Wie alljährlich seit 15 Jahren fand am ersten
Dezemberwochenende (6./7. Dezember 2008) in Kassel der 15.
Friedenspolitische Ratschlag statt, ein Kongress, der von der AG
Friedensforschung an der Universität Kassel in Zusammenarbeit
mit der Friedensbewegung veranstaltet wird. An dem Kongress
beteiligten sich nahezu 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aus
ganz Deutschland sowie aus einigen benachbarten Ländern kamen.
Diesjähriges Motto war: „Die Welt nach Bush“. In
vier Plenarveranstaltungen und 27 Workshops diskutierten die
Teilnehmer/innen u.a. über die weltpolitischen Implikationen
der Wahl Barack Obamas zum nächsten US-Präsidenten. Die
Veränderungen würden, so war herauszuhören, weniger
gravierend sein, als sich die Wählerinnen und Wähler
sowie die Demokraten in der übrigen Welt wünschen. Schon
die bisher sich abzeichnende Kabinettsliste Obamas betont eher die
Kontinuität amerikanischer Außenpolitik als den Wechsel
(change). Auf der anderen Seite werde die Entwicklung aber auch
abhängen von der Aktivität und vom Druck der Millionen
von vor allem jungen US-Bürger/innen, die Obama im Wahlkampf
unterstützt hatten (Ekkehart Krippendorff).
Große Übereinstimmung herrschte indessen darin, dass der
scheidende Präsident, George W. Bush, seinem Nachfolger ein
schweres Erbe hinterlässt: Die Staatsverschuldung hat eine
Schwindel erregende Höhe erreicht; die Rüstungs- und
Militärausgaben sind – auch proportional – auf dem
höchsten Stand in der Geschichte des Landes; die USA haben in
Afghanistan und Irak zwei große Kriege begonnen, deren Kosten
einschließlich Folgekosten nach Berechnungen von
Nobelpreisträger Joseph Stieglitz rund 3 Billionen US-Dollar
(3.000 Milliarden) betragen werden; die US-Administration um Bush,
Cheney und Condoleezza Rice hat internationale Verträge
aufgekündigt und Regeln des Völkerrechts außer
Kraft gesetzt; die USA haben unter dem Deckmantel des
„Antiterrorkampfes“ einen lang anhaltenden Krieg um die
Durchsetzung eigener wirtschaftlicher und energiepolitischer
Interessen begonnen; die Bush-Regierung hat mit Guantánamo
und Abu Ghraib gegen die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte und damit auch gegen die eigene Verfassung sowie
gegen die internationale Anti-Folter-Konvention verstoßen;
die Bush-Administration hat in der Folge all dessen dazu
beigetragen, dass das Ansehen der USA in der Welt auf einen
historischen Tiefpunkt gesunken ist. Damit habe sich der Prozess
des relativen Machtverlusts der Vereinigten Staaten, die aus dem
Kalten Krieg noch als die einzige Supermacht hervorgegangen waren,
beschleunigt. In der Zukunft werden neben den USA – die
selbstverständlich ein starker ökonomischer und
militärischer Akteur bleiben werden – neue „Global
Players“ auf den Plan treten und selbstbewusst ihre
Ansprüche auf eine größere Rolle in der Weltpolitik
anmelden: die Europäi-sche Union, Russland, China und Indien.
Selbst der traditionelle „Hinterhof“ der USA,
Lateinamerika, emanzipiert sich zunehmend von der
nordamerikanischen Hegemonialmacht (Norman Paech, Frank Deppe, Leo
Mayer).
Was die Situation an den derzeit wichtigsten
Kriegsschauplätzen Irak und Afghanistan betrifft, wurde die
Befürchtung geäußert, dass sich die Konflikte
künftig eher noch verschärfen würden. Dadurch
würden die Anforderungen an die europäischen NATO-Staaten
steigen, sich in den Konflikten – insbesonde-re in
Afghanistan – stärker zu engagieren. In verschiedenen
Vorträgen und Diskussionsrunden wurde die Meinung vertreten,
dass der Krieg in Afghanis-tan vom „Westen“
militärisch nicht zu gewinnen sei, ein Abzug demnach die
einzige Möglichkeit wäre, dem Land und seinen Bewohnern
eine nicht kriegerische Perspektive zu bieten (Matin Baraki). Dies
wurde gerade auch mit Berücksichtigung der Lage der Frauen
thematisiert (Ljiljana Verner). Elaheh Rostami Povey (London) etwa
begründete in einem Workshop und in der abschließenden
Podiumsdiskussion ihre pointierte Forderung: „Schützt
die Frauen Afghanistans – zieht die Besatzungstruppen
ab!“ und widersprach damit den westlichen Behauptungen,
wonach der Krieg gegen Afghanistan auch zur Befreiung der unter den
Taliban erniedrigten und unterdrückten Frauen geführt
werde; ein Thema, das im Übrigen von der Erlanger
Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer in einem anderen Workshop
mit zahlreichen weiteren Beispielen unterlegt wurde. Insgesamt habe
sich in Afghanistan, aber auch in Irak durch den Krieg und die
andauernde Besatzung nicht nur die Lage der Frauen, sondern die der
Zivilbevölkerung insgesamt verschlechtert – von der
Minderheit der Kriegsgewinnler abgesehen.
Hier müsse eine Diskussion um die – ausschließlich
zivile – Hilfe des Westens zum Wiederaufbau des vom Krieg
zerstörten Landes einsetzen, was selbstverständlich auch
die Forderung nach Reparationszahlungen der Aggressoren aufwarf. Es
fehlten auch nicht die kritischen Stimmen, die darauf hinwiesen,
dass die Kriegsdrohungen aus Washington gegen den Iran ja
keineswegs aufgehört hätten. Sollten die USA
tatsächlich in dem vorgesehenen Zeitraum einen Großteil
ihrer militärischen Fähigkeiten aus dem Irak abziehen,
ergebe sich für sie die Möglichkeit der Eröffnung
eines neuen Kriegsschauplatzes. Die designierte
US-Außenministerin Hillary Clinton hat sich im Vorwahlkampf
als Verfechterin eines besonders aggressiven Kurses gegenüber
Iran geoutet und schreckte nicht einmal vor einer atomaren
Vernichtungsdrohung zu-rück. Unabhängig von den
tatsächlichen nuklearen Ambitionen des iranischen Regimes
stehe das ölreiche Land (Rang 2 hinter Saudi-Arabien) als
Objekt der Begierde der USA auf deren Landkarte des „Greater
Middle East“.
Einen großen Raum nahm auf der Konferenz das Thema
„NATO“ ein (Uli Cremer, Lühr Henken, Arno Neuber,
Peter Strutynski). Das größte Militär-bündnis
seit Menschengedenken ist für über 70 Prozent der
weltweiten Rüstungsausgaben zuständig, kontrolliert etwa
drei Viertel des internationalen Waffenhandels, hat in den letzten
Jahren seine Grenzen immer weiter nach Osten verschoben und steht
möglicherweise auf dem Sprung, sich zu einem globalen
Militärpakt zu entwickeln, der seine Zuständigkeit
über den atlantischen Raum nach Asien und in die Pazifikregion
ausdehnt. Angesichts der bevorstehenden Feierlichkeiten der NATO zu
ihrem 60. Geburtstag im April 2009 sollte nach Meinung der
Kongressteilnehmer eine breite gesellschaftli-che Diskussion
über die Existenzberechtigung der NATO (die spätestens
seit der Auflösung des Warschauer Paktes historisch
überholt sei) sowie über ihre politische und
militärische Strategie beginnen. Hierfür müssten das
NATO-Jubiläum und die zeitlich vorgelagerte Münchner
„Sicherheitskonferenz“ – 2009 erstmals unter
neuer Leitung – genutzt werden.
Der Osterweiterung der NATO, die wohl erst an den Grenzen Russlands
haltmachen wird, stellt möglicherweise nur eine Etappe auf dem
weiteren Weg ihrer „Globalisierung“ dar. Die zunehmende
imperialistische Konkurrenz könnte bald ihre militärische
Entsprechung in der Aufnahme neuer Mitglieder im Fernen Osten
finden. Japan, von dessen Friedensverfassung (Art. 9) die
herrschende Elite sich befreien möchte, zählt zu den
ersten Aspiranten einer asiatisch-pazifischen NATO-Erweiterung.
Weitere Kandidaten sind Aust-ralien und Südkorea. Damit ist
die künftige Schlachtordnung abgesteckt: Die USA, die sich
immer schon als pazifische Nation verstanden haben, haben vor allem
die kommende Weltmacht China im Auge – in zweiter Linie
vielleicht auch Indien. Der Afghanistankrieg macht daher für
die USA nicht nur „Sinn“ wegen der potenziellen
Transit-Pipelines aus dem kaspischen Raum zum indischen Ozean,
sondern auch als geostrategischer zentraler Ort zur Kontrolle des
alten (Russland) und der neuen Kontrahenten (China und Indien). Die
NATO und mithin auch die sich militarisierende EU verfolgen
insoweit ähnliche Interessen wie die Führungsmacht USA
(Johannes M. Becker, Tobias Pflüger). Die Frage, wie weit die
NATO das Interesse des „ideellen Gesamtkapitalisten“
gegenüber dem Rest der Welt vertritt, oder ob innerhalb der
NATO bereits so große Widersprüche zwischen den Nationen
bzw. einzelnen Staatengruppen herangereift sind, die das
Militärbündnis in Frage stellen, bleibt vorerst
unentschieden. Eine friedensorientierte Kritik speist sich ohnehin
zunächst aus dem antimilitaristischen Konsens, wonach
Militär und Rüstung grundsätzlich abzulehnen sind,
und zum anderen aus der Kenntnis, dass jedes
Militärbündnis zur Funktionsweise des sattsam bekannten
„Sicherheitsdilemmas“ beiträgt und somit einen
höchst gefährlichen Rüstungswettlauf in Gang setzt,
an dessen Ende nicht mehr, sondern weniger Sicherheit für alle
steht.
In diesem Rahmen können die vielen anderen Themen, die beim
Ratschlag diskutiert wurden, auch nicht annähernd
vollständig wiedergegeben werden. Es zeigte sich, dass die
„klassischen“ internationalen Themen wie der
israelisch-palästinensische Konflikt (Wolfgang Sreter), der
Irakkrieg (Karin Leukefeld), die Situation der Kurden in der
Türkei (Engin Erkiner), der nach wie vor drohende Krieg gegen
Iran (Ali Fatholla Nejad), der zurückliegende Sommerkrieg in
Georgien (Kai Ehlers), die Gefährdung der Menschheit durch
Atomwaffen und die so genannte friedliche Nutzung der Atomenergie
(Angelika Claußen), die Umwand-lung von Wehrpflichtarmeen in
neuzeitliche „Söldnerheere“ (Ernst Woit), die
US-Militarisierung Afrikas (Werner Ruf) oder die mit viel Hoffnung
begleiteten Emanzipationsbewegungen in Lateinamerika (Achim Wahl,
Steffen Niese) immer wieder auf großes Interesse
stoßen. Gleichzeitig erfreuten sich Themen, die bislang eher
am Rande behandelt wurden, großer Resonanz: Das waren einmal
die Rekrutierungsstrategien und -praktiken der Bundeswehr (Heiko
Humburg, Jonna Schürkes) und zum anderen die Militarisierung
der inneren Sicherheit, die gerade im abgelaufenen Jahr mit
besonderer Vehemenz voran getrieben wurde, wobei die CDU/CSU ihren
Koalitionspartner SPD ein ums andere Mal in die Pflicht nahm (Rolf
Gössner). Der aufgrund der aktuellen Entwicklung ins Programm
genom-mene fulminante Vortrag von Rudolf Hickel über den
„Terror der Finanzmärkte“ trug zur
ökonomischen Alphabetisierung der Tagung bei und
hinterließ in zahlrei-chen anderen Foren und Workshops seine
Spuren.
Die politischen Signale, die von dem Kongress ausgingen, waren vor
allem an die Zunft der Friedensforscher/innen und an die
Friedensbewegung gerichtet. Wissenschaft solle wieder stärker
ihre Stimme erheben für die strikte Einhaltung des bedrohten
Völkerrechts, insbesondere seiner in Art. 2 UN-Charta
formulierten Kernbestandteile: Souveräne Gleichheit und
territoriale Unversehrtheit der Mitgliedstaaten,
„Gewaltverbot“ und
„Nichteinmischungsgebot“. Anstatt die unter dem Slogan
„Responsibility to Protect“ verkauften so genannten
humanitären Interventionen zu rechtfertigen, sollten deren
reale Ergebnisse untersucht und einer Evaluation unterzogen werden.
Hierzu erscheint voraussichtlich Anfang 2009 eine umfangreiche
Studie unter der Leitung von Werner Ruf und Peter Strutynski. Die
Zeitschrift Wissenschaft und Frieden plant hierzu ein Dossier. Die
Friedensbewe-gung dürfe angesichts der ideologischen
Übermacht der kriegsbefürwortenden Medien nicht klein
beigeben, sondern könne selbstbewusst an die überwiegend
kriegskritische Haltung der Zivilgesellschaft anknüpfen und
von hier aus nicht nur für eine Beendigung deutscher
Kriegsbeteiligungen eintreten, sondern auch die sie tragenden
Institutionen in Frage stellen: die „Armee im Einsatz“
Bundeswehr, die militärischen Komponenten des
Lissabon-Vertrags der Europäischen Union und – nicht
zuletzt – die NATO.