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Von Mühlen, die langsam mahlen

Gesellschaft, Alltagsbewußtsein und Unbewußtes

Juni 2003

„Ungern denkt man an Mühlen, die so langsam mahlen, daß man verhungern könnte, ehe man das Mehl bekommt.“ (Freud 1933, 24)

Zu den wichtigsten Erfolgen des Neoliberalismus gehören die immer weiter um sich greifende Zerstörung des historischen Gedächtnisses der Gesellschaft (und damit auch der Linken) und die vermittels seines Methodenimperialismus nahezu vollständige Reduktion der Gesellschaftswissenschaften auf Affirmation. Wohl wissend, dass die Trennung von Gesellschaft und Psyche falsches Bewusstsein ist, aber auch nie sonderlich bereit, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, scheinen der sich als materialistisch-dialektisch verstehenden Kapitalismusanalyse im Zeitalter des Universaldarwinismus wesentliche Erkenntnisse über den Zusammenhang von Psyche, Bewusstsein und politischer Aktion verloren gegangen zu sein. Das zeigt nicht nur die bei der Analyse des Rechtspopulismus (Z 51, September 2002, 20ff) durchschimmernde moralische Empörung, dass in einer „Zivilgesellschaft“ der Appell an niedrige Instinkte nach wie vor funktioniert, sondern auch die technizistische Vorstellung W. Seppmanns, „Vernetzung“ könne die Linke wieder in die Offensive bringen (Z 53, März 2003, 90ff) sowie der Glaube der PDS, dass Mikrofone Bewusstsein formten und die Anwesenheit bei Talk-Shows Politik sei. Dahinter verbirgt sich ein Weltbild, das E. Nyikos auf den Begriff gebracht hat: „Alles Handeln, sofern es sich nicht um unbewusste Reflexbögen, automatisierte Handlungsschemata handelt, ist durch Bewusstsein, bewusste Überlegung vermittelt“ (ebd., 151). Gelänge es, diese Reflexbögen – die Versprechungen der Gentechnik sind groß – zu beseitigen, sollte dem menschlichen Fortschritt qua Aufklärung nichts mehr im Wege stehen. Oder?

1. Marxismus und Psychoanalyse

„Wenn es einen Irrtum gibt, der fast unfreiwillig von Marx herkommt, dann ist es diese totalisierende Idee des Menschen als das Beste, das Ganze, das Einzige, die Vergötterung des Menschen.“ (Strehler 1990, 10)

Mit der Psychoanalyse haben sich die Marxisten schon immer schwer getan. Sind doch gerade sie, die einem zwar emphatischen, aber nicht selten auch undialektischen Begriff von Aufklärung anhängen, ganz besonders von dem betroffen, was Freud als die „empfindlichste Kränkung“ der Menschheit durch die moderne Wissenschaft bezeichnet hat: „Die ... Aufklärungen, ... daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ (Freud 1917, 11). Hinzu kommen zwei andere Aspekte. Erstens steht die Psychoanalyse – und das nicht ganz zu Unrecht – unter dem Verdacht des Psychologismus, der nach wie vor „der mächtigste bürgerliche Widersacher des Marxismus in der Analyse der historischen Kräfte“ (Baran 1960, 71) ist. Wenngleich in wechselnder Gestalt und Terminologie auftretend, reduziert er sich letztlich auf das Postulat der Konstanz der menschlichen Natur und praktische Techniken, die vorschriftsmäßige freudige Gemütsverfassung zu garantieren. Die Übernahme soziologischer Begriffe und Theoreme durch die Psychologie hat daran nichts geändert. Die theoretisch ohnehin nur oberflächlich in einen gesellschaftlichen Rahmen eingebetteten psychischen Probleme werden „unserem“ Mangel an Ideen angekreidet, „unserer“ Unfähigkeit sinnvoll zu handeln und „unserer“ geringen Bereitschaft, überlieferte Verhaltensmuster zu verändern. Das Unvermögen, auf Basis solcher Theorien der psychischen Verelendung des Individuums Herr zu werden, ist einer der Gründe, warum spirituelle Therapien und auf C.G. Jung sich berufende irrationale Konzepte Konjunktur haben. So sehr sich psychosoziale Theorien und Esoterik auch unterscheiden, gilt doch generell für die Psychologie, daß sie „mit dem Unbewußten und Vorbewußten herum(würfelt), statt es irgend ins Bewußte zu heben“ (Adorno 1962, 155). Dennoch ist selbst die krudeste Seelenkunde allemal näher an der gesellschaftlichen Realität als das Geschwätz der Modernisierer: „Indem der Psychologismus das Prinzip homo homini lupus in den Stand einer unabweisbaren Wahrheit erhebt und den einzelnen als von Natur selbstsüchtig und aggressiv definiert, der rücksichtslos um einen Platz auf dem Markte kämpft, begreift er mehr von der Geschichte und den Intentionen des Kapitalismus als jene Lehren, die uns weismachen wollen, der Charakter der zeitgenössischen Gesellschaft und derer, die sie repräsentieren, könne durch Beschwörung und durch Lobreden auf die Produktivität und die Bruderschaft der Menschen gewandelt werden. Da Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Krieg die Verhaltensweise der Menschen seit Jahrhunderten geprägt haben, ist es gewiß richtiger, die menschliche Spezies als einen Klotz anzusehen, der nur schwer bewegt und gemodelt werden kann“ (Baran 1960, 74f).

Zweitens hat die Psychoanalyse in dem Maß an Bedeutung verloren, wie die Psychologie aus ökonomischen Gründen[1] für die Systemsicherung gewonnen hat. Die Realität von Gewalt und Zerstörung, von psychisch und physisch beschädigten Menschen wird immer dichter unter einem Nebel von „Selbst“, „Authentizität“ und „Persönlichkeit“ verhüllt, und praktizierte Psychoanalyse reduziert sich auf wohlmeinende Ratschläge zur inneren Stärkung und „Selbst-Realisierung“. Befreiung des Menschen heißt heute für sie: banale Existenz plus Enthusiasmus. Damit negiert sie, was die Größe Freuds ausmachte: „Widersprüche unaufgelöst stehen“ zu lassen und keine „systematische Harmonie zu prätendieren, wo die Sache selber in sich zerrissen ist“ (Adorno 1952, 40). Diese Entwicklung kann infolge des ambivalenten Charakters der Psychoanalyse, die zwar „die Schwächen dieses Systems aufdeckt“ (Freud 1925, 107), aber den historischen Charakter der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht begreift, kaum erstaunen. Doch die „soziale Determination der Freudschen Theorie durch den Geist der Marktwirtschaft besagt nicht, daß die Theorie falsch ist, außer in Bezug auf ihren Anspruch, daß sie die Situation des Menschen an sich beschreibe; als Beschreibung der zwischenmenschlichen Beziehungen in der bürgerlichen Gesellschaft ist sie für die Mehrheit der Menschen gültig“ (Fromm 1969, 175). Die Bedeutung sowohl für die Gesellschaftsanalyse als auch für die Fragen von Strategie und Taktik revolutionärer Bewegungen[2] ergibt sich aus ihrer Erkenntnis, „daß Irrationales das menschliche Verhalten weitgehend beherrscht“ und der Intention, „die irrationalen Antriebe menschlichen Handelns rational aufzuschließen und zu erläutern“ (Baran 1960, 78).

Ich-Ideal und Triebstruktur

Die Behauptung, Marx, der Ansätze zu einer Soziologie der Psyche entwickelt hat[3], habe der Triebstruktur für die geschichtliche Entwicklung keine Bedeutung zugemessen, ist ebenso falsch wie die Unterstellung, Freud sei sich der gesellschaftlichen Dimension des Individuums nicht bewusst gewesen. Über das Ich-Ideal, dem für die Bildung des individuellen Bewusstseins ein zentraler Stellenwert zukommt, bemerkte er: „Dies Ideal hat außer seinem individuellen einen sozialen Anteil, es ist auch das gemeinsame Ideal einer Familie, eines Standes, einer Nation“ (Freud 1914, 169). Was Freud und Marx verbindet, ist die Erkenntnis, „daß das meiste, was die Menschen bewußt denken, ‚falsches’ Bewußtsein, also Ideologie und Rationalisierung ist und daß die wahren Haupttriebfedern seines Handelns dem Menschen nicht bewußt sind. Nach Freud wurzeln sie im libidinösen Streben des Menschen, nach Marx in der gesamten gesellschaftlichen Organisation des Menschen, welche sein Bewußtsein in bestimmte Richtungen lenkt und ihm den Zugang zu bestimmten Tatsachen und Erfahrungen versperrt“ (Fromm 1961, 30f). Beides macht das gesellschaftliche Leben zu einem in hohem Maß unbewusst ablaufenden Prozess. Die Alltagskultur „sind die scheinbar selbstverständlichen Überzeugungen und Vorlieben, die uns undeutlich vorschweben müssen, wenn wir fähig sein sollen zu handeln. Kultur ist das, was wir ‚automatisch’ machen, was wir ‚in den Knochen haben’ und nicht im Kopf ausdenken“ (Eagleton 2000, 43).

Marx unterscheidet, wie Fromm feststellt, „zwei Typen menschlicher Triebe und Begierden: die konstanten oder feststehenden, wie Hunger und Geschlechtstrieb, die ein wesentlicher Teil der menschlichen Natur sind und die nur in ihrer Form und der Richtung, die sie in den verschiedenen Kulturen einschlagen, verändert werden können, und die ‚relativen‘ Triebe und Begierden, die nicht ein wesentlicher Teil der menschlichen Natur sind und von denen Marx sagt, daß ihr Entstehen in bestimmten Gesellschaftsstrukturen und bestimmten Bedingungen der Produktion und des Verkehrs begründet liegt“ (Fromm 1961, 34f).[4] Einerseits passen sich biologische Tatbestände, die Triebe, aktiv und passiv an soziale Gegebenheiten an. Andererseits lebt „in den Ideologien des Über-Ichs“, die auf das unbewusste Handeln der Individuen wirken, „die Tradition der Rasse und des Volkes fort, die den Einflüssen der Gegenwart, neuen Veränderungen, nur langsam weicht, und solange sie durch das Über-Ich wirkt, eine mächtige, von den ökonomischen Verhältnissen unabhängige Rolle im Menschenleben spielt“ (Freud 1933a, 73f). Die sich daraus ergebende Konsequenz, die von der gegenwärtigen Modernisierungshysterie völlig verdrängt wird, ist schwerwiegend: „Die Veränderungen in der menschlichen Natur (erfolgen) in gleichsam diluvialen Intervallen; betrachtet man sie in ihrer vollen historischen Bedeutung, so sind ihre Ausmaße gewaltig, gemessen an der Lebensspanne selbst ganzer Generationen hingegen sind sie kaum wahrnehmbar“ (Baran 1960, 80).

Entfremdung und Affektverkümmerung

Die Theorien von Marx und Freud stellen zwei verschiedene Zugänge zur Erforschung der menschlichen Natur dar, die sich wechselseitig ergänzen und bereichern. Ihr gemeinsamer Nenner ist, dass sie im Menschen ein Wesen unter der Botmäßigkeit irrationaler Mächte erkennen, die der Entwicklung seiner Existenz entgegenarbeiten. Im Prozess der Aneignung der Welt erfährt sich der Mensch nicht als Urheber, vielmehr bleibt ihm die Welt fremd. Der Marxsche Begriff der Entfremdung meint die Trennung von Subjekt und Objekt, die bedeutet, die Welt und sich selbst passiv und rezeptiv zu erfahren. Die psychische Dimension dieses Begriffs wird deutlich im Unterschied zwischen dem Sinn des Habens und dem Sinn des Seins: „Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben. ... Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also das Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz, gebraucht wird. ... Alle Leidenschaft und alle Tätigkeit muss also untergehn in der Habsucht. Der Arbeiter darf nur soviel haben, dass er leben will, und darf nur leben wollen, um zu haben“ (Marx 1844, 539f, 550). Freud bezeichnet den Prozess der Unterdrückung der Emotionalität bzw. ihre Umformung in die gesellschaftlich akzeptierte Aggressivität des Konkurrenzkampfes als Affektverkümmerung und kommt, ironischerweise auf Grund seiner ahistorischen Betrachtungsweise, zu der wichtigen Erkenntnis, dass es sich dabei um eine psychische Konstante handelt. „Das heißt, hier wird ein Sachverhalt manifest, den Marx mit seinem Begriff der Entfremdung des Menschen von sich selbst in den rechten theoretischen Zusammenhang gerückt hat. Die Entfremdung des Menschen von sich selbst – die Verstümmelung des Individuums, die Unterwerfung seiner Natur unter die Erfordernisse des Unternehmens, die tödliche Verletzung seiner Spontaneität und seine Verwandlung in einen selbstsüchtigen, berechnenden und umsichtigen Teilnehmer am Produktionsprozess (dessen Objekt das Individuum zugleich ist) – diese Entfremdung bezeichnet die psychische Struktur des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft, das innere Gerüst seiner Handlungen und Gedanken“ (Baran 1960, 93f).

Gegenstand der Psychoanalyse sind jene Prozesse, „durch die das Postulat ‚Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein’ außer Kraft gesetzt wird, und statt dessen Phantasmen und Illusionen zu Motiven des menschlichen Handelns werden“ (Erdheim 1982, 192) und die das „gesellschaftlich Unbewußte“ bilden. Das ist „jener Teil des Unbewußten eines Individuums, den es gemeinsam mit der Mehrzahl der Mitglieder seiner sozialen Klasse hat (...). Jede Kultur gestattet gewissen Phantasien, Trieben und anderen Manifestationen des Psychischen ebenso wie Wahrnehmungen der Realität den Zutritt ins Bewußtsein und verlangt, daß andere verdrängt werden. Unbewußt muß all das werden, was die Stabilität der Kultur bedroht. ... Das gesellschaftlich Unbewußte ist somit wie ein Behälter, der all das aufnehmen muß, was eine Gesellschaft gegen ihren Willen verändern könnte“ (Erdheim 1982, 221). Die Abwehrmechanismen des Individuums suchen auch immer wieder Verstärkung durch die bereits von der Gesellschaft etablierten und vielfach bekräftigten. Rationalisierung, die „nicht dasselbe wie die Ideologie“ (Adorno 1955, 64) ist, und Verinnerlichung geben dem psychischen Apparat den Charakter einer perfekten Ergänzung zum physischen Zwang der Klassengesellschaft: „Daß der Arme in Wirklichkeit nichts wert ist, wird ihm jeden Tag aufs neue demonstriert; im Grunde weiß er es von Anfang an. Die herrschende Ideologie enthält zwar meist das Gegenteil, aber die tieferen seelischen Schichten der Menschen werden nicht von ihr allein, sondern ebensosehr von der beständigen Erfahrung der widersprechenden Wirklichkeit bestimmt“ (Horkheimer 1936, 73). Die Macht der verdinglichten Produktionsweise prägt Bewusstsein und Unbewusstes der Menschen, und Elastizität sowie Anpassungsfähigkeit der Triebstruktur bilden das Moment der Vermittlung zwischen der ökonomischen Struktur und der Ausgestaltung des kulturellen Überbaus: „Da sie vom gesunden Menschenverstand gepeinigt sind, auf den alle Agenturen der bürgerlichen Kultur setzten und der das oberste Gebot der kapitalistischen Rationalität darstellt, können sie kaum vermeiden, die Rationalität des Kaufens, Verkaufens und Profitemachens mit der Vernunft selbst zu identifizieren. ... Der Widerstreit zwischen totaler und partieller Rationalität spielt sich ja nicht nur in der Kultur ab: Er greift über auf die Menschen, besetzt ihre Gedanken und Gefühle, stempelt ihre Interessen, Wertungen und Entschlüsse. So stellt das gesellschaftliche System den Menschen, wie es ihn braucht, selber her“ (Baran 1960, 87f, 84). Weil Freud in seiner Beschränktheit bei der atomistischen Existenz des Individuums verharrte, konnte er die Struktur der Beschädigung in ihrer Allgemeingültigkeit aufzeigen und daraus einen radikalen, aber zutreffenden Schluss ziehen: „Solange außer der sexuellen Denkhemmung die religiöse und die von ihr abgeleitete loyale (d.h. Treue zum Kaiserhaus bzw. zum Staat generell, K.U.) auf die frühen Jahre des Menschen einwirken, können wir wirklich nicht sagen, wie er eigentlich ist“ (Freud 1927, 371).

2. Autorität und Familie – revisited

„Nur wer das Neuste als Gleiches erkennt, dient dem, was verschieden wäre.“ (Adorno 1942, 376)

Das Verhalten des größten Teils der osteuropäischen Bevölkerung beim Zusammenbruch des sozialistischen Systems, wie auch die geringe Bereitschaft der Menschen in den kapitalistischen Staaten, den Appellen zu mehr Dynamik und Flexibilität freiwillig Folge zu leisten, werfen die Frage nach dem möglichen Tempo gesellschaftlicher Veränderungen auf. Anders ausgedrückt: Wie weit können politische und soziale Transformationen vom Individuum nicht nur auf der Bewusstseinsebene, sondern auch in seiner psychischen Struktur akzeptiert und verarbeitet werden? Eine wesentliche Erkenntnis der Psychoanalyse besagt, dass Sicherheit nichts anderes ist, als die Objektivierung des Lustprinzips in der Zeit. Hinzu kommen, dass der Trieb „die Äußerung der Trägheit im organischen Leben“ (Freud 1920, 38) ist und der Kern des Unbewussten aus ererbten psychischen Bildungen besteht: „Das primitiv seelische ist im vollsten Sinne unvergänglich“ (Freud 1915, 337)[5]. Auch die von den Individuen selbst geformte moralische Instanz, das Über-Ich, ist der Tradition verhaftet: „Erziehungsmuster ändern sich nur sehr langsam. Man kann die Familie und vor allem die Mütter nicht dazu bringen, ihre Kinder anders aufzuziehen, als sie selbst aufgezogen worden sind. Dadurch erzeugen sie zwangsläufig in der nächsten Generation kulturspezifische Eigenheiten, die durch Erziehungsgewohnheiten, gültige Wertsysteme und mannigfache Verhaltensweisen der Mütter (und vieler anderer Personen der Umwelt) vermittelt worden sind. Das läßt sich so ausdrücken, daß einmal erworbene kulturspezifische Eigenheiten einer Art Wiederholungszwang unterliegen, der über die Generationen hinauswirkt ... Damit haben wir den gleichsam konservativen Anteil an der Kultur, am wirklichen und wirksamen Verhalten ihrer Individuen, am psychologischen Überbau der jeweiligen Gesellschaft oder ihrer Untergruppe beschrieben“ (Parin 1976, 58). Deshalb sind die „Studien über Autorität und Familie“ sowie die danach entstandenen Arbeiten von grundlegender Bedeutung. Die Emigration in das industriell entwickeltste Land konfrontierte die „Frankfurter Schule“ mit der Phase der kapitalistischen Entwicklung, in der die traditionelle Charakterstruktur mit der konsumistischen in Konflikt kam. Was wir heute, ein halbes Jahrhundert danach haben, ist die weitgehend durchgesetzte konsumistische Charakterstruktur, d.h. die Verschiebung relevanter Alltagsmechanismen ins Unbewusste.

Trotz aller Veränderungen und Auflösungserscheinungen ist die Familie nach wie vor die zentralen Institution für den Erwerb und die Weitergabe wirtschaftlicher und politischer Macht sowie „Tradierungsinstanz für gesellschaftliche Ohnmacht“ (Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2001, 230). Auch wenn die elterliche Gewalt seit 1980 „elterliche Sorge“ heißt, ändert das nichts daran, dass sie die Instanz ist, die autoritätsorientierte Menschen hervorbringt, die sich zwar nicht an einem bestimmten Führertyp orientieren, aber „allgemein ein Vertrauen in die Staatsmacht als solche im Sinne der Gemeinwohlideologie (Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2001, 267) haben. Die Veränderung der sozialökonomischen Strukturen durch die spezifischen Reproduktionsbedingungen des Monopolkapitalismus[6], die sich nach 1945 endgültig durchgesetzt und entfaltet haben, rührt nicht an der Familie als Institution, die die gesellschaftlich erwünschte seelische Struktur schafft, wohl aber an ihrer Binnenstruktur: „In der zweiten Hälfte des 20. Jh. vollzieht sich (die) Sozialisation zunächst unter den Bedingungen einer steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen bzw. beider Elternteile und sodann einer andauernden Massenarbeitslosigkeit. Das führt dazu, dass sich die Stellung beider Elternteile so oder so annähert, die Sorgeberechtigung gleichverteilt wird, und die Unterhaltsfamilie als Elternfamilie auftritt. Das Sozialisationsproblem ist dadurch nicht einfacher geworden. Die Außensteuerung der Entwicklung der Kinder, die mit der modernen Unterhaltsfamilie als einem patriarchalen Gewaltgefüge verbunden ist, wird durch das zunehmende Gewicht außerfamilialer Sozialisationsinstanzen ... verstärkt und gegenüber der Eigenentwicklung noch mehr verselbständigt“ (Tjaden-Steinhauer/Tjaden 2001, 292). Selbst wenn dem Vater nicht mehr zentrale Bedeutung zukommt, so ist der/die Erzieher(in) nach wie vor weniger Vorbild als Abbild der gesellschaftlichen Autorität. Der psychische Mechanismus, der das Verhalten der Majorität zur herrschenden Minorität bestimmt, ist weiterhin geprägt durch eine Mischung von Bewunderung, Angst und Glauben an die Kraft, Klugheit und guten Absichten der Autoritäten, d.h. den kindlich affektiv bedingten Überschätzungen ihrer intellektuellen und moralischen Qualitäten. Und die für die soziale Stabilität so überaus wichtigen ethischen und moralischen Vorstellungen sind ebenfalls nicht das Ergebnis bewusster Prozesse, sondern „das Produkt bestimmter affektiver, emotionaler Beziehungen zu denjenigen, die die Vorstellungen inaugurieren und vertreten“ (Fromm 1932, 37). In dem Maß, in dem „das Kind lernt, daß nicht der Vater, sondern die Spielgefährten, die Nachbarn, der Anführer der Bande, der Sport, die Leinwand die Autoritäten für angemessenes geistiges und körperliches Verhalten sind“ (Marcuse 1963, 95), wird jedoch die Bildung eines integrierten, kontinuierlich funktionierenden Über-Ichs beeinträchtigt. In einer autoritär strukturierten Gesellschaft, was jede Klassengesellschaften sein muss, ist das Wesentliche am Autoritätsverlusts des Vaters aber nicht das befreiende Moment, sondern der Verlust: „Das Ich, das sich ohne viel Kampf entwickelt hat, erscheint als eine ziemlich schwache Wesenheit, wenig geeignet, ein Selbst mit den anderen und gegen sie zu werden, den Mächten wirksamen Widerstand entgegenzustellen, die jetzt das Realitätsprinzip durchsetzen, und die vom Vater (und der Mutter) höchst verschieden sind – aber auch höchst verschieden von den Leitbildern, wie die Massenmedien sie liefern“ (Marcuse 1963, 93). Das schwache Ich steigert die Bereitschaft, widerstandslos vorgegebene gesellschaftliche Rollen zu erfüllen, nicht zuletzt, weil diese Identifikation Befriedigungen sichert, die in der Gesellschaft bereitstehen. Der Preis dafür besteht aber nicht allein in einer erhöhten Abhängigkeit von der Umwelt: „Triebansprüche, die der Rollenrepräsentanz nicht entsprechen, müssen abgewehrt werden; auch die Beziehung zu den Objekten von Liebe und Haß muß sich in das geforderte Verhalten fügen. Man funktioniert in der jeweiligen Institution reibungsloser, hat aber nicht nur ein Stück ‚geistiger Selbständigkeit’, sondern auch Gefühls- und oft Gewissensfreiheit eingebüßt“ (Parin 1978, 125). Hinzu kommt, dass die Institutionen die Bindung an die Familie perpetuieren. Das Individuum hat sich nicht wirklich von ihr abgelöst, was bekanntlich Voraussetzung jeglicher Autonomie ist, sondern seine Abhängigkeit nur auf die Institution verschoben.

Jugendkultur und Teamarbeit

Die Veränderungen in der Arbeitswelt und die sie begleitenden Ideologien haben Veränderungen gebracht, die den Eindruck erwecken, die Bedeutung von Autorität im gesellschaftlichen Leben sei im Schwinden begriffen. Zentrales Moment der „Jugendkultur“ ist die Auflösung „natürlicher“ Autorität durch die Umwertung von Jugend und Alter, d.h. die Entwertung der im Laufe des Lebens erworbenen Erfahrung und des historischen Wissens. Die Ideologie der „Jugendkultur“ hat ihre Wurzeln in der zentralen Bedeutung des Konsumismus für den Akkumulationsprozess des Monopolkapitals und im kapitalistischen Betrieb selbst: „Aus der Sicht des Unternehmens erscheint die Flexibilität der Jugend formbarer – sowohl beim Eingehen von Risiken als auch beim fraglosen Gehorsam“ (Sennett 1998, 125). Auch für die Arbeitswelt wird schon lange das Ende der Hierarchien verkündet. Das quasi jedes Jahr unter anderem Namen neu erfundene Konzept der Teamarbeit hat zwar mit der betrieblichen Realität wenig zu tun (vgl. Peter 2001, 99ff), ist aber eine wirkungsvolle Ideologie. In ihm spiegelt sich zwar auch die generelle Ich-Schwäche der Individuen wieder, aber es ist keineswegs defensiver Natur: „Dieses Fehlen von Autorität gibt den Oberen die Freiheit umzuschichten, anzupassen oder zu reorganisieren, ohne sich oder ihr Handeln zu rechtfertigen. ... Die Fiktionen der Teamarbeit sind also durch ihren oberflächlichen Inhalt, die Konzentration auf den Augenblick, ihre Vermeidung von Widerstand und die Ablenkung von Konflikten der Machtausübung ausgesprochen nützlich“ (Sennett 1998, 153ff). Die Veränderungen in der Arbeitswelt und die Ideologie der offenen Gesellschaft, in der – wie es dem Alltagsbewusstsein erscheint – „anything goes“, hat Rückwirkungen auf die Familie: „So hat sich eine Duldsamkeit gegenüber Kindern herausgebildet, die mehr von Normenunsicherheit, Schwäche, Desorientierung und Verunsicherung, ja von mangelndem emotionalen Interesse der Eltern motiviert ist und weniger von Zuneigung und Einsicht. Die Kinder entwickeln mehrheitlich flache Anpassungsmuster, die ihre statuskonforme Vergesellschaftung erleichtern mögen, aber unterhalb dieser brüchigen Anpassung hält sich eine archaisch anmutende Affektmatrix durch. ... Das Ich als Organisationskern der Person löst sich auf in ein unaufhörliches Wispern und Rauschen fremder Stimmen, denen das Subjekt prompt Folge zu leisten versucht, ohne deren Botschaften zuvor an verinnerlichten Normen zu prüfen“ (Eisenberg 2000, 50f). Die von Soziologen neuerdings entdeckte und der Computerkultur zugeschriebene „experimentalistische Lebenseinstellung“ der Jugend löst sich in diesem Zusammenhang auf in ein Produkt aus Normenunsicherheit, ideologischer Verblendung (Jeder ist seines Glückes Schmied, da objektive Umstände keine Rolle spielen) und Massenarbeitslosigkeit.

Weil „nicht bloß im Geist, in den Vorstellungen, grundlegenden Begriffen und Urteilen, sondern auch im Herzen des Einzelnen, in seinen Vorlieben und Wünschen ... sich die Klassenordnung wider(spiegelt), in der sein äußeres Schicksal verläuft“ (Horkheimer 1936a, 23), ist Autorität ein den psychischen Apparat des Menschen prägendes Element. In seiner Ambivalenz von Furcht, Ehrfurcht, Respekt, Bewunderung, Liebe und Hass wird sein Ursprung, das Verhältnis Kind-Vater/Eltern, deutlich. Was das Kind als unmittelbare und natürliche Tatsache erlebt und psychisch in der Regel durch Verdrängung bewältigt, liefert für den Erwachsenen den unbewussten Mechanismus zur Bewältigung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Deshalb erscheint es einleuchtend, „daß der Legitimationsglaube, woraus der Konsens zwischen Herrscher und Beherrschten erwächst, in Klassengesellschaften auf der Unbewußtmachung kränkender und erniedrigender Aspekte des Lebens der Beherrschten beruht. Der soziale Konsens hätte somit eine bewußte und eine unbewußte Seite; zum Bewußtsein gehören diejenigen Inhalte, die die Vorteile der Herrschaft hervorheben, wie z.B. ihre Schutz- und Ordnungsfunktion, und ins Unbewußte müßten diejenigen Wahrnehmungen verdrängt werden, die – würden sie Teil des Bewußtseins bilden – die Individuen zu einer Veränderung ihrer Situation veranlassen könnten. Durch diese Hypothese ließe sich die soziale Wirksamkeit der an sich oft völlig unglaubhaft erscheinenden Rechtfertigungsversuche einer herrschenden Klasse erklären“ (Erdheim 1982, 376f). Die zum Alltagsbewusstsein gehörende Dichotomie „die da oben – wir da unten“ wird nicht allein negativ erlebt wird und kann es auch gar nicht, da doch „die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken“ (Adorno 1965, 18). Am Phänomen der Konformität wird nicht nur deutlich, wie stark dieses „wir“ libidinös besetzt ist, sondern auch, dass ein zentraler Befund von „Autorität und Familie“ nach wie vor Geltung hat: „Die relative Undurchschaubarkeit des gesellschaftlichen und damit des individuellen Lebens schafft eine schier hoffnungslose Abhängigkeit, an die sich das Individuum anpaßt, indem es eine sado-masochistische Charakterstruktur entwickelt“ (Fromm 1936, 118).

Angst und Narzissmus

In der ganzen bisherigen Geschichte wurde der überwiegenden Mehrzahl der Menschen ein Übermaß an Entbehrung und Selbstdisziplin abverlangt. Weil rationales, d.h. marktkonformes Verhalten keine existentielle Sicherheit gibt, motiviert nicht dieses, sondern Angst das Individuum: „Sie ist vermittelt. Wer sich nicht nach den ökonomischen Regeln verhält, wird heutzutage selten sogleich untergehen. Aber am Horizont zeichnet die Deklassierung sich ab. ... Die Angst vorm Ausgestoßenwerden aber, die gesellschaftliche Sanktionierung des wirtschaftlichen Verhaltens hat sich längst mit anderen Tabus verinnerlicht, im einzelnen niedergeschlagen. Sie ist geschichtlich zur zweiten Natur geworden“ (Adorno 1955, 47). Diese Angst verstärkt sich durch die Flexibilisierung, die ein Gefühl der Ohnmacht vermittelt und von Verlust der Kontrolle über das eigene Leben. Hinzu kommt der Terror der Normalität, dieser nicht abreißende Strom von standardisierten Pseudohöflichkeiten (Einen schönen Tag noch; darf ich ihre Tasche durchsuchen etc.), die dem Alltag den Charakter eines Aufenthalts in der Gummizelle geben. Das kann als zivilgesellschaftliche Errungenschaft allgemeiner Menschenliebe ausgegeben werden, weil jede Gesellschaft auf einer kollektiven Basisstörung gründet, die in ihr keinen Krankheitswert besitzt. Bei den Menschen entsteht dennoch eine Art sozialer Dunkelangst, die ein Objekt sucht und es in Kinderschändern, Kriminellen und Ausländern findet. „Durch diese Projektion wird aus diffuser, richtungsloser Angst Furcht, die sich leichter ertragen läßt und gegen die man Vorkehrungen treffen zu können glaubt“ (Eisenberg 2000, 175). Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass „das Sexualleben des Kulturmenschen ... schwer geschädigt“ (Freud 1930, 465) ist. Kommerzialisierter Partnertausch in Swinger-Clubs, die zunehmende Zahl jugendlicher Mütter und die Tatsache, dass Pornografie den profitabelsten Teil des Internets ausmacht, sind nur einige Belege dafür. Die Lustfeindlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft setzt einen Mechanismus in Gang, dessen gravierende Auswirkungen eben nicht, wie Freud fälschlicherweise meinte, nur auf Frauen beschränkt sind: „Die Erziehung versagt ihnen die intellektuelle Beschäftigung mit den Sexualproblemen ... Damit sind sie vom Denken überhaupt abgeschreckt, wird das Wissen für sie entwertet. Das Denkverbot greift über die sexuelle Sphäre hinaus, zum Teil infolge der unvermeidlichen Zusammenhänge, zum Teil automatisch“ (Freud 1908, 162).

Der zum Massenphänomen gewordene Narzissmus, der sich als Asozialität in den gesellschaftlichen Beziehungen widerspiegelt, reflektiert die zentralen Werte der flexiblen Gesellschaft: Bleib in Bewegung, geh keine Bindung ein, bring keine Opfer. Individualität wird nicht verstanden als frei zu etwas zu sein, sondern nur als frei von etwas und macht deshalb zugleich Angst. Die so entstehende Sehnsucht nach Gemeinschaft ist defensiv, drückt sie sich doch vor allem in der Ablehnung des Anderen aus. Und die mannigfaltigen Formen der Identitätssuche lassen sich ebenfalls auf ein Abwehrverhalten reduzieren, das vor den Wirbelstürmen der Modernisierung schützen soll. Insofern beruht die ganze Individualisierungs-Euphorie „auf einer systematischen Verwechselung von Freiheit und zeitgemäßer Verflüssigung von Subjektstrukturen. Was wie Verlebendigung und eine Erweiterung von Handlungsspielräumen aussieht, ist in Wahrheit die der Struktur des flexiblen Kapitalismus entsprechende Enthemmung und Dynamisierung dysfunktional gewordener charakterlicher Prägungen“ (Eisenberg 2000, 201).

Monopolkapital und Konsumismus

Zu den auch von Linken übernommenen ideologischen Versatzstücken des Neoliberalismus gehört, dass der bürokratische Wohlfahrtsstaat die freie Entfaltung des Individuums behindert hat. Doch die Ersetzung staatlicher Bevormundung durch die Zwänge des Marktes macht die Menschen „in Wirklichkeit ... natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Gewalt subsumiert“ (Marx/Engels 1845, 76). Hinzu kommt ein historisch gewachsener Aspekt, der sich erst jetzt, unter dem propagandistischen Trommelfeuer des Neoliberalismus, voll entfaltet: „Die einmal erreichte Aufklärung, die wie sehr auch unbewußt in allen Individuen der durchkapitalisierten Länder wirksame Vorstellung, sie seien Freie, sich selbst Bestimmende, die sich nichts vormachen zu lassen brauchen, nötigt sie dazu, sich wenigstens so zu verhalten, als wären sie es wirklich“ (Adorno 1959, 103). Sich vernünftig zu verhalten, also nicht die irrationalen Bedingungen in Frage zu stellen, sondern das Beste aus ihnen zu machen, bedarf keines bewussten Willensaktes, da diese Anforderungen Bestandteil des Ich-Ideals sind, was sich aus dessen Entstehung ergibt: „Die Anregung zur Bildung des Ichideals, als dessen Wächter das Gewissen bestellt ist, war nämlich von dem durch die Stimme vermittelten kritischen Einfluß der Eltern ausgegangen, an welche sich im Laufe der Zeiten die Erzieher, Lehrer und als unübersehbarer, unbestimmter Schwarm alle anderen Personen des Milieus angeschlossen hatten. (Die Mitmenschen, die öffentliche Meinung)“ (Freud 1914, 163). Das macht aber auch deutlich, dass es sich bei dieser zentralen psychischen Instanz um ein „Denkmal der einstigen Schwäche und Abhängigkeit des Ichs“ (Freud 1923, 277) handelt. Parallel zur Verinnerlichung wird das Über-Ich auf die in der Gesellschaft herrschenden Autoritätsträger projiziert, was diese weitgehend rationaler Kritik entzieht. Verdrängung und Projektion sind umso wichtiger und dringender, je größer die Schwäche des Ichs ist. Und dafür sorgten bei den subalternen Klassen schon immer die gesellschaftlichen Mechanismen: „Wenn ein Kind zu fühlen beginnt, daß es seine Hautfarbe, sein Elternhaus oder der Preis seiner Kleidung ist, die über seinen sozialen Wert entscheiden ... so kann es daraus dauernden Schaden an seinem Identitätsgefühl nehmen“ (Erikson 1950, 106). Dieser banale Tatbestand hat zwei gravierende psycho-strukturelle Auswirkungen. Erstens „(glaubt) in jedem auf Unterdrückung, Ausstoßung und Ausbeutung beruhenden System der Unterdrückte, Ausgestoßene und Ausgebeutete unbewußt an das negative Leitbild ..., das zu verkörpern er von der herrschenden Gruppe gezwungen wird“ (Erikson 1949, 29). Zweitens beginnen Individuen und soziale Gruppen, „wenn sie bemerken, dass ihr sozial-ökonomischer Status gefährdet ist, sich unbewusst (zu) benehmen, als ob das drohende Unheil in Wirklichkeit durch innere Gefahren (Versuchungen) heraufbeschworen wäre. Infolgedessen tritt nicht nur eine Regression des Individuums auf frühe Schuldgefühle und Bußleistungen ein, sondern es kommt auch zu einer reaktionären Rückkehr zu Inhalt und Form historisch älterer Verhaltensgrundsätze. Der innere Moralkodex wird einschränkender, magischer, exklusiver, intoleranter usw.“ (Erikson 1949, 25). Das verstärkt grundsätzlich die Anpassungsbereitschaft, deren Mechanismen automatisch und unbewusst funktionieren, was aber nicht nur ihrer über Jahrhunderte dauernden Einübung geschuldet ist, sondern auch der technischen Entwicklung. Die Benutzeroberfläche eines PCs ist der vorläufige krönende Abschluss einer langen Entwicklung: „Die Maschine selbst, nicht nur die in der Fabrik, sondern sogar das eigene Automobil, ja das ganz moderne mechanisierte Leben bringen die Fähigkeit des Menschen zur Perfektion, allen Arten von Signalen zu gehorchen und unmittelbaren Erfordernissen auf Kosten seiner Fähigkeit zu genügen, eigene langfristige Entscheidungen zu fällen“ (Horkheimer 1950, 50).

Der Anpassungsprozess der Individuen an die vom Kapital für funktional gehaltene Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft ist erfolgreich nur bei Verankerung der systemnotwendigen Zwänge im Unterbewussten. Weil psychische Veränderungen jedoch langsam vor sich gehen, hat der Prozess der Internalisierung der Normen und Werte der „Konsumgesellschaft“, d.h. des Akkumulationsmodells des Monopolkapitals, das nach dem zweiten Weltkrieg nicht ohne affektive und institutionelle Widerstände in Europa durchgesetzt wurde, nahezu ein halbes Jahrhundert gedauert. Und das obwohl der Individualismus psychisch tiefer sitzt als die Erfahrungen und Erfolge kollektiven Handelns. So wie über mehr als ein Jahrhundert das Normalarbeitsverhältnis in die Arbeiterklasse hineingeprügelt wurde, wird es jetzt wieder herausgeprügelt. Langfristig bedeutsamer dürfte aber die Tatsache sein, dass die Computerisierung für den Großteil der Beschäftigten den materiellen Inhalt der Arbeit und die Identifikationsmöglichkeiten mit ihr quasi auf Null reduziert, wie die Beschreibung einer modernen Bäckerei verdeutlicht: „Nur wenige Bäcker sehen tatsächlich noch das Brot, das sie herstellen. Ihre Monitor-Bilder sind nach dem üblichen Windows-Prinzip aufgebaut, auf einem davon erscheinen Symbole für viel mehr Brotsorten, als man hier früher je hergestellt hat – russisches und italienisches Brot und französisches Batard sind durch Mausklick möglich. Brot ist ein Bildschirmsymbol geworden. Als Resultat dieser Arbeitsweise wissen die Bäcker allerdings nicht mehr, wie Brot eigentlich gebacken wird. ... Die Klarheit in der Bedienung der Mixer, Rührmaschinen und Öfen hat wirtschaftliche Motive; sie erlaubt es dem Unternehmen, Arbeitskräfte zu niedrigeren Löhnen als früher einzustellen, als die Arbeiter, nicht die Maschinen, das Handwerk beherrschten. ... Flexibilität schafft Unterschiede zwischen Oberfläche und Tiefe; die weniger mächtigen Untertanen der Flexibilität sind verurteilt, an der Oberfläche zu bleiben. ... Dieselbe Trennung macht es den Menschen schwer, die Welt um sich herum und auch sich selbst zu ‚lesen’“ (Sennett, 87ff).

Solange Kapitalmangel die Entwicklung des Kapitalismus hemmte, lautete sein Rezept: Minimierung der Bedürfnisse und Maximierung der Ausbeutung. Für den Monopolkapitalismus hingegen ist das Realisierungsproblem zentral, d.h. die Unterkonsumtion. Und damit gewinnt die alte kulturkritische Feststellung, „die Konsumentenkultur kann sich ... rühmen, kein Luxus, sondern die einfache Verlängerung der Produktion zu sein“ (Adorno 1949, 15), eine neue Dimension. Der Konsumismus ist eine unabdingbare ökonomische Notwendigkeit geworden. Das Kapital muss immer mehr Geld und Zeit für die Entwicklung von Methoden aufwenden, die garantieren sollen, dass die Menschen von der Sehnsucht beherrscht werden, immer neue Dinge zu besitzen und zu benützen. So mutieren sie zu Konsumenten, d.h. zu Individuen, denen das Menschsein abhanden gekommen ist: „Sie stehen in keiner produktiven Beziehung zur Welt, ergreifen sie nicht in ihrer vollen Wirklichkeit, ein Prozeß in dem sie mit ihr eins würden“ (Fromm 1961, 59). Die Herrschaft der Sachlichkeit über die Individuen wird durch die Computerisierung einen enormen Schritt weiter getrieben. Gleichzeitig sind die Satellitenschüssel auf dem Haus, das fröhliche Einkaufsradio im Supermarkt und das pausenlose Geplapper der Handybesitzer der entfremdete Ausdruck des Verzweiflungsschreis, nicht allein gelassen zu werden. Denn „mit der Masse der Gegenstände wächst ... das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist, und jedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung“ (Marx 1844, 547).

Literatur:

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[1] Marketing und Werbung sind zentrale Hebel mit denen die Monopole versuchen das Realisierungsproblem zu lösen (vgl. Baran/Sweezy 1966, 114ff). Welch enorme Veränderungen sich aus der bewussten und zielstrebigen Entwicklung universeller Manipulationstechniken für Alltagsleben und -bewusstsein innerhalb von knapp fünfzig Jahren ergeben haben, macht ein Vergleich der bei Vance Packard, „Die geheimen Verführer“ (1957), und Naomi Klein, „No logo“ (1999), beschriebenen gesellschaftlichen Realitäten deutlich.

[2] Spätestens die Ereignisse der Jahre 1989ff sollten auch Marxisten von der Berechtigung der Freudschen Feststellung überzeugt haben: „Und obwohl der praktische Marxismus mit allen idealistischen Systemen und Illusionen erbarmungslos aufgeräumt hat, hat er doch selbst Illusionen entwickelt, die nicht weniger fragwürdig und unbeweisbar sind als die früheren. Er hofft, im Laufe weniger Generationen die menschliche Natur so zu verändern, daß sich ein fast reibungsloses Zusammenleben der Menschen in der neuen Gesellschaftsordnung ergibt und das sie die Aufgaben der Arbeit zwangsfrei auf sich nehmen.“ (Freud 1933a, 195)

[3] „Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer äußeren Nützlichkeitsbeziehung gefaßt wurde ... Eine Psychologie, für welche dies Buch, also grade der sinnlich gegenwärtigste, zugänglichste Teil der Geschichte zugeschlagen ist, kann nicht zur wirklichen inhaltvollen und reellen Wissenschaft werden.“ (Marx 1844, 542f)

[4] Fromm bezieht sich dabei auf eine Bemerkung in „Die deutsche Ideologie“: „Die kommunistische Organisation wirkt in doppelter Weise auf die Begierden, welche die heutigen Verhältnisse im Individuum hervorbringen; ein Teil dieser Begierden, diejenigen nämlich, welche unter allen Verhältnissen existieren und nur der Form und Richtung nach von verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen verändert werden, wird auch unter dieser Gesellschaftsform nur verändert, indem ihnen die Mittel zur normalen Entwicklung gegeben werden; ein anderer Teil dagegen, diejenigen Begierden nämlich, die ihren Ursprung nur in einer bestimmten Gesellschaftsform, bestimmten Produktions- und Verkehrsbedingungen verdanken, wird ganz und gar seiner Lebensbedingungen beraubt. Welche Begierden nun unter der kommunistischen Organisation bloß verändert und welche aufgelöst werden, läßt sich nur auf praktische Weise, durch Veränderung der wirklichen, praktischen ‚Begierden’, nicht durch Vergleichungen mit früheren geschichtlichen Verhältnissen, entscheiden.“ (Marx/Engels 1845, 238f)

[5] „Was keines Menschen Seele begehrt, braucht man nicht zu verbieten, es schließt sich von selbst aus. Gerade die Betonung des Gebots: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag“ (Freud 1915, 350).

[6] Es muss, weil dies Implikationen für die Analyse politischer, kultureller und psychischer Phänomene hat, angemerkt werden, dass Monopolkapitalismus hier im Sinne der von Baran/Sweezy entwickelten Theorie verstanden wird. Es ist zwar aus historischen Gründen erklärbar, aber dennoch erstaunlich, mit welcher Nonchalance die deutsche Linke (mit wenigen und publizistisch kaum vernehmbaren Ausnahmen) die ökonomischen Analysen des für den Kapitalismus zentralen Realisierungsproblems durch Kalecki, Baran, Sweezy und Magdoff grundsätzlich nicht zur Kenntnis genommen hat.