Mit dem Beschluss der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf dem Gipfeltreffen Ende Oktober 2002 ist nun entschieden, dass 2004 die Aufnahme von acht mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) sowie von Zypern und Malta in die EU erfolgen soll. Damit wird auch das Ziel verfolgt, die Bürger der Beitrittsländer an den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2004 teilnehmen zu lassen. Der Beitritt Bulgariens und Rumäniens wird ab 2007 in Aussicht gestellt. Über den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden noch keine Entscheidungen getroffen.
Die Politik der EU und ihrer Institutionen, die weitere Gestaltung der Union in den nächsten Jahren sowie die Zukunft Europas werden in hohem Maße durch diesen Erweiterungsprozess bestimmt sein. Die Osterweiterung der EU wird mit weitreichenden Veränderungen verbunden sein. Nicht vor allem deshalb, weil das Territorium um ein Drittel und die Bevölkerung um ein Viertel wachsen. Veränderungen werden sich besonders zeigen in der Veränderung des politischen Klimas in der EU, der politischen und ökonomischen Gewichtung der Mitgliedsländer und auf den Feldern der Sozial-, Finanz-, Wirtschafts-, Agrar- und Strukturpolitik.
Die Diskussion und die Veröffentlichungen der letzten Jahre zu wichtigen Themen dieses Prozesses haben kaum zu breiter Auseinandersetzung über Chancen und Risiken der Osterweiterung geführt. Die Diskussion in den Beitrittsländern wird wesentlich durch die Auffassung geprägt, dass sie als kleine Länder einer großen Wirtschaftsgemeinschaft beitreten müssen und dass sie ohne diesen Beitritt chancenlos sind. Deshalb sind sie auch bereit, fast alle vorgegebenen Bedingungen der etablierten EU zu akzeptieren und nationale Interessen nur sehr zurückhaltend zu artikulieren und zu diskutieren.
Die herrschenden Eliten verfolgen bei der Gestaltung der Europäischen Union zunehmend eine neoliberale Strategie, die den Interessen der Großindustrie und des Finanzkapitals entspricht. Deren Inhalt bedeutet Deregulierung der Wirtschaft, Abbau sozialstaatlicher Aufgaben und Funktionen und die Unterordnung der Politik unter die Zwänge der Marktregulation.
Für die linken Kräfte Europas erwächst daraus die Aufgabe, dieser Entwicklung gegenzusteuern. Der Prozess der europäischen Integration darf nicht allein den Regierungen, Technokraten und Banken überlassen bleiben. Ein zukunftsfähiges Europa erfordert eine friedliche, demokratische Entwicklung, in der die Menschenrechte gewahrt und soziale Gerechtigkeit gesichert werden und die eine Produktions- und Lebensweise zum Inhalt hat, die Nachhaltigkeit sichert.
Die Vorbereitung der EU-Osterweiterung hat gezeigt, dass man sowohl in den Beitrittsländern als auch in der EU-15 viele Probleme vor sich her schiebt, die zu erheblichen Risiken und Diskrepanzen geführt haben und auch weiterhin führen können. Die Ursachen für diese Risiken sind vorrangig folgenden Tatsachen geschuldet:
– Bei den bisherigen Erweiterungsrunden der Europäischen Union waren die Beitrittskandidaten Länder mit entwickelter kapitalistischer Marktwirtschaft. Die kapitalistische Produktionsweise hatte über Jahrzehnte die Gesellschaft und Ökonomie geprägt. Außer Zypern und Malta sind die acht MOEL Transformationsländer im Übergang von einer staatlich gelenkten Planwirtschaft und dem damit verbundenen sozialen, kulturellen und juristischen Überbau zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Das führte und führt nicht nur zu grundsätzlichen Veränderungen der Eigentumsverhältnisse, sondern auch zu Veränderungen auf allen Gebieten der Gesellschaft.
In diesem Transformationsprozess kam es zu dramatischen Rückgängen und Einbrüchen in Produktion und Wertschöpfung. In vielen Bereichen sind die Ausgangswerte von 1990 noch nicht wieder erreicht. Das betrifft besonders auch die Agrarproduktion. Nur Slowenien hat das Produktionsniveau von 1990 wieder erreicht. Das Ergebnis der Agrarproduktion der anderen sieben MOEL liegt im Durchschnitt bei knapp 70 Prozent.
Obwohl auch in der EU-15 in der Wirtschaftsleistung (BIP je Einwohner) erhebliche Unterschiede bestehen, sind die Unterschiede der MOEL-Länder zum Durchschnitt der etablierten EU wesentlich gravierender. Bislang haben nur Zypern und Slowenien eine Wirtschaftsleistung erreicht, die den Ergebnissen der schwächeren Mitgliedsländer (Griechenland und Portugal) entspricht. Die anderen MOEL liegen deutlich darunter. In Polen beträgt das BlP je Einwohner, gemessen in Kaufkraftstandards, lediglich 40 Prozent des EU-Durchschnitts. Alle 10 Beitrittskandidaten erreichen im Durchschnitt nur etwa 50 Prozent (einfaches Mittel). Um in vertretbaren Zeiträumen eine Angleichung zu erreichen, wären in den neuen Mitgliedsländern Zuwachsraten erforderlich, die mit 4 Prozent und mehr über den Zuwachsraten der gegenwärtigen EU-Mitglieder liegen.
– Die Mitglieder der EU-15 haben, trotz der in den Europa-Abkommen vereinbarten asymmetrischen Liberalisierung, vom sogenannten Heranführungsprozess deutlich mehr profitiert als die MOEL. Im Außenhandel realisierten die EU-Mitglieder im letzten Zeitabschnitt einen jährlichen Überschuss von mehr als 10 Mrd. Euro. Selbst im Agrarhandel, der nur schrittweise liberalisiert wird, haben sich alle MOEL, außer Ungarn, zu Nettoimporteuren von Agrar- und Ernährungsgütern entwickelt. Die Marktöffnungen wurden bisher vor allem durch die EU-Mitglieder zur Exportexpansion genutzt. Hauptnutznießer, auch wegen der geografischen Lage, ist Deutschland.
Das führte zu einer wachsenden Staatsverschuldung der Beitrittsländer. Sie beträgt in Ungarn 56,7 Prozent, in der Slowakei 42 Prozent und in Polen 37,5 Prozent des B1P. Die Verschlechterung der Leistungsbilanz wird auch dadurch beeinflusst, dass sich der Zuwachs an Direktinvestitionen in den MOEL laufend verringert hat. Im Zeitraum 1994/98 stieg das Volumen der Direktinvestitionen um das 3,5 fache, im Zeitraum 1998/2001 nur noch um 15 Prozent.
Den mittelosteuropäischen Staaten wird immer mehr die Rolle einer verlängerten Werkbank, des Zulieferers und des kostengünstigen Nischen-Produzenten innerhalb einer von westeuropäischen Unternehmen organisierten Arbeitsteilung zugewiesen.
In dieser Politik zeigen sich auch bestimmte Parallelen zu den Prozessen, die sich nach dem Anschluss der DDR an die BRD in den neuen Bundesländern vollzogen haben.
– Das betrifft zuerst die spezifischen Probleme der Übertragung der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP) auf die Agrarwirtschaft der MOEL. Ein Problemkreis der auch bei den bisherigen Erweiterungsrunden der EU immer wieder zu langfristigen Vorbereitungsleistungen und langjährigen Übergangsregelungen führte. Im Niveau und der Struktur der Agrarwirtschaft gibt es sowohl zwischen den Beitrittsländern als auch zu den EU-15 erhebliche Unterschiede. Dieser Komplex, obwohl als kompliziert erkannt, ist nicht mit der notwendigen Konsequenz bei den Vorbereitungen bearbeitet worden. Er führte in der Endphase der Verhandlungen zu erheblichen Diskrepanzen und Auseinandersetzungen, die sich nach der Aufnahme der MOEL fortsetzen werden.
– Damit im Kontext ist als Ergebnis des Transformationsprozesses eine Zunahme regionaler Disparitäten innerhalb der Länder und zwischen ihnen zu verzeichnen. Sowohl in den urbanen wie auch in den traditionell landwirtschaftlich geprägten Gebieten (ländliche Räume) sind nur unzureichende Ressourcen für die Umstrukturierung und Modernisierung vorhanden. Besonders in ländlichen Regionen haben sich teilweise die sozialen, ökonomischen und infrastrukturellen Bedingungen verschlechtert. Die bisherigen Entscheidungen über die Höhe der Struktur- und Kohäsionsfonds für die neuen Mitglieder sichern nicht die unbedingt erforderlichen Veränderungen und Verbesserungen.
– Die unterschiedlichen Mentalitäten und Prägungen der Völker Ost- und Westeuropas, die insbesondere durch die fast 50jährige Trennung und die damit verbundenen gegensätzlichen politischen und soziokulturellen Erfahrungen und Prägungen beeinflußt sind, stellen eine Tatsache dar, die bei der Integration der MOEL stärker zu beachten ist.
Die Benachteiligung der Beitrittsländer, besonders bei den Entscheidungen zur Struktur- und Agrarpolitik
Bereits die Tagung des Europäischen Rates von Kopenhagen (1993) hat die Anforderungen für eine Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten festgelegt:
– Institutionelle Stabilität (als Garantie für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten);
– Funktionsfähige Marktwirtschaft (Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten);
– Fähigkeit, die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen (Politische Union, Wirtschafts- und Währungsunion) zu übernehmen und verwaltungsmäßig umzusetzen.
Neben diesen drei Grundforderungen geht es um die Übernahme des gesamten bestehenden rechtlichen Besitzstandes der Europäischen Union („acquis communautaire“). Dieser sogenannte Besitzstand der EU, den die Kandidaten in nationales Recht übernehmen und umsetzen müssen, hat einen Umfang von ca. 20.000 Rechtsakten mit 80.000 Seiten. Die Beitrittsländer sind verpflichtet, diesen Komplex, der in 31 Kapitel aufgeteilt ist, bis zur Aufnahme in die EU umzusetzen und anzuwenden.
Während bei den Verhandlungen mit den einzelnen Ländern eine abstrichlose Umsetzung dieses acquis communautaire einsch1ießlich wirksamer Kontrollmechanismen gefordert wurde, erfolgten bei den Entscheidungen zur Einbeziehung der neuen Mitglieder in die Förderung und Unterstützung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Entwicklung erhebliche Abstriche. Schwerpunkte sind die Struktur- und Agrarpolitik. Damit ist der Weg in eine Zwei-Klassen-EU vorgezeichnet.
Strukturpolitik
Die Strukturpolitik hat sich in den letzten 15 Jahren zu einem wichtigen Instrument des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts der EU entwickelt. Sie wurde zu einem Hauptpfeiler der gemeinsamen Politik ausgestaltet. Von den Politikfeldern, bei denen die ausschließliche Zuständigkeit der Organe und Institutionen der EU in Verträgen festgeschrieben ist – Struktur-, Agrar-, Außenhandels-, Wettbewerbs -und Geldpolitik – haben Struktur- und Agrarpolitik den höchsten Grad der Vergemeinschaftung. Sie beinhalten nicht nur die einheitliche Gesetzgebung und einheitliche verbindliche Rahmenbedingungen, sondern auch die gemeinsame solidarische Finanzierung dieser Politiken. Diese beiden Politiken beinhalten damit ein wichtiges Kriterium des „Solidarprinzips“, das wesentlich die Integration der Länder gefördert und die Gemeinschaft gefestigt hat. Das Solidarprinzip beinhaltet, dass der Starke dem Schwächeren durch Beitragszahlung zum EU-Haushalt nach der Wirtschaftskraft des jeweiligen Landes hilft und die Verteilung nach der Bedürftigkeit erfolgt.
Nach diesem So1idarprinzip ist allerdings Deutschland zum größten Nettozahler der EU geworden. Im Jahr 2000 z.B. hat Deutschland 9,3 Mrd. Euro mehr in den Brüsseler Haushalt eingezahlt als es über die verschiedenen Politikfelder zurück bekommen hat.
Sachlich beurteilt ist ein solches Verhältnis gerechtfertigt, ohne allerdings dabei auszuschließen, dass ein gerechteres System der Beitragsleistungen für den EU-Haushalt möglich wäre, z.B. die Aufhebung der Sonderegelungen für Großbritannien. Deutschland ist die größte Wirtschaftsmacht der EU und hat von der Integration mit die größten Vorteile. Im Jahr 2000 betrug der Beitragsanteil Deutschlands am EU-Haushalt 24,8 Prozent, der Anteil am Bruttosozialprodukt der 15 EU Mitglieder lag aber bei 27,5 Prozent. Vom Export Deutschlands gingen in den letzten Jahren fast 60 Prozent in die Gemeinschaftsländer. Der Anteil am Außenhandel der EU mit den Beitrittskandidaten beträgt fast 40 Prozent. Auch deshalb können die Vorschläge und Aktionen der Bundesregierung zur Renationalisierung von Politikfeldern der EU bzw. zur Reduzierung des Finanzrahmens für die neuen Mitglieder der Europäischen Union nicht akzeptiert werden.
Mit der Beschlussfassung über die Agenda 2000 (1999) erfolgten, abgeleitet von den bisherigen Ergebnissen der Strukturpolitik, bei der Überwindung der Differenzen und Rückstände auf sozialen, ökonomischen und ökologischen Gebieten der Länder und Regionen wichtige Veränderungen.
1. Eine stärkere Konzentration der Strukturfonds auf Gebiete mit den größten Rückständen und damit dem größten Bedarf. Entscheidend dafür war die Reduzierung der Anzahl der Ziele der Strukturpolitik von sieben auf drei. Gleichzeitig damit sank der Anteil der Bevölkerung der EU, für die Förderprogramme der Strukturpolitik eingesetzt werden sollten, von über 50 Prozent auf 35-40 Prozent.
2. Als Schwerpunkt der Strukturpolitik wurde das „Ziel eins“ deklariert. Dem „Ziel eins“ sind alle Gebiete und Regionen zugeordnet, deren Wirtschaftsleistung (BIP je Einwohner) unter 75 Prozent des EU-Durchschnittes liegt. In den Ziel-eins-Gebieten ist der ländliche Raum im Rahmen integrierter Förderprogramme einzubeziehen. In Deutschland gehören die neuen Bundesländer zu den Ziel-eins-Gebieten. Etwa 70 Prozent der Strukturfonds, einschließlich Kohäsionsfonds, werden für die Ziel-eins-Gebiete eingesetzt.
3. Im „Ziel zwei“ sind Regionen erfasst, die sich in wirtschaftlicher und sozialer Umstrukturierung befinden. Das können sowohl urbane als auch ländliche Gebiete sein.
4. Die Neuausrichtung der Strukturpolitik in der Agenda 2000 beinhaltet auch eine neue Zielrichtung. Das „Ziel drei“ ist auf die Förderung der Humanressourcen gerichtet. Schwerpunkte sind die Anpassung und Modernisierung der Bildungs-, Ausbildungs- und Beschäftigungspolitiken und Systeme. Das ist ein neuer wichtiger und richtiger Ansatz. Allerdings entstehen bei der Analyse der Ergebnisse der Bildungs- und Beschäftigungspolitik erhebliche Zweifel über die Wirksamkeit dieses Bestandteiles der Strukturpolitik. Es liegt auch bis heute noch keine Analyse über die Ergebnisse dieses Ziels vor.
Diese Ausrichtung der Inhalte der Strukturpolitik erfolgte auch im Hinblick auf die Osterweiterung der EU. Sie sollte günstige Bedingungen dafür schaffen, die Rückstände in den neuen Mitgliedsländern aufzuholen.
Nach den bisherigen Entscheidungen werden aber die neuen Mitglieder benachteiligt. Es geht bei dem Vergleich um den Zeitraum 2004 bis 2006 (Agendazeitraum). Über den Finanzrahmen nach 2006 sind noch keine Entscheidungen getroffen, mit der einen Ausnahme, dass die Mittel für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) ab 2006 (außer einem Inflationsausgleich) nicht mehr erhöht werden sollen. Wird vom gegenwärtigen Finanzrahmen der Agenda 2000 und von den Entscheidungen des Kopenhagener Gipfels ausgegangen, zeigt sich folgendes Bild:
Für die EU-l5 sind für die Strukturpolitik der nächsten drei Jahre 88,3 Mrd. Euro vorgesehen. Wenn weiterhin von etwa 70 Prozent der Mittel für die „Ziel-eins“-Gebiete, als dem Schwerpunkt der Strukturpolitik, ausgegangen wird, dann sind das etwa 62 Mrd. Euro. für dieses Ziel. In den Regionen, die dem „Ziel eins“ zugeordnet sind (vor a1lem die Südländer der EU, Irland und Ostdeutschland) leben etwa 90 bis 95 Mio. Bürger. Daraus ergibt sich, dass in diesen Gebieten (Wirtschaftsleistung unter 75 Prozent zum Durchschnitt der EU) in den nächsten drei Jahren je Einwohner Strukturfondsmittel von etwa 650 bis 660 Euro bereit stehen werden.
Für die Beitrittskandidaten, die acht mittelosteuropäischen Staaten, Zypern und Malta sind für den Zeitraum 2004 bis 2006 23 Mrd. Euro Strukturmittel bestätigt. Das sind knapp 6 Mrd. Euro unter dem Finanzrahmen der Agenda und 2,6 Mrd. Euro weniger als von der EU-Kommission vorgeschlagen.
Ausgehend von der gegenwärtigen Wirtschaftsleistung der Beitrittsländer liegen alle Länder und Regionen, mit Ausnahme von Zypern und vielleicht von Metropolen wie Prag oder Budapest, unter 75 Prozent der durchschnitt1ichen Wirtschaftsleistung der EU und sind damit Ziel-eins-Gebiete. In diesen Regionen leben etwa 75 Mio. Bürger. Wird wieder unterstellt, dass 70 Prozent der Strukturmittel für das „Ziel eins“ eingesetzt werden, dann sind das je Einwohner dieser Regionen der neuen Mitglieder nur etwa 215 Euro. Noch nicht einmal ein Drittel im Vergleich zu den „Ziel eins“-Regionen in den EU-15.
Ein Argument zur Begründung der Reduzierung der Strukturmittel, selbst des Kommissionsvorschlages, bestand darin, dass die notwendige Absorptionsfähigkeit in den neuen Mitgliedsländern nicht gegeben wäre. Die begrenzte Absorptionsfähigkeit wird mit mangelhaften institutionellen Strukturen und begrenzten administrativen Kapazitäten sowie mit Problemen der finanziellen Absicherung des Eigenmittelanteils beim Einsatz der Fördermittel begründet. Deshalb ist festgelegt, dass der Finanztransfer auch für die neuen Mitglieder auf 4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) begrenzt bleibt.
Bezogen auf die erreichte Wirtschaftsleistung 2001 beträgt aber der Anteil der vorgesehenen Strukturmittel am BIP in Polen nur 2,3 Prozent und in Tschechien nur 1,6 Prozent. Bei Berücksichtigung des Wachstums der Wirtschaftsleistung in den nächsten Jahren bleiben auch bei Zuführungen über die beiden anderen Ziele der Strukturpolitik die bereitgestellten Mittel weit unter 4 Prozent. Die Bewertung unzureichender Absorptionsfähigkeit ist auch eine Kritik an der EU-Kommission. In den letzten Jahren wurden jeweils etwa 3 Prozent des EU-Haushaltes (2,5 - 3 Mrd. Euro) für die Vorbereitung der Beitrittskandidaten bereitgestellt. Besonders mit dem PHARE-Programm sollte der Verwaltungs- und Insitutionsaufbau in den Ländern gefördert werden.
Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die Strukturpolitik hatte immer die Aufgabe, Rückstände in den Bereichen Wirtschaftsleistung, soziale Standards, Infrastruktur, Investitionen in Ländern und Regionen aufzuholen. Wenn für die neuen Mitglieder nur noch ein Drittel der Mittel bereitgestellt wird, dann ist die Wirksamkeit dieser Politik stark eingeschränkt. Die deutlichen Rückstände der neuen Mitglieder können damit nicht in vertretbaren Zeiträumen aufgeholt werden. Daraus können sich erhebliche Probleme für die ökonomische, soziale und ökologische Entwicklung in den neuen Mitgliedsländern ergeben. In diesem Zusammenhang soll auch auf die Entwicklung in Ostdeutschland verwiesen werden. Trotz umfangreicher Förderung (Ziel-eins-Gebiet) ist noch keine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung erreicht, sie ist vielmehr von erheblichen sozialen Verwerfungen gekennzeichnet.
Agrarpolitik
Obwohl aus den bisherigen Erweiterungsrunden der EU bekannt war, dass der Bereich der Agrarpolitik und Ernährungswirtschaft zu den kompliziertesten gehörte und langwierige Vorbereitungsarbeiten und langjährige Übergangsregelungen erfordert, wurden für die Beitrittsverhandlungen mit den MOEL kaum Schlussfolgerungen gezogen. Das Kapitel Agrarpolitik hat man vor sich her geschoben und dann unter Zeitdruck verhandelt.
Die Schwierigkeiten ergaben und ergeben sich vorrangig aus der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP). Die Römischen Verträge von 1957 leiteten diese gemeinsame Agrarpolitik ein, und die weitere Entwicklung führte dazu, dass die Mitgliedsländer der Gemeinschaft – zu Gunsten gemeinsamer, einheitlicher Rahmenbedingungen und Instrumentarien – auf wesentliche Teile der nationalen Souveränität und Entscheidungen verzichteten. Die Agrarwirtschaft ist heute ein Bereich, der weitgehend auf der Grundlage einheitlicher, verbindlicher Rahmenbedingungen gestaltet und finanziert wird. Ausdruck dieser Politik sind Begrenzungen und Regulierungen der landwirtschaftlichen Produktion durch Festlegung von Quoten für bestimmte Produkte und Stillegungspflichten für landwirtschaftliche Nutzflächen, der staatliche Aufkauf von Überschussproduktion (Intervention) sowie Ausgleichszahlungen für die Mehrzahl der Produkte der Landwirtschaftsbetriebe. (Ausgleich zwischen den Produktionskosten der europäischen Landwirtschaft und den Weltmarktpreisen für Agrarprodukte). Die negativen Seiten dieser Entwicklung bestehen in der deutlichen Einschränkung marktwirtschaftlicher Prinzipien und Regularien und deren Ersatz durch Reglementierung und Bürokratisierung. Eine Folgerung war die Abschottung des Agrarmarktes der EU gegenüber Drittländern (Schutzmechanismen gegenüber Agrarimporten aus Nichtmitgliedsländern).
Wie bei der Strukturpolitik ist auch bei der Agrarpolitik der hohe Vergemeinschaftungsgrad (einheitlich verbindliche Rahmenbedingungen und Regularien) mit einer gemeinsamen Finanzierung verbunden. In der finanziellen Vorausschau für den Zeitraum 2000 - 2006 werden etwa 42 Prozent der Mittel des EU-Haushaltes für die gemeinsame Agrarpolitik und rund 30 Prozent für die Strukturpolitik ausgegeben. Ähnlich wie bei der Strukturpolitik sind die Entscheidungen bei der Agrarpolitik mit Benachteiligungen der neuen Mitglieder verbunden.
Zusätzliche Probleme ergeben sich in der Agrarwirtschaft der neuen Mitglieder, im Vergleich zu den bisherigen EU-Erweiterungen, aus den erheblichen ökonomischen, strukturellen und sozialen Differenzen der MOEL zu den Mitgliedern der EU. Neben den bereits genannten Schwierigkeiten, die aus dem Transformationsprozess von einer staatlichen P1anwirtschaft zur Marktwirtschaft resultieren, sind es vorrangig folgende Komplexe:
1. Die Agrarwirtschaft hat in den MOEL eine größere wirtschaftliche und soziale Bedeutung als in den EU-15. Das hat auch historische Ursachen. Die größere Bedeutung der Agrarwirtschaft widerspiegelt sich im Anteil der Landwirtschaft an der Bruttowertschöpfung. In der etablierten EU beträgt sie im Durchschnitt 2,1 Prozent. Dem gegenüber in Litauen 7,2 Prozent, in der Slowakei 4,6 Prozent, in Tschechien 4,2 Prozent und in Polen 3,4 Prozent. Damit hat die Landwirtschaft bei den neuen Mitgliedern ein größeres ökonomisches und soziales Gewicht, noch erhöht bei Einbeziehung der Vorleistungsbereiche und der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Dieser Bereich bleibt deshalb ein wichtiger Faktor der ökonomischen und sozialen Stabilisierung und Entwicklung. Der Aufholprozess bei den Produktionseinbrüchen darf nicht unterbrochen werden. Im Gegenteil, die Agrarwirtschaft ist und bleibt ein stabilisierender Faktor der mikroökonomischen Entwicklung in den MOEL.
2. In der Landwirtschaft der mittelosteuropäischen Länder ist ein bedeutend größerer Anteil der Erwerbstätigen beschäftigt. In den MOEL sind etwa 9,1 Mio. Menschen in der Landwirtschaft tätig, im Vergleich dazu 6,7 Mio. in der 15er Gemeinschaft. Die Produktivität liegt bei weniger als einem Fünftel des EU-Wertes. Auf einen Hektar Fläche kommen im Durchschnitt dreimal so viele Arbeitskräfte wie in der EU. In Zahlen ausgedrückt: In der EU beträgt der Anteil der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft im Durchschnitt 4,5 Prozent, in Polen 20 Prozent, in Litauen 17 Prozent, in der Slowakei 6,3 Prozent und in Ungarn 6,1 Prozent. Das zeigt einerseits einen großen Arbeitskräfteüberschuss in der Landwirtschaft, andererseits die Notwendigkeit der Schaffung von Beschäftigungsalternativen außerhalb der Landwirtschaft. Diese Bewertung ist auch für den Gesamtkomplex Agrarwirtschaft (einsch1ießlich Vorleistungen und Verarbeitung) zutreffend. In Polen sind über 40 Prozent der Beschäftigten in diesem Bereich tätig.
Da sich ähnliche Prozesse auch in anderen Wirtschaftsbereichen vollziehen, wird die Eingliederung freizusetzender Arbeitskräfte in anderen Bereichen nur begrenzt möglich sein. Auch die absehbaren finanziellen Ressourcen werden kaum ausreichen, um durch die Entwicklung der ländlichen Räume in größerem Umfang neue Arbeitsplätze zu schaffen. Bezogen auf Polen, das nach Fläche und Einwohnern größte Land, bedeutet eine Halbierung der Beschäftigten in der Landwirtschaft die Freisetzung von etwa 2 Mio. Arbeitskräften, deren Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess etwa 200 Mrd. Euro Investitionen erfordert.
3. Bis 1990 war mit Ausnahme von Polen und Slowenien die Landwirtschaft der MOEL durch große Produktionseinheiten in der Rechtsform von Genossenschaften und Staatsgütern charakterisiert. Die mit der politischen Wende eingeleitete Umstrukturierung und Privatisierung führte zu grundlegenden Strukturveränderungen, die auch noch nicht abgeschlossen sind. Während gegenwärtig in der Slowakei 77 Prozent, in Tschechien 75 Prozent und in Ungarn 45 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche von Agrargenossenschaften und Kapitalgesellschaften bewirtschaftet werden, sind es in Polen und Slowenien vorrangig Kleinstbetriebe. Vor allem Polen hat eine stark zersplitterte Betriebsstruktur. Bei etwa 3 Millionen Landwirtschaftsbetrieben verfügt die Hälfte davon nur über eine Nutzfläche von unter 5 Hektar. Das sind Subsistenzwirtschaften, die nicht für den Markt produzieren. Die Nebenerwerbsbetriebe in Deutschland bewirtschaften im Durchschnitt in den alten Bundesländern 14 Hektar, in Ostdeutschland 20 Hektar.
Die Erfahrungen aus der Transformation in Ostdeutschland
besagen, dass es vorteilhaft ist, eine unterschiedlich
strukturierte Landwirtschaft zu entwickeln, die einen Mix
verschiedener Eigentumsformen und größere
Produktionseinheiten beinhaltet. So werden auf dem Gebiet der
ehemaligen DDR 31 Prozent der Nutzfläche von
Agrargenossenschaften, 22 Prozent von Kapitalgesellschaften, 24
Prozent von Personengesellschaften und 23 Prozent von Einzel-
unternehmen bewirtschaftet. Mit dieser Struktur hat sich die
ostdeutsche Landwirtschaft innerhalb der EU als
konkurrenzfähig erwiesen.
4. In den letzten Fortschrittsberichten zur Vorbereitung der Aufnahme der neuen Mitglieder kommt die EU-Kommission zu dem Ergebnis, dass bei der Lebensmittelsicherheit sowie den Veterinär- und Hygienestandards und in der Verarbeitungsindustrie der Beitrittsländer noch dringender Handlungsbedarf besteht. Das weist darauf hin, dass die Investitionen im verarbeitenden Gewerbe bisher nicht ausreichten und die ordnungspolitischen Vorbereitungen unzureichend sind, um die EU-Standards zu sichern. In die Beitrittsverträge werden deshalb Schutzklauseln eingebaut, die der EU-Kommission oder einem Mitgliedsstaat die Möglichkeit einräumen, spezifische Schutzmaßnahmen gegenüber einem Beitrittsland einzuleiten. Damit werden die neuen Mitglieder bei der Nutzung der Möglichkeiten des einheitlichen Binnenmarktes einseitig benachteiligt.
Trotz dieser Probleme sind Entscheidungen getroffen worden, die eine eindeutige Benachteiligung der Bauern der Beitrittsländer darstellen. Sie betreffen Produktionsbegrenzungen und die finanziellen Ausgleichsleistungen entsprechend den Instrumentarien der Gemeinsamen Agrarpolitik.
Wie bereits ausgeführt beinhaltet die GAP als Regulationsinstrument zur Produktionsbegrenzung ein Quotensystem, das Obergrenzen für bestimmte Produkte festlegt. Das betrifft vor allem die Milch-, Zucker- und Stärkeproduktion. Mit den Entscheidungen zur Höhe der Produktionsquoten haben die neuen Mitglieder keine Möglichkeiten zur weiteren Steigerung der Produktion. Als Referenzzeitraum für die Quotenfestlegung gilt 1995-1999. Die Produktionssteigerung der letzten Jahre bleibt unberücksichtigt. Bei der Milchproduktion ergibt sich daraus folgende Konstellation: Die Kandidatenländer produzieren gegenwärtig nur etwa 18 Prozent der Milchmenge der 15er Gemeinschaft. Sie erreichten 2001 22 Mio. Tonnen. Aufgrund des Referenzzeitraumes beträgt die Quote aber nur 18 Mio. Tonnen. Damit wird den Bauern in der 15er Gemeinschaft das Recht eingeräumt, im Durchschnitt 320 kg Milch je Einwohner zu produzieren, den Bauern der neuen Mitglieder nur 240 kg.
Die Entscheidungen über Ausgleichszahlungen für die Bauern nach den Regularien der GAP waren durch zähe Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Die Ursache dafür liegt in den Festlegungen der Agenda 2000. Im Finanzrahmen der Agenda sind keine Mittel für Ausgleichszahlungen an die Bauern der Beitrittsländer vorgesehen. Die Begründung lautete, dass die Erzeugerpreise landwirtschaftlicher Produkte zum Zeitpunkt des Beitritts noch unter den Weltmarktpreisen liegen werden und deshalb die Notwendigkeit von Ausgleichszahlungen entfalle. Bereits in den letzten Jahren lagen aber die Erzeugerpreise über den Weltmarktpreisen, und einige Länder mussten schon eigene Lösungen entwickeln. Das zweite Argument behauptete, die Ausgleichszahlungen könnten zu sozialen Disparitäten im Verhältnis zum Einkommen in anderen Wirtschaftszweigen führen. Auch diese Begründung ist nicht stichhaltig. Während in der EU-15 das Einkommen der Bauern mit etwa 15-20 Prozent unter dem Einkommen vergleichbarer Berufe liegt, ist diese Differenz in den MOEL wesentlich größer. Nach Erhebungen in Polen liegt das Einkommen der Bauern bei weniger als 50 Prozent des Einkommens aus vergleichbaren Tätigkeiten. Eine Studie des Instituts für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa Halle besagt, das Jahreseinkommen der Bauern in Ostpolen betrage nur 1.000 Euro.
Das Kompromissergebnis der Verhandlungen beinhaltet nun, dass im Beitrittsjahr den Bauern 25 Prozent der Zahlungen in der 15er Gemeinschaft gewährt werden, 2005 35 Prozent und dann weitere jährliche Steigerungen, um bis 2013 auf hundert Prozent zu kommen.
Real können aber diese Zusagen kaum eingehalten werden. Nach den letzten bekannten Entscheidungen sind für die Beitrittsländer für den Zeitraum 2004 bis 2006 im Kapitel Agrarpolitik 998 Mrd. Euro vorgesehen: 2,7 Mrd. Euro Direktbeihilfen, 2,0 Mrd. Euro Marktordnungskosten und 5,1 Mrd. Euro ländliche Entwicklung. Bezogen auf die Hektarfläche sind das für den genannten Zeitraum nur 23 Prozent der finanziellen Mittel, die der Agrarwirtschaft der EU-15 bereitgestellt werden. Bezogen auf die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft sind es nur 9.8 Prozent in Vergleich zur 15er Gemeinschaft. Natürlich haben die neuen Mitgliedsländer einen sehr hohen Arbeitskräftebesatz in der Landwirtschaft, er kann aber nur schrittweise abgebaut werden.
Bei diesen finanziellen Rahmenbedingungen werden einige Kandidatenländer nach dem Beitritt schlechter gestellt sein als in der Vorbereitungsphase. Auch deshalb, da mit der Mitgliedschaft, abhängig von der Wirtschaftsleistung, Zahlungen zum EU-Haushalt fällig werden. Das betrifft Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen. Deshalb mussten für diese Länder Kompensationszahlungen im EU-Haushalt bis 2006 vorgesehen werden.
Diese Entscheidungen tragen Züge einer Zwei-Klassen-EU. Welche politischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen mit einer solchen Politik verbunden sind, werden die nächsten Jahre zeigen.
Literatur:
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Situationsbericht 2003. Trends und Fakten zur Lage der deutschen Landwirtschaft, Deutscher Bauernverband, 2003
Zur Lage der Landwirtschaft in der Europäischen Union, Bericht der Europäischen Kommission, 2002