrise weniger betroffen zu sein scheint, was sich als günstig für die aktuellen strukturellen Wandlungsprozesse erweise. Die Rolle des Staates verändere sich – nach außen als Reflexion der international wachsenden Wirtschaftskraft Chinas hin zu stärkerer Wahrnehmung globaler Verantwortung. Der eingeschlagene Wachstums- und Entwicklungspfad basiere hauptsächlich auf institutionellen Reformen und Veränderungen im Regulierungssystem. Er soll so gesteuert werden, dass er das Gewicht der Exportorientierung verringert und den Übergang zur hauptsächlich von Binnennachfrage getragenen Wirtschaft ermöglicht. Eine „neue Landreform“ soll zur Erhöhung der Binnennachfrage beitragen. Die Förderung von Innovationen wird einen höheren wirtschaftspolitischen Stellenwert erhalten.
Michael Krätke (Amsterdam/Niederlande) befasste sich mit „global governance“. Seinem Anspruch als freiwillige politische Kooperation zwischen transnationalen Akteuren, frei von Hierarchien und Machtansprüchen wird die Realität nicht gerecht. Es handele sich eher um ein politisch-ideologisches Konzept eines neuartigen Zusammenspiels von Staaten, Wirtschaftsakteuren, internationalen Organisationen und Interessengruppen des globalen Finanzkapitals mit dem Ziel der Festschreibung neoliberaler Dogmen und internationa-ler Regularien. Es wurde die Frage gestellt, ob „global governance“ für NGO und IGO auch von links zu öffnen sei. Günter Krause (Berlin) ging in seinem Beitrag auf die ideengeschichtlichen Wurzeln der „sichtbaren“ Hand des Staates bzw. der „unsichtbaren“ marktbezogenen Hand in der Ökonomie von Adam Smith zurück, um den politökonomischen Kern der Diskussionen um die aktuelle Rolle des Staates nochmals deutlich zu machen.
Der Themenkomplex „Neoliberalismus ist mehr als Markt pur“ bezog sich auf EU-Entwicklungen. Von Catherine Sifakis (Grenoble/Frankreich) wurde die Europäische Währungsunion (EWU) als staatlich gestütztes neoliberales Modell der Finanzglobalisierung analysiert. Sie ging besonders auf den Zusammenhang zwischen der Politik der Kapitalliberalisierung seitens der Mitgliedsstaaten und der Errichtung der EWU als Produkt institutioneller Dynamik der EU ein. Nach ihrer Auffassung dürfe der integrative Effekt der EWU nicht überschätzt werden. Zurzeit sei es zu einem Stillstand der Integration gekommen.
Peter Custers (Leiden/Niederlande) erläuterte die widersprüchliche Rolle der EU bei der Herausbildung eines militärisch-industriellen Komplexes in Westeuropa. „Militärischer Keynesianismus“, stellte er fest, habe in den einzelnen Ländern immer eine erstrangige Rolle gespielt. Seit den 1980er Jahren wurde er mit der Öffnung der Beschaffungsmärkte in der EU zwar zurückgedrängt, aber nie beseitigt. Gleichzeitig ist die Entwicklung des Rüstungssektors in den einzelnen Ländern durch die europäische Politik immer beeinflusst worden. Desislava Stoyanova, Repräsentantin der NGO bankwatch, kritisierte die Aktionen der Europäischen Investitionsbank auf die Finanzkrise als völlig unzureichend und ungeeignet. Sie stellte die neue Gruppierung Counter Balance vor, ein Bündnis von NGOs, die sich speziell mit der Politik der EIB auseinandersetzt. Ziel sei es, demokratischere Strukturen und mehr Transparenz in der EIB durchzusetzen.
Im nächsten Themenkomplex ging es darum, ob Finanzkrise und „Rückkehr“ des Staates Indizien für eine akute Krise des Neoliberalismus sind. Jörg Huffschmid (Bremen) äußerte sich skeptisch dazu. Anhand detaillierter Fakten und Zahlen erläuterte er, dass die Funktionsweise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus sich mit der Krise im Finanzsektor nur wenig ändere. Die Macht der Finanzinvestoren scheint noch relativ ungebrochen. Verändern würden sich vielfach die Mechanismen, sie passen sich an neue Bedingungen an – durch Druck auf den Staat, mit Konzentration, mittels neuer Geschäftsmodelle, Ratio-nalisierungs- und anderen Maßnahmen. Ein neuer Staatsinterventionismus entstehe nur bedingt. Ein Paradigmenwechsel lasse sich zurzeit nicht erkennen. Das könnte auch für den Bereich der Klimapolitik zutreffen, stellte Jeroen van der Slujis (Utrecht/Niederlande) sinngemäß fest. Die Abschaffung des alten Verursacherprinzips zugunsten des Handels mit Emissionsrechten sei nahezu das Gegenteil von staatlicher Einflussnahme und berge große Gefahren. Interna-tionale Regelungen zur Einschränkung dieses Handels wären notwendig.
Der Vortrag von Asbjorn Wahl (Norwegen) befasste sich mit dem Niedergang des skandinavischen Wohlfahrtsstaates. Als historischer Klassenkompromiss – je nach konkreten Bedingungen unterschiedlich ausgeprägt – beruht er hauptsächlich auf einem umfangreichen öffentlichen Sektor in der Wirtschaft, auf einem ausgebauten staatlichen Regulierungssystem und auf starken Gewerkschaften. Ein wesentliches Handicap dieses Modells ist darin zu sehen, dass die materiellen Vorteile der Wohlfahrtsstaatlichkeit für die Bevölkerung über Jahrzehnte mit einer gewissen „Entpolitisierung“ verbunden wurden. Das führte dazu, dass der Klassenkompromiss nach und nach ausgehöhlt wurde und im Ergebnis von zwei Jahrzehnten neoliberaler Offensive in den 1990er Jahren zusammenbrach. Aktuelle Veränderungen in den Machtverhältnissen führen zur weiteren Demontage des Wohlfahrtsstaates in Richtung seines neo-liberalen Umbaus. Die gegenwärtigen Krisenprozesse setzen folglich neue Maßstäbe im Kampf um die Aufrechterhaltung sozialer Errungenschaften, was mit zukunftsfähigen Veränderungen in der Rolle des Staates verbunden werden muss und nicht nur am Umfang des öffentlichen Sektors in der Wirtschaft gemessen werden darf. Die politisch-ideologische Krise in den linken Bewegungen erschwert indes eine soziale Mobilisierung.
Den Möglichkeiten und Bedingungen alternativer Vorstellungen von der Rolle des Staates in der Wirtschaft war der letzte Themenkomplex gewidmet. Frieder Otto Wolf (Berlin) mahnte an, die Rolle des Staates realistisch und in ihrer Kontinuität zu sehen. Sie sei gegenwärtig ohne Zweifel gewachsen, doch von einem Comeback des Staates zu sprechen sei übertrieben. Die Möglichkeiten des Staates sollten zur Gestaltung eines neuen Politikmodells in Richtung sozialökologischen Umbaus der Gesellschaft ausgelotet werden. Wie unterschiedlich die konkreten Bedingungen in den einzelnen Ländern sein können, darauf wies Tadeusz Kowalik (Warschau/Polen) in seinem Beitrag hin. Er sehe gegenwärtig keine Ansatzpunkte für Demokratisierungen in der staatli-chen Wirtschaftspolitik in Polen. Mit der verstärkt neoliberalen Orientierung würden die Widersprüche in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zunehmen. Das Entstehen einer Protestbewegung ähnlich der von Solidarnosc in den 1980er Jahren sei nicht erkennbar. Judith Dellheim (Berlin) legte ihre Auffassung von sozialistischer Wirtschaftspolitik dar, die sich darauf orientiere, soziale, ökologische und globale Probleme demokratisch und gerecht zu mildern sowie schrittweise zu lösen. Das müsse in Richtung sozialökologischen Umbaus von Staat und Gesellschaft gehen. Politikwechsel sei die Grundvoraussetzung dafür, dem staatlichen Interventionismus überhaupt und einem unverzichtbaren öffentlichen Eigentumssektor eine demokratische Struktur zu geben. Eine radikale Alternative zur Ökonomisierung aller Lebensbereiche im gegenwärtigen Kapitalismus sah Christian Felber (Wien/Österreich) in einer Delegitimierung der Grundfesten der Marktwirtschaft. Er stellte das Konkurrenzprinzip als Triebkraft der Entwicklung infrage und schlug seine Ersetzung durch das Prinzip der freiwilligen Kooperation vor. Von Mohssen Massarrat (Osnabrück) wurde noch einmal das Thema Weltenergiemarkt aufgegriffen. In der schwindenden Hegemonie der USA als Nachfragemonopolist sah er mögliche Ansatzpunkte für demokratische Veränderungen in den Machtverhältnissen auf dem Weltenergiemarkt. Seine Idee ging in Richtung eines auszugestaltenden kooperativen Modells für alle Energieträger unter Beteiligung aller Staaten.
Das Thema des alljährlich stattfindenden Herbstforums des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung hieß „Die Rückkehr des Staates. Öffentliche Verantwortung für Wirtschaft und Beschäftigung“. Hauptanliegen war es, nach Jahren des Rückzugs des Staates und der deutlichen Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in Deutschland einerseits, sowie angesichts der wachsenden Zukunftsaufgaben andererseits eine wieder aktivere Rolle des Staates in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik einzufordern. Zwei einleitende Referate befassten sich mit der Analyse der aktuellen Situation und mit der Rolle von Leitbildern für staatliches Handeln. Danach wurden Kurzreferate zu vier Themenkomplexen – Zukunft der öffentlichen Investitionen, öffentliche Wirtschaftsförderung, öffentliche Daseinsfürsorge und Perspektiven eines aktiven Staates – gehalten, die sich in konkreten Bereichen mit der wirtschafts- und sozialpolitischen Verantwortung des Staates auseinander setzten und dringende politische Kurskorrekturen forderten. Zu den Beiträgen gab es Anfragen und kurze Statements.
Heide Pfarr, Direktorin des WSI, wies auf die kontroverse Widerspiegelung der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Rolle des Staates in der Öffentlichkeit hin. Das neoliberale Gesellschaftsprojekt, welches seit den 1970er Jahren auf Basis von Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung zu grundlegenden Änderungen in der Funktion des Staates geführt hat, ist nach ihrer Meinung heute selbst in eine grundlegende Krise geraten. Ein Vergleich mit den Entwicklungen nach der Krise von 1929 lege die Schlussfolgerung nahe, dass es zur Herausbildung neuer wirtschaftspolitischer Leitbilder kommen werde. In diesem Sinne liege in der gegenwärtigen Krise „auch die Chance für einen grundlegenden politischen Neuanfang“. Sicher sei allerdings nicht, ob mit der Finanzkrise die Ablösung des Neoliberalismus zugunsten eines neuen Politikmodells wirklich eingeleitet würde und ob sich tatsächlich ein „grundlegend neues Politikmodell“ entwickeln kann. Ohne Zweifel erweitern die aktuellen Entwicklungen jedoch den gesellschaftlichen Diskussionsrahmen um die notwendige Neudefinierung der Aufgaben des Staates.
Hans-Jürgen Bieling (Universität Marburg) gab einen Überblick über die Bedeutung und die Aufgaben von politischen Leitbildern des Staates, welche er sowohl als Ausdruck von Kräftekonstellationen wie auch als Gestaltungselement versteht. Er erläuterte, welche Inhalte hinter Begriffen wie Wohlfahrts-staat, Leistungs- und Gewährleistungsstaat und – aktuell – dem Begriff Inter-ventionsstaat stecken. Die Herausbildung eines progressiven Leitbildes zur Reorganisation des Staates wird nach seiner Auffassung durch die Herrschaft des globalen Finanzmarktkapitalismus und die starke Präsenz seiner politisch-institutionellen Strukturen erschwert.
Zur zentralen Bedeutung öffentlicher Investitionen für Wachstum und Beschäftigung und zu ihrer Finanzierbarkeit sprach Achim Truger vom IMK-Institut der Hans Böckler Stiftung. Er betonte, dass ein „leistungsfähiger Sozi-al- und Investitionsstaat“ nicht umsonst zu haben sei und seine Verwirkli-chung auch unpopuläre Steuererhöhungen einschließe. Für die Finanzierung des Sozialstaates sah er hauptsächlich drei Quellen: Nettoneuverschuldung, Selbstfinanzierungseffekte und Steuererhöhungen. Die Sicherung der Aufgabenfinanzierung gestalte sich folglich mehr zu einem politischen als zu einem ökonomischen Problem. In mehreren anschließenden Beiträgen wurden einzelne Politikfelder näher beleuchtet. Michael Reidenbach (Deutsches Institut für Urbanistik) stellte eine Studie zum Investitionsbedarf in den Kommunen vor und ging davon aus, dass durch effizientere Politik sowie Erschließung neuer Finanzierungsquellen der kommunale Investitionsstau bis zum Jahre 2020 abgebaut werden kann. Gisela Färber (Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer) sprach über den Investitionsbedarf im öffentlichen Bildungsbereich. Nach ihrer Auffassung sollten neben öffentlichen auch mehr private Finanzierungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden. Der Beitrag von Astrid Ziegler (WSI) beschäftigte sich mit den zunehmenden
Ungleichgewichten von Struktur- und Beschäftigungspolitik in der Bundesrepublik, denn in den letzten Jahren seien beschäftigungsrelevante Aspekte in den staatlichen Maßnahmen immer mehr in den Hintergrund getreten. Die öf-fentliche Beschäftigungspolitik müsse, eingebettet in eine breite Strategie zur Wirtschaftsentwicklung, besonders im Rahmen der Wirtschaftsförderung einen höheren Stellenwert erhalten. Ines Hartwig (EU-Kommission) befasste sich mit dieser Problematik auf der EU-Ebene. Nach ihrer Meinung liegen die zentralen Zukunftsaufgaben der EU in den Bereichen Soziales und Beschäftigung. Dies müsse zu größerer Wirksamkeit des Europäischen Sozialfonds führen, dessen Aufgaben über das Ziel der regionalen Kohäsion hinaus erweitert und dessen Mittelausstattung erhöht werden müsse. Martin Allespach (IG Metall) hielt ein Plädoyer für gewerkschaftliche Industriepolitik, die sich dem Kriterium der Nachhaltigkeit verpflichtet fühlt und Mitbestimmung als zentrale Frage ansieht.
In zwei weiteren Beiträgen wurde auf die Privatisierungspolitik in der Bundesrepublik seit den 1980er Jahren eingegangen. Von Torsten Brandt und Thorsten Schulten (WSI) wurde eine insgesamt negative Bilanz gezogen und insbesondere auf die sozialen Konsequenzen von höheren Kosten und Preisen für ehemals öffentliche Dienstleistungen, von schlechterer Dienstleistungsqualität, Beschäftigungsabbau und Aushöhlung der Tarifpolitik hingewiesen. Die Privatisierungserlöse seien gering und einmalig, wogegen für den Staat anfallende mögliche Folgekosten überhaupt noch nicht abschätzbar seien. Weitere Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen sollten gestoppt, der öffentliche Sektor im Gegenteil gestärkt und ausgebaut werden. Als aktuelle Handlungsansätze für den DGB wurde vorgeschlagen, von der Bundesregierung ein Monitoring der Privatisierungsfolgen, eine Berichterstattung über alle Privatisierungen sowie ein Privatisierungsmoratorium zu fordern. Dierk Hirschel (DGB) ging auf die Unfähigkeit des Neoliberalismus ein, Daseinsvorsorge überhaupt privatwirtschaftlich zu organisieren und stellte aus gewerkschaftlicher Sicht Überlegungen zur Perspektive der öffentlichen Daseinsvorsorge vor. Sie müsste auf einem dem Gemeinwohl verpflichteten Sektor in der Wirtschaft basieren, in dem die öffentlichen Unternehmen eine Leitfunktion ausüben. Die Eigentumsfrage wurde als mehr oder weniger zentrale Frage bezeichnet. Dabei gehe es um demokratische Gestaltung von Politik überhaupt und um eine Renaissance der Wirtschaftsdemokratie.
Als Ergänzung dazu kann der Beitrag von Cornelia Heintze (Leipzig) gesehen werden. Sie wies am skandinavischen Modell nach, dass der starke öffentliche Bereich (Staatseigentum, Art und Qualität der öffentlichen Interventionen) und einflussreiche Gewerkschaften unverzichtbare Voraussetzungen für eine Wohlfahrtsorientierung sind. Der Erfolg der nordischen Länder beruhe auf einem ganzheitlichen und werteorientierten Weg für die Bewältigung von Zu-kunftsaufgaben, was grundlegende Unterschiede zur Orientierung in anderen Ländern ausmache. Beispielsweise, wurde angeführt, gehe es in der Debatte um öffentliche Dienstleistungen der Daseinsfürsorge in den skandinavischen Ländern um „gute“ Standards, während die Debatte in Deutschland um Mindeststandards geführt würde. Ein deutscher „Gewährleistungsstaat“ in diesem Sinne könne kein Leitbild für einen Wohlfahrtsstaat abgeben.
Im letzten Teil kam mit Siegfried Broß ein Richter am Bundesverfassungsgericht zu Wort, der auf die rechtlichen Bedenken bei der Ersetzung grundsätzlich staatlicher Aufgaben durch private Aufgaben hinwies. Zum Schluss forderte Wolfgang Uellenberg van Drawen (ver.di) als Konsequenz aus dem Zusammenbruch des neoliberalen Fürsorgestaates, die Marktwirtschaft wieder auf die Unternehmen zurückzuführen und den Staat davon frei zu machen. In den politischen Auseinandersetzungen um ein neues Leitbild für Staat und Gesellschaft sollten die Gewerkschaften mehr Gemeinsamkeiten beweisen und ihr Engagement für Bürgerinteressen verstärken.