Konjunktur und Krise

Weltwirtschaft und deutsche Konjunktur 2002/2003

Juni 2003

Die Gesamtdaten der Weltwirtschaft für 2002 bieten ein etwas günstigeres Bild als im Jahr zuvor, denn die Entwicklung war nicht mehr im gleichen Maße durch akute Krisenerscheinungen geprägt.[1] Dahinter verbirgt sich jedoch eine durch Schwankungen im Jahresverlauf und Differenzierungen zwischen Ländern sowie nicht zuletzt durch zunehmende Unsicherheiten bei Konsumenten, Unternehmen und Regierungen beeinträchtigte Entwicklung. Auch jede Einschätzung der künftigen Wirtschaftsaussichten unterliegt erheblichen Unwägbarkeiten, sowohl hinsichtlich der unmittelbaren Folgen des Irakkrieges wie auch im Blick auf die weitere politische Entwicklung in der Nahost-Region, bis hin zu der realen Gefahr, die unberechenbare US-Administration könnte sich ermutigt fühlen, alsbald den nächsten Weltordnungskrieg gegen einen „Schurkenstaat” folgen zu lassen.

1. Internationale Wirtschaftsentwicklung ohne
durchgreifende konjunkturelle Belebung

Der Abschluss der zyklischen Krise in den USA

In den USA setzten sich während des vergangenen Jahres konjunkturelle Belebungstendenzen soweit durch, dass es insgesamt zu einer Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,4 Prozent kam. Dabei war die private Konsumtionsnachfrage mit einer Zunahme um insgesamt 3,1 Prozent erneut eine wichtige Konjunkturstütze. Eine große Rolle spielte wie schon im Jahr zuvor die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern, die im Jahresdurchschnitt 2002 noch einmal real um 7,3 Prozent (2001: 6,0 Prozent) stieg. Dieser Konsumboom wurde wesentlich durch niedrige Zinsen und damit verbundene günstige Finanzierungsbedingungen stimuliert. Am stärksten gewachsen ist unter den Nachfragesektoren jedoch der Staatsverbrauch, der real um 4,4 Prozent zunahm. Dies ist in erster Linie eine Folge der enorm erhöhten Rüstungsaufwendungen, die im vergangenen Jahr fast zwei Drittel des Etats der Bundesregierung ausmachten und mit rund 9,5 Prozent die höchste jährliche Steigerungsrate seit dem Ende des Vietnamkrieges erreichten.

Eine nur geringe konjunkturstimulierende Rolle spielten dagegen 2002 mit einer realen Gesamtzunahme um knapp 1 Prozent – aber bei sehr unterschiedlicher Entwicklung ihrer Hauptbereiche – die privaten Investitionen. Die relativ günstigste Entwicklung hatten die Wohnungsbau-Investitionen mit einem Zuwachs um knapp 4 Prozent zu verzeichnen. Dagegen vertiefte sich bei den Wirtschaftsbauten der Unternehmen die Krise im Jahresverlauf mit einem Gesamtrückgang um 16,4 Prozent noch weiter. Die Ausrüstungs- und Softwareinvestitionen waren zwar im Jahresdurchschnitt noch um 1,7 Prozent geringer als im Vorjahr; ihr Rückgang kam jedoch in der Jahresmitte zum Stillstand und ging während des 2. Halbjahres in ein schwaches Wachstum über. Die Industrieproduktion nahm während der ersten Jahreshälfte 2002 zunächst geringfügig zu, stagnierte danach bis in die ersten Monaten dieses Jahres aber wieder weitgehend. Am Arbeitsmarkt sind bislang keine spürbaren Aufwärtstendenzen zu erkennen. Die Arbeitslosenquote ist vielmehr seit Mitte 2001 noch etwas angestiegen.

Dieser Überblick zeigt, dass die zyklische Krise, die im Herbst 2000 eingesetzt hatte, nach einem relativ milden Verlauf während des vergangenen Jahres zu Ende gegangen ist. Einem tieferen, crashartigen Einbruch wurde vor allem durch eine stark expansive Geld- und Finanzpolitik entgegen gewirkt.

Die schnell auf die Konjunktur reagierende Zinspolitik der US-Notenbank senkte die Leitzinsen allein innerhalb des Jahres 2001 von 6,5 Prozent auf 1,75 Prozent; inzwischen haben sie sogar 1,25 Prozent erreicht. Die staatliche Finanzpolitik wirkte auf zwei Wegen konjunkturstützend. Mit Steuersenkungen, die teilweise mit schnell wirksamen Rückerstattungen verbunden waren, sowie mit Konjunkturmaßnahmen auf der zivilen Ausgabenseite wurden im Grunde Instrumente des klassischen Keynesianismus benutzt.

Zugleich wurde – vor allem nach dem 11. September 2001 und in Vorbereitung des Angriffs auf den Irak – mit einer drastischen Erhöhung des Rüstungsetats sowie der Ausgaben für den inneren Sicherheits- und Überwachungsapparat zunehmend ein „schmutziger” Keynesianismus praktiziert. Dies hat jedoch wesentlich zu einer radikalen Verschlechterung der Haushaltssituation beigetragen. Hatte Bush bei seinem Amtsantritt den Bundesetat 2000 noch mit einem Überschuß von 87 Mrd. Dollar übernommen, so wies der Haushalt 2002 schon ein Defizit von 157 Milliarden auf, das noch weiter kräftig ansteigen wird.

Die auf diese Weise gemilderte Krise konnte allerdings auch ihre Entwertungsfunktion nicht ausreichend erfüllen. Während des langen Aufschwungs der 90er Jahre war es zu einem überhitzten Anstieg der Aktienkurse gekommen, bei dem die Bewegung des aufgeblähten fiktiven Kapitals sich immer mehr von der realwirtschaftlichen Entwicklung löste. Von den Akteuren aber wurde sie zunehmend mit realer Wirtschaft verwechselt und steigende Börsenkurse als wirkliche Wertzuwächse angesehen. Zugleich wurden in der Realwirtschaft die Investitionen forciert und die Kapazitäten weit über die mögliche Nachfrageentwicklung hinaus ausgeweitet. Der dadurch entstandene enorme Kapitalüberschuss und die mit ihm verbundenen Akkumulationshemmnisse sind in der jüngsten Krise nicht in einem solchen Maße gewaltsam reduziert worden, dass die Neuanlage von Kapital wieder profitabel genug wird, um einen gesamtwirtschaftlich durchgreifenden Akkumulationsaufschwung zu stimulieren.

Die schwache Nutzung der vorhandenen Produktionskapazitäten und die in den USA noch nicht geleerte Börsenblase sind signifikante Anzeichen dafür. So wies die Kapazitätsauslastung in der Industrie auch zu Beginn dieses Jahres noch den gleichen niedrigen Stand von rund 73,5 Prozent wie auf dem Tiefpunkt der Krise auf. Die Aktienkurse in den USA sind zwar unter Schwankungen während der mehr als dreijährigen Baisse bis kurz vor dem Irakkrieg um rund ein Drittel gesunken. Viele Experten halten sie jedoch immer noch für deutlich überbewertet. Darauf weist die Tatsache hin, dass der Kursabsturz an anderen Börsen der Welt, insbesondere in Europa, noch weitaus tiefer war. So sank der Dax in diesem Zeitraum um mehr als zwei Drittel und der Londoner FTSE-Index wurde halbiert.

Auch die in den USA im Vergleich zu anderen Ländern ungünstiger ausfallenden Bewertungskriterien für Aktienkurse, wie die Relationen zwischen Kursen und Gewinnen oder zwischen Marktwerten der Reinvermögen und Wiederbeschaffungskosten der jeweiligen Unternehmen am Aktienmarkt, weisen in die gleiche Richtung.

Rüstungskonjunktur?

In dieser Situation einer zwar schwachen, aber immer noch etwas stärker als in den meisten anderen Industrieländern wachsenden Konjunktur haben die USA ihren angekündigten Krieg gegen den Irak begonnen. Bei den Einschätzungen der Folgen dieses Krieges für die Weltwirtschaft und die US-Wirtschaft mehren sich angesichts der relativ kurzen Kriegsdauer die Stimmen, die mit positiven Wirkungen für die Weltkonjunktur rechnen. Diese Prognosen haben angesichts der realen Bedingungen eine gewisse Berechtigung, allerdings unter der Einschränkung, dass diese Wirkungen nur von kurzer Dauer sein werden und in erster Linie die USA davon profitieren.

So wird der Ersatz der in diesem Krieg verpulverten Bomben, Marschflugkörper und Munition sowie des zerstörten oder beschädigten Kriegsgeräts der Siegerstaaten der dortigen Rüstungsindustrie für eine gewisse Zeit auf Kosten der Staatskassen volle Auftragsbücher sichern.

Auch vom Wiederaufbau der im Krieg, durch die Sanktionen oder während der chaotischen Zustände nach den Kampfhandlungen zerstörten oder beschädigten Infrastruktureinrichtungen, Ölförderanlagen und Wohngebäude werden die USA am meisten profitieren. Während an den immensen Kosten, deren Gesamthöhe derzeit noch nicht einzuschätzen ist, der Irak selbst mit einem Teil seiner künftigen Öleinnahmen und nicht am Krieg beteiligte Länder möglichst weitgehend beteiligt werden sollen, sind die Aufträge und die daraus zu erzielenden Profite vorwiegend US-Unternehmen zugedacht. Beides kann in den USA für einige Branchen durchaus als eine Art Konjunkturspritze wirken und die Belebungstendenzen verstärken.

Zwillingsdefizit

Eine solche, nur einen Teil der Wirtschaft begünstigende und befristete Kriegskonjunktur wird jedoch keineswegs die zuvor skizzierten Konflikte lösen und die in der Krise noch nicht beseitigten Kapitalverwertungsprobleme aus dem Weg räumen können. Dies gilt um so mehr, als sich gegenwärtig noch eine andere Disparität der US-Wirtschaft verschärft, das „Zwillingsdefizit“, also ein gleichzeitiges Defizit im Staatshaushalt und im Waren- und Dienstleistungsverkehr mit dem Ausland. Das Haushaltsdefizit wird, vor allem infolge des Krieges, in noch schnellerem Tempo als bisher ansteigen; für 2003 wird sein Umfang bisher auf mindestens 450 Milliarden Dollar geschätzt.

Defizite in der Handels- und Leistungsbilanz sind für die USA an sich eine Normalität; neu ist jedoch ihr ungewöhnlicher Anstieg während der letzten Jahre. 2002 bezogen Staat, Unternehmen und Verbraucher der USA für 488,6 Milliarden Dollar mehr Waren und Dienstleistungen aus dem Ausland als dorthin verkauft wurden. Dieses Defizit hat sich damit seit 1997 mehr als vervierfacht. Für das laufende Jahr wird sogar mit einem Anstieg auf rund 600 Milliarden gerechnet. Ein Ausgleich dafür muss durch Kapitalzuflüsse aus dem Ausland erfolgen. Die Amerikaner leben also im Grunde über ihre Verhältnisse, und das Funktionieren ihrer Wirtschaft hängt gegenwärtig weitgehend davon ab, dass ein enormer und wachsender Zustrom ausländischen Kapitals, das einen großen Teil der weltweiten Ersparnisse ausmacht, permanent in ihr Land fließt. Dieser Geldzufluss ist damit zu einer Existenzbedingung der derzeitigen politischen und ökonomischen Machtstellung der USA geworden, deren Regierung sich die zur Durchsetzung ihrer „amerikanischen” Weltordnung benötigten Mittel somit zum großen Teil beim Rest der Welt pumpt.

Diese Schuldenspirale bringt zugleich einen wachsenden Zwang für die Finanz- und Geldpolitik mit sich, die USA als Anlageland für ausländisches Kapital attraktiv zu erhalten. In diese Richtung gehende Maßnahmen, wie Zinserhöhungen oder die von Bush beabsichtigten Senkungen der Steuern auf US-Anlagen, werden aber entweder über Kreditverteuerungen konjunkturdämpfend wirken oder die Deckungslücken des Hauhalts noch weiter aufreißen. Damit sind zusäzliche Zielkonflikte programmiert. Dies alles kann nicht als gute Ausgangspositionen für einen kräftigen, die übrige Weltwirtschaft mitziehenden Aufschwung bewertet werden. Und andere Regionen oder Länder knnen eine solche Rolle gegenwärtig schon gar nicht übernehmen.

Konjunkturelle Trends in den anderen Weltwirtschaftsregionen

Die Entwicklung der japanischen Wirtschaft ist seit dem Platzen der spekulativen Aktienkurs- und Immobilienpreisblase Ende der 80er Jahre und der danach weitgehend ungelösten Kapitalentwertungsprobleme durch wiederkehrende Wechsel zwischen relativ kurzen Perioden eines schwachen Wachstums, eines meist eher moderaten Rückgangs oder einer Stagnation der ökonomischen Aktivitäten geprägt. Im vergangenen Jahr gab es Anzeichen des allmählichen Herauskommens aus der akuten Krisensituation, ohne dass sich die Belebungstendenzen aber eindeutig durchsetzten. Der Rückgang des Sozialprodukts kam zwar zu Beginn des Jahres 2002 zum Stillstand und ging in den beiden folgenden Quartalen in ein leichtes Wachstum über, aber bereits gegen Jahresende stockte dieser Belebungsprozess wieder, das BIP stagnierte und die Industrieproduktion ging sogar zurück.

Tabelle 1: Jährliche Wachstumsraten in der Weltwirtschaft (in Prozent)

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(1) Ehemals sozialistische Staaten Europas und früher zur UdSSR gehörende asiatische Staaten. (2) Einschließlich China und Vietnam. Quellen: Eig. Ber. nach: IMF, World Economic Outlook, Database, April 2003; OECD, Main Economic Indicators u. Quarterly National Accounts, lfd. Abweichungen von den in der Übersicht in Z 50 enthaltenen Angaben für frühere Jahre resultieren daraus, dass der IWF (vor allem für 2001) inzwischen eine Reihe seiner Daten rückwirkend korrigiert hat.

In den westeuropäischen Industrieländern, in denen die krisenhafte zyklische Abschwächung im Jahr 2001 überwiegend milde verlaufen war, haben sich die Hoffnungen auf eine deutliche Belebung der konjunkturellen Dynamik während der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres nicht erfüllt. So war die EU im Jahresdurchschnitt 2002 mit einer Zuwachsrate ihres Bruttoinlandsprodukts von 1,1 Prozent nach Lateinamerika die wachstumsschwächste Region der Weltwirtschaft. Neben Deutschland hatten vor allem Italien, die Niederlande, Belgien und Portugal eine unterdurchschnittliche Zunahme des BIP zu verzeichnen, die dort mit Rückgängen der Industrieproduktion verbunden war.

Auch in den anderen Ländern blieb die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, insbesondere die Investitionstätigkeit, erheblich hinter den noch zum Jahrsbeginn 2002 geäußerten Prognosen zurück.

Eine vergleichsweise günstige Wirtschaftsentwicklung hatten 2002 die ost- und südostasiatischen Schwellen- und Entwicklungsländer, vor allem Südkorea, Thailand, Malaysia, Vietnam und nicht zuletzt Indien zu verzeichnen. Am stärksten expandierte jedoch erneut die Wirtschaft Chinas mit einem Plus von rund 8 Prozent. Russland und auch einige andere GUS-Staaten erreichten gleichfalls überdurchschnittliche Zuwachsraten. Dagegen mussten einige der künftigen mittelosteuropäischen EU-Mitgliedsländer, nicht zuletzt aufgrund ihrer engen Wirtschaftsbeziehungen zur EU, Abschwächungen ihres Wachstums hinnehmen. Am spürbarsten verschlechtert hat sich dabei vor allem die Lage des größten Beitrittskandidaten Polen, wo 2002 im zweiten Jahr hintereinander eine Zuwachsrate des BIP von nur gut 1 Prozent (2000 noch 5 Prozent) ereicht wurde, die Investitionstätigkeit zurückging und die Arbeitslosenquote auf 20 Prozent anstieg.

Nach wie vor kritisch ist die Situation einiger südamerikanischer Länder. Die anhaltende tiefe Wirtschafts- und Schuldenkrise Argentiniens ließ im vergangenen Jahr das BIP des Landes um 11 und die industrielle Produktion sogar um 20 Prozent schrumpfen. Für die nächste Zeit wird eine Stabilisierung der Produktion auf niedrigem Niveau erhofft; mit einem spürbaren Aufwärtstrend ist allerdings angesichts der gebündelten außen- und binnenwirtschaftlichen Probleme nicht bald zu rechnen. Zunehmend können sich auch andere Länder des Subkontinents den Auswirkungen der Krise nicht entziehen. Das gilt vor allem für Brasilien, dessen Wirtschaft nicht nur durch die ökonomischen Beziehungen zu Argentinien von der dortigen Krise mit betroffen ist, sondern sich auch mit ähnlichen eigenen Problemen konfrontiert sieht.

2. Bundesrepublik: Dominierende Stagnationstendenzen

Wurde schon 2001 als ein Jahr der enttäuschten Hoffnungen und Fehlprognosen bezeichnet, so trifft diese Charakterisierung für das Jahr 2002 in noch stärkerem Maße zu. Am Beginn des vergangenen Jahres dominierten eindeutig positive Konjunkturerwartungen. Tatsächlich wurde das deutsche Wirtschaftsgeschehen aber anschließend nicht durch eine konjunkturelle Belebung, sondern durch sich weiter dahin schleppende, auf einigen Gebieten sogar noch verschärfende zyklische Krisen- und Depressionserscheinungen geprägt.

Stagnation statt Belebung

Die Ausrüstungs-Investitionen sind im vergangenen Jahr nicht – wie zumeist erwartet – leicht angestiegen, sondern insgesamt weiter abgesunken. Die Absatz- und Geschäftserwartungen der Unternehmen trübten sich nach einer kurzen Hoffnungsphase aufgrund der schwachen Inlandsnachfrage und der hinter den Erwartungen zurückbleibenden Zunahme der Exporte schnell wieder ein. Auch die Kapazitätsauslastung in der verarbeitenden Industrie blieb niedrig. Der rapide Verfall der Aktienkurse erschwerte zudem die Eigenfinanzierung von Investitionen. Die Investitionstätigkeit blieb dadurch gedrückt, ihr Rückgang beschleunigte sich während des überwiegenden Teils des Jahres noch und kam erst im letzten Quartal zum Stillstand. Im Jahresdurchschnitt war 2002 mit einer Minusrate von rund 9 Prozent sogar ein noch tieferer Einbruch als im Jahr davor zu verzeichnen. Die Ausrüstungs-Investitionen schrumpften damit seit dem 4. Quartal 2000, also über zwei Jahre hinweg. Sie sanken dadurch nicht nur um rund 17 Prozent unter den Vorkrisenstand von Mitte 2000, sondern auch erneut unter das Niveau ab, das sie Ende 1991, vor dem Beginn der vorigen zyklischen Krise, schon einmal erreicht hatten.

Aus ähnlichen Gründen wurde auch der andere große Investitionsbereich, die seit längerem in einer Strukturkrise steckende Bautätigkeit, im vergangenen Jahr erneut besonders hart von der konjunkturellen Krisensituation betroffen und schrumpfte kräftig weiter. Produktion und Umsatz des Wirtschaftsbaus gingen dabei im Jahresergebnis mit einer Minusrate von rund 6 Prozent am stärksten zurück. Offensichtlich haben aber auch hier, ähnlich wie bei den Ausrüstungsinvestitionen, viele Unternehmen angesichts der anhaltenden Nachfrageschwäche ursprüngliche Investitionspläne nicht realisiert.

Im Wohnungsbau setzte sich der Rückgang unvermindert weiter fort – allerdings bei zunehmender Differenzierung zwischen West- und Ostdeutschland. In den alten Bundesländern verlangsamte sich der Abschwung mit einer Minusrate von reichlich 4 Prozent, die vor allem auf die konjunkturbedingte Nachfrageschwächung zurückzuführen war. Dagegen beschleunigte sich der strukturell- und konjunkturbedingte Abschwung des ostdeutschen Wohnungsbaus noch weiter. So ging die Hochbauproduktion Ostdeutschlands im Jahresergebnis um rund 16 Prozent zurück. Insgesamt lag das Produktionsniveau des ostdeutschen Bauhauptgewerbes im vergangenen Jahr um gut 41 Prozent unter dem des Jahres 1995, die Zahl der dort beschäftigten Arbeitskräfte wurde im gleichen Zeitraum nahezu halbiert.

Rückgang des privaten Konsums

Die Entwicklung des mit Abstand größten Nachfragesektors, des privaten Konsums, hat sich während des vergangenen Jahres weiter deutlich abgeschwächt. Konnte der private Verbrauch schon im Jahre 2001 mit einer realen Zunahme um 1,5 Prozent keine spürbare konjunkturstützende Rolle spielen, so wies er im Jahresergebnis für 2002 einen realen Rückgang um 0,6 Prozent auf und wurde damit aufgrund seines dominierenden Gewichts zum Krisen erhaltenden Nachfragefaktor.

Tabelle 2: Ausgewählte Wirtschaftsdaten Deutschlands

(Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent)

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(1) Export von Waren und Dienstleistungen. (2) Realer Überschuss im Handel mit Waren und Dienstleistungen. (3) Aus Vergleichbarkeitsgründen sind die Daten der letzten zwei Spalten saisonbereinigt. Quellen: Deutsche Bundesbank, Saisonbereinigte Wirtschaftszahlen, Zeitreihen und Monatsberichte, lfd.; DIW-Wochenbericht, Nr. 8/2003; Statistisches Bundesamt, lfd. Die Angaben zum 1. Quartal 2003 sind überwiegend Schätzungen auf der Grundlage der genannten Quellen.

Diese negative Entwicklung der konsumtiven Nachfrage ist vor allem ein Resultat der für die Masse der Verbraucher verschlechterten Einkommenslage. Die Gesamtsumme der Bruttolöhne und -gehälter hat im Jahr 2002 nur noch um 0,8 Prozent zugenommen, während die der Nettolöhne und -gehälter mit einer Zunahme von lediglich 0,2 Prozent faktisch stagnierte. Da aber gleichzeitig die Verbraucherpreise um 1,3 Prozent stiegen, ist für das vergangene Jahr ein realer Nettolohnrückgang um reichlich 1 Prozent zu konstatieren. Die verfügbaren Einkommen aller privaten Haushalte sind 2002 zwar – wegen der über dem Zuwachs der Brutto-Arbeitnehmereinkommen liegenden Steigerung der Einkünfte aus Vermögen und Unternehmertätigkeit – noch um rund 1 Prozent gewachsen. Auch sie lagen damit real noch knapp unter dem Vorjahresstand.

Maßgeblich für den Einbruch der Konsumnachfrage war auch die weitere Verschlechterung der Beschäftigungssituation. So trug die 2002 gegenüber dem Vorjahresdurchschnitt um 230 000 zurückgegangene Zahl der Erwerbstätigen direkt zu der schwachen Entwicklung der Bruttoeinkommens-Summe bei. Zum anderen führte sie zusammen mit dem neuerlichen Anwachsen der Arbeitslosenzahlen bei vielen Konsumenten zu einer deutlich zunehmenden Sorge um die Arbeitsplätze. In die gleiche Richtung wirkten auch die Forderungen und Ankündigungen zu künftigen Einschränkungen im Sozialsystem sowie die begründete Unsicherheit über die Wirkungen der Euro-Einführung.

Alles dies trug unmittelbar zur Einschränkung der Konsumtionsmöglichkeiten bei und führte aufgrund der zunehmenden sozialen Verunsicherung bei vielen Verbrauchern zum Verzicht auf Kaufabsichten oder zumindest zu deren vorläufiger Zurückstellung. Das betraf vor allem langlebige Gebrauchsgüter, Haushaltsgeräte und Bekleidung. Diese Kaufzurückhaltung schlug sich deutlich im Einzelhandel nieder, dessen realer Gesamtumsatz im Jahresergebnis 2002 um 1,2 Prozent schrumpfte, wobei die Umsatzeinbrüche bei den Einrichtungsgegenständen mit einem Minus von rund 9 Prozent und bei der Bekleidung mit einem Rückgang um 5 Prozent besonders stark waren.

Damit hatten im vergangenen Jahr die wichtigsten Blöcke der Inlandsnachfrage, deren Umfang zusammen reichlich drei Viertel des gesamten Bruttoinlandsprodukts ausmacht, zum Teil deutliche Rückgänge zu verzeichnen.

Abgeschwächter Export

Der damit insgesamt entstandene volkswirtschaftliche Nachfrageausfall konnte auch nicht durch den staatlichen Verbrauch in nennenswertem Maße vermindert werden, der sich 2002 nicht ganz so schwach entwickelte wie im Jahr davor und um 1,5 Prozent zunahm. Diese Bereiche bilden (zusammen mit den Lagerbeständen) die inländische Verwendung des BIP. Diese Kennziffer, die für die Einschätzung der Entwicklung auf dem Binnenmarkt wesentlich aussagefähiger ist als die Veränderungsrate des gesamten Sozialprodukts, zeigt ebenfalls eine deutliche Vertiefung der Konjunkturschwäche an. Sie wies schon für 2001 im Unterschied zum BIP, für das noch ein Wachstum um 0,6 Prozent angezeigt wurde, einen Rückgang um 0,8 Prozent aus. Im vergangenen Jahr hat sich die Schrumpfung der Inlandsverwendung mit einer Minusrate von 1,5 Prozent noch weiter vertieft, während das BIP mit einem minimalen Plus von 0,2 Prozent stagnierte.

Dieses etwas günstigere Bild der als Kennziffer der wirtschaftlichen Gesamtleistung verwendeten Veränderungsrate des BIP kam, ähnlich wie schon 2001, auch im vergangenen Jahr allein durch eine neuerliche kräftige Erhöhung des deutschen Überschusses im Außenhandel mit Gütern und Dienstleistungen zustande. Dieser Saldo, der als „Außenbeitrag” in die Berechnung des BIP eingeht, war schon 2001 ungewöhnlich stark auf real 62,2 Mrd. Euro angewachsen. Im Jahr 2002 stieg er noch einmal um 47 Prozent auf die alle bisherigen Maßstäbe überschreitende Höhe von 91,2 Mrd. Euro an.

Er beruht aber keineswegs auf einer beschleunigten Exportkonjunktur. Die deutschen Ausfuhren von Güter und Dienstleistungen sind zwar im vergangenen Jahr real um 16,3 Mrd. Euro oder 2,4 Prozent (2001: 5 Prozent bzw. 33 Mrd. Euro) gestiegen und wiesen damit immer noch eine günstigere Entwicklung als alle anderen Verwendungsarten des BIP auf. Dennoch war dies der geringste Exportzuwachs, den die deutsche Wirtschaft seit der Krise 1992/93 erzielt hat. Der Rekordsaldo kam nur dadurch zustande, dass die Importe sich infolge der schwachen Inlandsnachfrage noch erheblich ungünstiger als die Exporte entwickelten. Sie nahmen 2002 real um 12,5 Mrd. Euro oder 2 Prozent ab (2001 noch: 1,0 Prozent bzw. 6,3 Mrd. Euro). Damit überdeckt dieser enorme Überschuss sowohl den Rückgang der deutschen Binnennachfrage wie auch die Tatsache, dass selbst der Export seine Rolle als Konjunktur- und Arbeitsmarktstütze zur Zeit nicht in dem gewohnten Maß auszuüben vermag.

Branchentrends

Die Produktion der verarbeitenden Industrie lag im Jahresdurchschnitt 2002 um 1,6 Prozent unter der des Vorjahres. Dahinter verbirgt sich allerdings eine unter Schwankungen sowie deutlichen Unterschieden zwischen den Zweigen verlaufene Entwicklung. Der seit März 2001 festzustellende Rückgang der Gesamtindustrie war zum Jahresbeginn 2002 zum Stillstand gekommen und durch ein Auf und Ab zwischen zunächst stagnierender, in den Sommermonaten sogar leicht zunehmender, im letzten Quartal dann wieder rückläufiger und schließlich in den ersten beiden Monaten dieses Jahres erneut wachsender Produktion abgelöst worden. Unter den Hauptbranchen waren der Maschinenbau, die Elektroindustrie und die Konsumgüterindustrien im vergangenen Jahr am stärksten von Krisenerscheinungen betroffen. Im Maschinenbau konnte der Rückgang der Inlandsnachfrage aufgrund des hohen Exportanteils dieser Branche zwar zu einem Teil durch immer noch zunehmende Auslandsaufträge ausgeglichen werden. Trotzdem ging die Maschinenbauproduktion im Jahresdurchschnitt 2002 um rund 4 Prozent zurück. Die Erzeugung der elektrotechnischen und elektronischen Industrie ging bis Mitte 2002 zurück, stagnierte dann und hatte im Jahresergebnis 2002 ein Minus von über 5 Prozent zu verzeichnen. In der gesamten Konsumgüterindustrie verringerte sich das Produktionsergebnis im vergangenen Jahr um 2 Prozent, wobei der Einbruch bei der Herstellung von Gebrauchsgütern, die um 8 Prozent schrumpfte, besonders krass war.

Als gewisse Stützen der Industriekonjunktur erwiesen sich der Kraftfahrzeugbau und die chemische Industrie. Die bis dahin kräftige Expansion der deutschen Autoindustrie war zwar im Frühjahr 2001 auch etwas ins Stocken geraten. Seit Beginn des vergangenen Jahres wurde jedoch in dieser mit einem Ausfuhranteil von inzwischen 62 Prozent der Umsätze am stärksten exportabhängigen Branche wieder ein Produktionswachstum erzielt. Die deutschen Kraftfahrzeughersteller konnten sich dabei auf ihre nach wie vor starken Konkurrenzpositionen sowie auf die Erschließung neuer Märkte, vor allem in Osteuropa und Asien, stützen. Im letzten Quartal 2002 brach die Produktion dann aber deutlich ein, und der Zuwachs für das Gesamtjahr reduzierte sich auf rund 1 Prozent. In der chemischen Industrie hatte vor allem ein starker Anstieg der Auslandsnachfrage zu Beginn des vergangenen Jahres vorübergehend zu einem kräftigen Produktionsanstieg geführt, der jedoch im Frühjahr auf einem höheren Niveau wieder ins Stocken kam.

Die Bereiche außerhalb der eigentlichen Produktion, die mit einem Anteil von mehr als zwei Dritteln an der Entstehung des Bruttosozialprodukts beteiligt sind, haben zwar im Unterschied zu Industrie und Bauwirtschaft im vergangenen Jahr insgesamt noch einen Zuwachs von 1,3 Prozent erzielt, der jedoch deutlich bescheidener ausfiel als 2001 (2,0 Prozent). Im Gesamtsektor Handel, Gastgewerbe und Verkehr war ein Plus von rund 1 Prozent zu verzeichnen (2001 noch 2,5 Prozent), das bei Rückgängen im Einzelhandel und Gastgewerbe vor allem auf die zunehmenden Verkehrsleistungen zurückzuführen ist.

Auch für den größten dieser Bereiche, der die Finanzierungs-, Vermietungs- und Unternehmensdienstleistungen umfasst, war die Zuwachsrate mit 1,6 Prozent deutlich schwächer als 2001 (2,2 Prozent). Die öffentlichen und privaten Dienstleistungen erzielten mit 1,2 Prozent fast das gleiche schwache Wachstum wie im Jahr davor.

Arbeitsmarkt

Mehr noch als die genannten Daten und Fakten unterstreicht die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und das damit verbundene Anwachsen der sozialen Unsicherheit die Einschätzung, dass die Krise im vergangenen Jahr nicht zu Ende gegangen ist. Der Rückgang der Beschäftigtenzahl hat sich fortgesetzt und seit dem 2. Quartal 2002 sogar weiter beschleunigt. Am Jahresende 2002 waren 468 000 Menschen weniger erwerbstätig als im Mai 2001. Dementsprechend vergrößerte sich seitdem auch die Zahl der Arbeitslosen, sie nahm – zunächst nur moderat, seit Herbst vergangenen Jahres jedoch beschleunigt – von Mai 2001 bis zum Februar 2003 um 528.000 zu (saisonbereinigte Zahlen). Im Februar dieses Jahres stieg die Arbeitslosenquote auf 10,5 Prozent an, wobei der Grad der Beschäftigungslosigkeit in Ostdeutschland mit einer Rate von 18,4 Prozent auch weiterhin mehr als doppelt so hoch war wie in Westdeutschland (8,4 Prozent).

Im gleichen Monat erreichte die effektive Zahl der registrierten Arbeitslosen mit 4.706.000 ihren höchsten Stand seit der Regierungsübernahme durch SPD und Grüne. Es ist zwar kein Trost, aber im Zusammenhang mit der gewachsenen Wählerzuneigung zur CDU doch erwähnenswert, dass der traurige Rekord auf diesem Gebiet immer noch in die Monate Januar/Februar 1998, also in die Ägide der CDU/FDP-Vorgängerregierung fällt; damals waren jeweils mehr als 4,8 Millionen Menschen offiziell arbeitslos.

3. Ausblick: Trübe Aussichten für die deutsche Konjunktur

Die deutsche Wirtschaft ist in den ersten Monaten dieses Jahres durch eine noch nicht voll überwundene zyklische Krise geprägt, die nicht durch einen tiefen realwirtschaftlichen Einbruch mit nachhaltigen Kapitalentwertungsprozessen, sondern durch einen eher schleppenden Verlauf geprägt war. Dabei wurden aber der während der vorausgegangenen Aufschwungsphase, die relativ schwach in der Realwirtschaft, aber extrem überhitzt in der Finanzkapitalsphäre verlaufen war, entstandene Kapitalüberschuss und die aus ihm erwachsenen Akkumulationshindernisse nicht genügend beseitigt, um eine Phase der forcierten Neuanlage von fixem Kapital einzuleiten.

Die konjunkturelle Dynamik bleibt schwach

Dementsprechend lassen die Frühindikatoren auch kaum Möglichkeiten für eine schnelle Beschleunigung der konjunkturellen Dynamik erkennen. Ausrüstungsinvestitionen sowie Auftragseingänge für die Vorleistungsgüter- und Investitionsgüterbranchen stagnierten zuletzt – auch wegen der Unsicherheiten über die Auswirkungen des Irakkrieges – weitgehend oder wiesen allenfalls schwache Zunahmen auf. Die Aussichten für eine Belebung der privaten Konsumtion sind sogar noch schlechter als vor Jahresfrist. Die zu Beginn des Jahres in Kraft gesetzten Erhöhungen von Steuern und Sozialversicherungsabgaben werden keine Zunahme der verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte zulassen. Allein durch die erhöhten Beitragssätze für die Kranken- und die Rentenversicherung sowie die gleichzeitige Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenzen entsteht den Lohnabhängigen eine Mehrbelastung, die nach Schätzungen[2] etwa 0,6 Prozent der Nettolöhne und -gehälter ausmacht. Hinzu kommen die Wirkungen der erfolgten Umsatzsteuererhöhungen, der Senkung von Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit sowie der anhaltenden Beschäftigungskrise. Werden die jetzigen Pläne der Bundesregierung realisiert, dann wird sich dieser Druck auf die Masseneinkommen im nächsten Jahr noch weiter verstärken und auch dann verhindern, dass von der Konsumtionsnachfrage Aufschwungsimpulse ausgehen. Die Exporte werden sich zwar insgesamt besser als die Binnennachfrage entwickeln. Durch die zu schwache Konjunktur in den meisten Industrieländern sowie wegen des zunächst vermutlich relativ hoch bleibenden Eurokurses werden ihrer Expansion jedoch engere Grenzen gezogen als aus früheren Jahren gewohnt.

Angesichts dieser Konstellation sind nahezu alle Prognosen über das in diesem und im nächsten Jahre erreichbare Wirtschaftswachstum nach unten korrigiert worden. Das berechtigt zu der in jüngster Zeit häufiger diskutierten Frage, ob die gegenwärtige Konjunkturschwäche als Anzeichen einer Verbreitung der „japanischen Krankheit” zu bewerten sei, also einer über längere Zeit nur schwach wachsenden, depressiv und sogar deflationär geprägten und deshalb besonders anfälligen Wirtschaft.

„Japanische Entwicklung“ in Deutschland?

Jörg Huffschmid hat in einem interessanten Interview in „sozialismus”[3] im Zusammenhang mit dieser Frage u.a. die These entwickelt, dass eine Entwicklung, bei der wie in Japan eine radikale Entwertung des überschüssigen Kapitals in einer crashartigen tiefen Krise zu vermeiden versucht wird und statt dessen ein abgebremster Entwertungsprozess, ein „Sich-Durchwursteln” mit bescheidenen Wachstumsraten und erhöhter Labilität in Kauf genommen wird, für die Lohnabhängigen immer noch das „kleinere Übel gegenüber dem Crash mit seinen tiefgreifenden sozialen Wirkungen” sein könne. Auf ein solches Szenario hätte sich offensichtlich auch die Bundesregierung eingestellt. Generell stimme ich dieser These zu. Sie provoziert andererseits aber auch dazu, die Voraussetzungen zu vergleichen, die in Japan und Deutschland für einen solchen Weg bestehen und zu hinterfragen, wie sie genutzt werden.

Aus dem enormen Ausmaß der Ende der 80er Jahre geplatzten Seifenblase gleichzeitig spekulativ hochgetriebener Aktienkurse und Immobilienpreise, dem Umfang der danach auf den Banken des Landes lastenden notleidenden Kredite sowie auch aus den neuerlichen Wirkungen der seit Anfang 2000 herrschenden Baisse der Weltbörsen auf die japanischen Aktienkurse lässt sich zweifellos ableiten, dass der Kapitalentwertungs- und strukturelle Bereinigungsdruck, unter dem Japans Wirtschaft während der letzten 12 Jahre gestanden hat, noch um einiges höher einzuschätzen ist, als die gegenwärtigen akuten Entwertungszwänge der deutschen Wirtschaft.

In Japan sind seinerzeit herrschende politische Kräfte und Großkapital offenbar aus gemeinsamer Furcht vor den nicht überschaubaren Folgen des eruptiven Bereinigungsprozesses einer großen Krise zu dem Konsens gekommen, einen Weg der Crash-Vermeidung durch den Einsatz der verfügbaren finanz- und geldpolitischen Instrumente zu versuchen. Dies hat zwar das Haushaltsdefizit des Landes durch eine Folge von staatlichen Konjunkturprogrammen auf Rekordhöhen getrieben, die Zinsen durch eine expansive Geldpolitik faktisch auf Nullniveau gesenkt und eine deflationäre Entwicklung, aber keinen Aufschwung der Inlandsnachfrage in Gang gesetzt. Es kam zu einer fragilen und äußerst anfälligen wirtschaftlichen Entwicklung mit einander abwechselnden relativ kurzen Phasen bescheiden wachsender und moderat sinkender oder stagnierender Produktion. Das Wachstumstempo verlangsamte sich dadurch gegenüber den vorausgegangenen Jahrzehnten rapide. Während der letzten zehn Jahre (1993 - 2002) wurde nur eine bescheidene jährliche Durchschnittsrate von 1,1 Prozent erreicht[4]. Aber es kam nicht zu einer großen Krise mit ihren verheerenden sozialen Folgen, und auch die Arbeitslosenrate blieb, obwohl sie anstieg, mit 5 Prozent im Durchschnitt der letzten drei Jahre immer noch deutlich unter der in der Eurozone (8,3 Prozent).

Wurde somit in Japan mittels staatsmonopolistischer Einflussnahme auf die Wirtschaftsentwicklung immerhin Schlimmeres verhindert und ein Weg des „kleineren Übels” gesucht, so sind gegenwärtig in Deutschland zwar durchaus ökonomische Voraussetzungen, nicht aber die notwendigen Interessen- und Kräftekonstellationen für eine ähnliche Entwicklung festzustellen. Dies tritt vor allem in zweierlei Hinsicht zutage:

Erstens hat die von der jetzigen Bundesregierung bisher praktizierte Wirtschaftspolitik unter dem Strich Konjunktur dämpfende Wirkungen gehabt. Die rot-grüne Koalition hatte die Regierung in einer Situation übernommen, in der eine seit Jahren schwache zyklische Aufwärtsbewegung erstmals die Dynamik eines Konjunkturaufschwungs anzunehmen begann und die Wirtschaftslage sich in den Jahren 1999/2000 relativ günstig gestaltete. Dies führte offenbar zu der Annahme, dass man die Konjunktur generell sich selbst überlassen könne. So wurde nach dem schnellen Ende des Aufschwungs, das die Regierung zunächst einfach zu ignorieren versuchte, der Verzicht auf gezielte konjunkturpolitische Maßnahmen beibehalten und bis heute weitgehend durchgehalten. Statt dessen wurde der Konsolidierung der Staatsfinanzen auch dann noch die Priorität gegeben, als es mit der Konjunktur längst wieder abwärts ging und eine expansive Finanzpolitik unbedingt nötig gewesen wäre. Dies war verbunden mit einer Vernachlässigung der Inlandsnachfrage, vor allem der Verbrauchernachfrage. Steuerpolitische Veränderungen, die eigentlich zur Kaufkrafterhöhung hätten führen müssen, wurden durch andere, kontraproduktive Maßnahmen in ihren Wirkungen aufgehoben oder eingeschränkt. Hinzu kam, dass die Sparpolitik die Kommunen besonders hart traf, der damit verbundene Rückgang der öffentlichen Investitionen die Inlandsnachfrage zusätzlich schwächte und vor allem die Krise der Bauwirtschaft verschärfte.

Dabei fallen der deutschen Wirtschaft jetzt auch einige negative Folgen der übereilt vollzogenen Europäischen Währungsunion auf die Füße. So engen die restriktiven EWU-Stabilitätskriterien die finanzpolitischen Spielräume der Mitgliedsländer erheblich ein, treffen aber das derzeit wachstumsschwächste Euroland Deutschland am härtesten. Selbst wenn die Bundesregierung ihren Sparkurs nicht so stark verinnerlicht hätte und zu einer expansiven Haushaltspolitik bereit wäre, müsste sie die Neuverschuldungsgrenze von 3 Prozent des jeweiligen BIP sehr deutlich überschreiten und dafür Auseinandersetzungen mit Brüssel in Kauf nehmen und/oder konsequent für eine Abschaffung bzw. Änderung des willkürlich auf eine solche Höhe festgesetzten Limits eintreten. Genau so negativ wirken sich jetzt der mit der Schaffung einer einheitlichen Währung vollzogene Verzicht der Eurostaaten auf eine eigenständige Geldpolitik, die jetzt allein der EZB obliegt, sowie deren eindeutige Fixierung auf die Sicherung der Währungsstabilität aus.

Deutschland, das ebenso wie die Stabilitätskriterien auch diese einseitige monetaristische Orientierung der neuen Zentralbank seinerzeit initiiert hatte, bekommt auch deren Folgen gegenwärtig am stärksten zu spüren. Die Konjunktur läuft zwar insgesamt in Euroland nicht besonders, weist aber durchaus Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern auf. So hatte Deutschland im vergangenen Jahr das deutlich geringste Wirtschaftswachstum, zugleich aber auch die niedrigste Inflationsrate und die mit Abstand schwächste Lohnentwicklung zu verzeichnen und wäre mehr als andere auf eine expansive Niedrigzinspolitik angewiesen. Angesichts der Tatsache, dass der mit 2,2 Prozent relativ niedrige Preisanstieg im EWU-Durchschnitt keinerlei Anlass zur Beibehaltung der eher restriktiven Zinspolitik gibt, erweist sich die EZB derzeit aber für die gesamte Eurozone als echter Konjunkturdämpfer.

Zweitens sind in Deutschland die maßgeblichen Kräfte des Großkapitals und auch Teile der politische Klasse offensichtlich nicht bereit, einen ähnlichen Weg der schrittweisen Kapitalentwertung unter Hinnahme schwächerer Wachstumsraten und einer gewissen Verteilung der daraus erwachsenden Lasten auf Lohnabhängige und Unternehmen wie in Japan mitzugehen. Sie haben im Gegenteil die Bemühungen um einen Konsens mit den Gewerkschaften und der Regierung aufgekündigt. Sie versuchen, die durch die Minderheit im Bundesrat eingeschränkten Handlungsspielräume der Regierung und die durch eine sich weiter verschlechternde Arbeitsmarktlage geschwächten Positionen der Gewerkschaften für eine Offensive zur Durchsetzung struktureller, möglichst längerfristig wirksamer Verbesserungen der Verwertungsbedingungen zu nutzen. Gestützt darauf, dass neoliberale Auffassungen infolge ihrer jahrzehntelangen Dominanz in wissenschaftlicher Lehre, Forschung und Beratung indessen auch unter den maßgeblichen Journalisten und Politikern zu nahezu unwidersprochenen Glaubenssätzen geworden und entsprechend in die öffentlichen Meinungsbildung eingeflossen sind, werden die geforderten forcierten Abwälzungen gegenwärtiger und künftiger Entwertungslasten als Reformen schmackhaft gemacht, die angeblich allein den Weg zu einer florierenden deutschen Wirtschaft eröffnen.

Agenda 2010

Die in diese Richtung gehenden Forderungen der Unternehmerseite liegen auch dem jüngsten „Reformprogramm” des Bundeskanzlers vom März dieses Jahres zugrunde (Agenda 2010). Die bisherige Wirtschaftspolitik dieser Regierung war durchaus schon von neoliberalen Ansätzen beeinflusst, die im Laufe der Jahre in einer ganzen Reihe von sozialen und arbeitsrechtlichen Verschlechterungen ihren Niederschlag fanden. Dabei wurde jedoch zumindest versucht, noch eine gewisse Ausgewogenheit zu wahren. Mit diesem Programm macht die rot-grüne Regierung jedoch tatsächlich einen sozialpolitischen Ruck nach rechts und auf die Unternehmer zu. Das gilt sowohl für die Tiefe der beabsichtigten sozialen Einschnitte als auch für die einseitige Belastung der Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslosen und anderen sozial Benachteiligten. Die Realisierung dieses Katalogs von Einschränkungen, die von Senkungen der Arbeitslosenhilfe und drastisch verkürzten Zahlungszeiten des Arbeitslosengeldes an Langzeitarbeitslose über Aufweichungen des Kündigungsschutzes und Verschlechterungen für die gegenwärtigen und künftigen Rentner bis zu einer Vielzahl von Einschränkungen der Krankenkassenleistungen zulasten der Patienten reichen, würde tatsächlich den größten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik darstellen.

Gleichzeitig würden diese Maßnahmen aber zu einer erneuten kräftigen Beschneidung der Massenkaufkraft führen, damit die Misere der deutschen Inlandsnachfrage deutlich verschärfen und einer Konjunkturbelebung auch für das nächste Jahr weiter den Boden entziehen. Die Befürworter dieses Programms verweisen zwar darauf, dass dies der einzige Weg zu neuen Arbeitsplätzen sei. Nun entstehen auf diese Weise zwar bessere Profitbedingungen und damit auch mehr Investitionsanreize. Ob aus solchen Anreizen allerdings bei weiter nachlassender Inlandsnachfrage auch tatsächlich reale Investitionen werden und ob überhaupt, wann und wo dann neue Arbeitsplätze entstehen, ist jedoch mehr als zweifelhaft. Die forcierte Durchsetzung einer solchen Politik lässt eine weiter anhaltende depressive Konjunktur der deutschen Wirtschaft zur realen Gefahr werden. Auf den ersten Blick hätten wir dann zwar eine ähnlich schwache Wachstumssituation wie in Japan. Nur wurde dabei in Japan aus einer objektiv schlechteren ökonomischen Situation als in Deutschland noch der relativ beste Ausweg – oder das „kleinere Übel” – gefunden. Deutschland ist dagegen auf dem Wege, aus einer objektiv eigentlich etwas besseren ökonomischen Situation subjektiv etwas noch schlechteres, ein „größeres Übel“ zu machen, nämlich eine nicht so bald wieder umkehrbare strukturelle Veränderung der Verwertungs- und Verteilungsverhältnisse, die obendrein von einer depressiven Entwicklung der Wirtschaft begleitet wäre.

[1] Wir setzen hiermit die 1993 begonnene jährliche Konjunkturberichterstattung von Jörg Goldberg bzw. Hans-Joachim Höhme fort. Entsprechende Berichte erschienen in den Heften Z 13, 17, 21, 26, 30, 34, 36, 38, 42, 46, 47 und Z 50 (Anm. d. Red.).

[2] DIW-Wochenberichte 1-2/2003, Grundlinien der Wirtschaftsentwicklung 2002/03, Teil 3.

[3] J. Huffschmid, Interview, in: sozialismus, H. 12/2002, S. 12. ff.

[4] Das Durchschnittswachstum in der deutschen Wirtschaft in diesem Zeitraum war mit 1,3 Prozent nicht viel höher.