Editorial

Juni 2003

Die USA betrachten sich heute als globalen Hegemon; sie sind es, die den „Ausnahmezustand“ definieren. Diesen Anspruch setzten sie bereits mit dem Jugoslawien-Krieg durch und machten ihn im Irak-Krieg erneut geltend. Eine hegemoniale Rolle beanspruchen die USA nicht nur im Verhältnis zu „peripheren“ Ländern von geostrategischer Bedeutung, sondern auch gegenüber den anderen Zentren im gegenwärtigen Gefüge des internationalen Kapitalismus. Zentrale Interessen der USA gegenüber der EU betreffen hierbei die Sicherstellung des Dollar als globaler Währung und die Verhinderung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Umgekehrt wächst in der EU das Verlangen, diese auch militärisch handlungsfähig zu machen. Frank Unger hebt im einleitenden Beitrag hervor, dass die Amerika-kritische Haltung weltweit zugenommen hat. Der durch den Irak-Krieg hervorgerufene „Riss“ verläuft nicht zwischen Ländern und Regierungen, sondern geht durch die Länder hindurch. Aus der Kritik am weltpolitischen Kurs der USA Ansatzpunkte für einen neuformierten und demokratisch legitimierten Antikapitalismus zu entwickeln, betrachtet er als eine „Hauptaufgabe für die Öffentlichkeitsarbeit marxistischer Intellektueller“.

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Der Schwerpunkt des vorliegenden Heftes befasst sich mit der anstehenden EU-Osterweiterung. Im April wurde die Beitrittsakte von den Staats- und Regierungschefs der EU und der zehn Beitrittsländer – darunter acht mittel- und osteuropäische Länder – in Athen unterzeichnet. Die neue Erweiterungsrunde der EU findet in einer Phase wirtschaftlicher Krise und Stagnation statt. Bei den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern handelt es sich um ex-sozialistische, durch den Zusammenbruch ihrer Wirtschaft und deren – unter dem Einfluss des internationalen Finanzkapitals – kolonisierte Restrukturierung („Schocktherapie“) gekennzeichnete Länder. Mit welchen Kategorien lässt sich die Beziehung zwischen der EU und den Beitrittskandidaten fassen? Dorothee Bohle geht der Frage nach, ob und wie die begrifflichen Konzepte des Imperialismus und des abhängigen oder peripheren Kapitalismus zu einem besseren Verständnis des europäischen Einigungsprozesses beitragen können. Sie verweist auf die „asymmetrischen“ politischen und ökonomischen Beziehungen zwischen EU und Beitrittsländern, die sich u.a. in deren Handelsabhängigkeit, dem Entwicklungsgefälle und der Dominanz des ausländischen Kapitals in den strategischen wirtschaftlichen Sektoren ausdrückt. Bohle diskutiert insbesondere Tragfähigkeit und Grenzen der neogramscianischen Ansätze im Rahmen der neuen Imperialismus-Diskussion. Eine Übersicht zur Rolle der Bundesrepublik und des bundesdeutschen Kapitals im Prozess der Osterweiterung der EU gibt Melanie Wehrheim. Die Bundesrepublik ist aktiver Verfechter und Profiteur der EU-Osterweiterung. Wehrheim konzentriert sich auf die ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen. Sie hebt den starken Einfluss deutscher Unternehmen insbesondere in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik hervor, wobei Niedriglöhne und der Aufbau einer abhängigen spezialisierten Zuliefer-Industrie wichtige Motive sind. Diskutiert werden politische Aspekte – Regelung der Arbeitskräfte-Wanderung („Arbeitnehmerfreizügigkeit“), Grenzregime (Übernahme des Schengener Abkommens), Auseinandersetzung um die Beitritts-Finanzierung. Dass den Beitrittsländern keine gleichen ökonomischen und sozialen Rechte zugestanden werden, ergibt sich ebenfalls aus der Analyse der unter Finanzierungsgesichtspunkten zentralen Bereiche Agrar- und Strukturpolitik von Hans Watzek. Sie werden im Vergleich zu der EU der 15 signifikant weniger (pro Kopf nur ein Drittel) Strukturmittel erhalten und im Agrarbereich durch Produktionsbegrenzungen und niedrige Ausgleichszahlungen z.T. deutlich schlechter gestellt. Hier zeichnet sich eine Zwei-Klassen-EU ab.

Faktisch alle genannten Aspekte werden in dem abschließenden Bericht über eine Tagung linker Ökonomen aus Ost- und Westeuropa (EpoC-Netzwerk) zur EU-Erweiterung von Hermann Bömer und Klaus Steinitz thematisiert. Es geht um die EU-USA-Beziehung (Gowan), die „makroökonomische Selbstblockade“ der EU (Huffschmid), die Situation einzelner Beitrittsländer, um Finanz- und Regionalpolitik, Sozialsysteme und Arbeitsbeziehungen sowie Forderungen nach Reformen u.a. beim Einsatz der Strukturfonds (Bömer u.a.).

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Im Kontext der wieder „anziehenden“ Diskussion über soziale Ungleichheit, soziale Polarisierung und soziale Bewegungen (Globalisierungskritik) stellt Frank Deppe ein Problemszenario zu Veränderungen der Klassenverhältnisse und sozialen Bewegungen vor („Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung im 21. Jahrhundert“). Aspekte von Konjunktur und Krise behandeln Beiträge von Hans-Joachim Höhme, Gert Hautsch und Kai Eicker-Wolf. Höhme gibt eine Übersicht zur Weltwirtschaft und Konjunktur in der Bundesrepublik (Schwerpunkte sind das Ende des Krisenzyklus in den USA, die Ursachen der stagnativen Entwicklung in der Bundesrepublik und die Frage, ob in der Bundesrepublik eine „japanische Entwicklung“ zu erwarten ist). Hautsch untersucht die Umstrukturierung des Medienkapitals. Eicker-Wolf fragt nach der Tragfähigkeit der monetären Überlegungen von Marx. Der Zusammenhang von Gesellschaft, Alltagsbewußtsein und Unbewußtem ist Gegenstand des Beitrags von Karl Unger. Wer die These verficht, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt, sollte, so seine Empfehlung, auch die Theoretiker des Unbewussten zu Rate ziehen. Manfred Weißbecker setzt sich mit der Darstellung von „Helden“ und „Idolen“ des Sozialismus in Historiographie und Kulturwissenschaften auseinander. Elemente der politischen Theorie Leo Koflers und ihre Bedeutung für die politische Linke nach 1945 und für die Gegenwart diskutiert Christoph Jünke.

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Kai Michelsen, der der Redaktion gute fünf Jahre lang angehörte, ist aus beruflichen Gründen (gut für ihn) ausgeschieden (schlecht für uns). Er hat sehr viel zur Entwicklung der Zeitschrift beigetragen. Wir danken ihm für sein Engagement sehr herzlich.