Bekannt geworden ist Leo Kofler vor allem als Autor einer Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft[1]. Viele sehen in ihm den marxistischen Pädagogen und Methodologen oder den Stalinismuskritiker, manche gar den Literaturtheoretiker und Anthropologen. Als explizit politischen Denker jedoch nimmt ihn kaum jemand wahr. Auch Kofler selbst hat diesen Aspekt seines Werkes zumeist heruntergespielt, oftmals gar geleugnet. So beispielsweise im Vorwort zu einem seiner Hauptwerke, wo er im Zusammenhang seiner Theorie der progressiven Elite betont, dass seine Ausführungen „nicht den Schein erwecken (sollen), als ob es sich bei der vorliegenden Schrift um eine politische handelte. Nichts wäre irriger. Ihr Anliegen ist theoretischer Natur, wie auch ihr Ursprung“.[2]
Ich erlaube mir, das anders zu sehen, und möchte im Folgenden aufzeigen, inwiefern ich ihn sogar für einen ausgesprochen originellen und aktuellen politischen Theoretiker halte. Ein Rückblick auf seine Theorie der progressiven Elite ist nicht nur aufschlussreich zur Bestimmung des historischen Ortes Koflers als eines politischen Denkers des 20. Jahrhundert.[3] Er erlaubt uns auch einen aktualisierenden Blick auf das Erbe von „1968“ und den historischen Ort der neuen globalisierungskritischen Bewegungen.
Vom Ende der sozialistischen Klassik ...
Leo Kofler ist in vielem ein Kind des so genannten „klassischen Marxismus“, d.h. des Marxismus der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es ist das „Rote Wien“ der Zwischenkriegszeit, das Wien der 20er und 30er Jahre, dieser letzte Hort der klassischen Arbeiterbewegung, in dem er bis zur Vollendung seines 31. Lebensjahres lebt und lernt. Gleichsam als organisches Produkt dieses Milieus wird Kofler ein begeisterter Schüler von Max Adler, der in vielem einer der letzten Denker des „klassischen Marxismus“ der Jahrhundertwende ist und in manchem einer, der über dieses Erbe hinausging.
Doch so sehr auch der Linkssozialist Kofler in diesem Milieu groß geworden ist, so sehr ist doch der spätere marxistische Theoretiker Kofler ein Produkt des Bruchs mit diesem Erbe. Von der austromarxistischen Sozialdemokratie löst er sich Mitte der 30er Jahre, nach deren Kapitulation vor dem aufkommenden Austrofaschismus. Von seinem theoretischen Ziehvater Adler löst er sich kurze Zeit später im Schweizer Exil, in das er 1938, nach dem Anschluss ans faschistische Deutschland, mittellos und allein fliehen kann. Losgelöst und enttäuscht von alten politischen und sozialen Zusammenhängen findet sich der Einzelgänger Kofler als Strandgut einer in Terror und Blut untergehenden Welt wieder und beginnt seine theoretische Rechenschaftslegung. Durch die an Georg Lukács anknüpfende Rekonstruktionsarbeit einer marxistischen Soziologie als Subjekt-Objekt-Theorie wird Kofler ein in vielem typischer Vertreter des „westlichen Marxismus“ der 30er und 40er Jahre.[4]
In spezifisch links-austromarxistischer Tradition bewahrt er sich jedoch trotz eingefleischtem Antistalinismus eine politische Sympathie zum kommunistischen Antifaschismus der Volksfrontperiode. Seine gleichsam reformkommunistische Hoffnung auf Entstalinisierung und Entbürokratisierung der sozialistisch-kommunistischen Bewegung in nachfaschistischer Zeit lässt ihn 1947 in die „Sowjetische Besatzungs-Zone“ Deutschlands gehen. Mit deren Restalinisierung im beginnenden Kalten Krieg setzt sich Kofler von dieser politischen Bindung jedoch wieder ab und muss Ende 1950 in den Westen fliehen.
Hier im Westen formuliert Kofler zu Beginn der 50er Jahre in mehreren kleinen Schriften eine der zumindest in Deutschland ersten marxistisch fundierten Kritiken der stalinistischen Bürokratie.[5] Er arbeitet in jener Zeit vorwiegend am linken Rande der sozialdemokratischen Partei sowie in den entsprechenden Gewerkschaftskreisen. Von Beginn an kritisiert er jedoch deren Preisgabe marxistischer Grundsätze und Erkenntnisse. Noch bezog sich zwar die damalige SPD auf die lohnarbeitende Klasse und war auch in diesem Milieu verankert, doch ihre Theorie und Politik entwickelten sich bereits zunehmend auseinander. Die Logik des kapitalistischen Gesellschaftssystems werde, so Koflers Kritik, nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt, sondern technokratisch zu zähmen versucht. Der Sozialismus als Ideologie und Praxis werde zurückgedrängt und einzig als „ethischer“ noch toleriert. „Der im verdinglichten Prozess befangene ‘Fachmann’ hat den Lehrer verdrängt. So will man gegen den Kommunismus und Faschismus bestehen ‑ längst nicht mehr gegen die bürgerliche Welt insgesamt, deren Entfremdung und Dekadenz man durch Unkenntnis und, wenn man auf Grund gewisser Traditionen etwas klüger ist, durch Darüber-hinweg-Schweigen ‘überwunden’ zu haben glaubt.“[6]
Mit seiner dezidierten und in der ersten Hälfte der 50er Jahre im Wesentlichen abgeschlossenen Kritik beider zeitgenössischer Strömungen der sozialistischen Linken wird Kofler erneut zum heimatlosen Linken zwischen allen Stühlen. In dieser neuen Situation nimmt er seine alten Studien zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft wieder auf und beginnt, sie auf die Verhältnisse der spätbürgerlichen Gesellschaft der 50er Jahre anzuwenden.
Der sozialstaatlich gebändigte Nachkriegskapitalismus, so Kofler in seinem 1960 erschienenen Werk Staat, Gesellschaft und Elite zwischen Humanismus und Nihilismus[7], ist auch weiterhin eine antagonistische, von Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Herrschaft geprägte Klassengesellschaft, in der die einen haben, was den anderen fehlt. Noch immer gebe es Herr und Knecht, bürgerliche Elite und Proletariat. Und auch wenn letzteres mittlerweile materiell besser gestellt sei, es bleiben ökonomische Abhängigkeit und Unsicherheit und es bleibt das Wissen um die gesellschaftliche Unterlegenheit, die Kluft zwischen Oben und Unten sowie das Bewusstsein davon. Trotzdem haben sich die Herrschaftsmechanismen nachhaltig verändert. Repression, wie er sagt, verinnerlicht sich zunehmend, Herrschaft „vergeistigt“ sich. Das heißt, das Ideologische überlagert das Soziale als Mittel gesellschaftlicher Integration. Der Liberalismus verdrängt endgültig alle radikaldemokratischen und humanistischen Ansprüche der frühbürgerlichen Zeit und wird nihilistisch. Freiheit wird nur noch als negative gefasst, als Freiheit von, nicht mehr als Freiheit zu ‑ bestenfalls als Freiheit des Konsums, so man ihn sich leisten kann.
„Indem es [das Bürgertum] resigniert, seine ursprünglichen Ideale fallen lässt, sich dem Pessimismus und der Fortschrittsfeindlichkeit in die Arme wirft, gibt es ungewollt zu, dass die Verwirklichung der humanistischen Ziele innerhalb der bürgerlichen Ordnung unmöglich ist (...) Die Welt ist für das Bürgertum nur noch ‘nützlich’, profiterträglich, sonst ist sie leer und sinnlos geworden. Die übriggebliebene ‘Freiheit’ ist nicht mehr die Freiheit, Ideale zu verwirklichen und den Menschen zu erhöhen – wer dies noch will, wird verdächtig! – , sondern die Freiheit der Konkurrenz, des Urwalds. Im Grunde ist alles erreicht, es hat Geschichte gegeben, aber es gibt in Zukunft keine mehr.“ (S.150)
War das frühbürgerliche Streben nach menschlicher Vervollkommnung mittels Aufklärung, Bildung und Pädagogik auf die „äußere Welt“ gerichtet, so richte es sich heute statt dessen nach ‘innen’, ins Individuum, und werde „zu einer esoterischen, ichbezogenen Beschäftigung mit dem seelischen ‘Inneren’“ (S.37). Diese Esoterik nimmt beim Subjekt Züge „fanatischer Monomanie“ an – es fühlt sich in elitärer Weise subjektiv und kulturell frei und über „die Masse“ erhaben. Da auf diesem Wege Emanzipation einzig auf individuellem Wege möglich scheint, verdichten sich jedoch Pessimismus und Lethargie „zu einer Art nihilistischem Weltschmerz (...), der sich wie ein vielarmiger Polyp über die ganze Gesellschaft lagert“ (S.40).
Aus der Not mache die spätbürgerliche Ideologie eine Tugend, „aus den Kainszeichen des Niedergangs Wahrzeichen menschlicher Existenz“, in dem sie das „chaotische und sinnentleerte ‘Nichts’ des Bestehenden (...) zu einem Existential allen Seins“ (S.41) erhebe, zur ewigen menschlichen Situation. Auf diesem Wege werde der herrschende Status Quo gleichzeitig verneint wie anerkannt ‑ der Nonkonformismus entpuppt sich als neuer Konformismus: „Die moderne hochbürgerliche Form der Repression“, schreibt Kofler 1967 in seiner Schrift Der asketische Eros (S.15), „verbirgt sich unter einem dichten Schleier scheinbar gewährter politischer und vor allem erotischer Freiheiten. Der gewährte Eros wird aber durch Unterwerfung und Verzicht im außerindividuellen Lebensbereich erkauft, und im individuellen kommt es eben deshalb auch nicht zu jener Wirkung, die die Ideologie vortäuscht. Die Askese ist die Begleiterscheinung des Eros, vielfach ihn wieder ganz verdrängend.“
Anders als bei Herbert Marcuse, an den diese Analyse keinesfalls zufällig stark erinnert, ist für Kofler der Prozess spätkapitalistischer Verdinglichung jedoch kein eindimensionaler, kein scheinbar unausweichlicher. Der andauernde Klassenantagonismus schlage sich, so Kofler, auch weiterhin im Bewusstsein des einfachen, nicht vollständig angepassten Arbeiters nieder und könne, entsprechend konsequent betrieben, auch politisiert werden. Gerade weil Sozialdemokratie und Stalinismus mit ihrem positivistisch verengten, bürokratischen Denken nicht mehr fähig seien, über den realkapitalistischen und realsozialistischen Tellerrand hinweg zu blicken, und beide deswegen auf jeweils spezifische Weise vor der herrschenden Entfremdung kapitulieren, betrachtet er sie als zwei Seiten einer Medaille. Beide Strömungen sind für ihn Ausdruck einer umfassenden, die allgemeinmenschliche Emanzipation verhindernden Bürokratisierung der Arbeiterbewegung, die es rückgängig zu machen gilt.
... zur Theorie der progressiven Elite
Kofler konstatiert also ein historisches Versagen von Sozialdemokratie und Stalinismus und er stellt sich die Frage, wer denn den Fortschritt praktisch verkörpere, wenn die für ihn historisch verantwortlichen Kräfte solcherart gescheitert seien. Die Geschichte, schreibt er in hegelianisierender Manier, lasse sich nicht betrügen und schaffe sich einen Ersatz, „dem die Aufgabe zufällt, den Übergang zu sichern“.
Erstmals registriert er diesen Ersatz am Ende des Jahres 1957, als er in einem kleinen Zeitungsartikel über „die progressive Elite und ihr Verhältnis zur Kunst Bert Brechts“[8] von einer neuen historischen Schicht, gar von einer neuen Elite spricht. Er beschreibt hier „diese amorph sich aus progressiven Elementen sozialistischer und nichtsozialistischer Herkunft zusammensetzende Elite“ und sagt ihr voraus, „dass sie berufen ist, eines Tages eine wichtige Rolle zu spielen“. Kofler nennt diese eigenständige Schicht fortan mal die progressive, mal die humanistische Elite. Man kann dabei über den Begriff der Elite durchaus streiten. Kofler verstand ihn, den Begriff der Avantgarde bewusst vermeidend, nicht moralisch wertend, sondern als soziologische Beschreibung dessen, dass sich aus der unmündig, d.h. bewusstlos gehaltenen Masse einer Klassengesellschaft immer Einzelne durch ihr ‘höheres’, kritischeres Bewusstsein hervorheben.
Bereits 1960, in Staat, Gesellschaft und Elite zwischen Humanismus und Nihilismus (Vergeistigung der Herrschaft, S.346ff.), beschreibt er sowohl das Wesen und den Charakter dieser progressiven Elite, als auch deren Widersprüche. Sie sei, schreibt er, oberflächlich betrachtet gar nicht existent. Sie sei keine besondere und geschlossene Gruppe, kein homogener Teil einer bestimmten Klasse oder Schicht, also nicht rein bürgerlich oder proletarisch oder kleinbürgerlich oder was auch immer. Sie ist vielmehr eine „amorphe Masse mit stark fluktuierenden Tendenzen“, heterogen in ihrer sozialen und politischen Zusammensetzung, heterogen in ihren sozialen und politischen Ansichten, heterogen in ihrem Habitus. Sie sitzt zwischen allen Stühlen, ist widerspruchsvoll und unbeständig, gesellschaftlich machtlos und „doch ist sie da und nicht ohne Bedeutung“.
Wir haben es bei dieser progressiven Elite mit unabhängigen Individuen aus allen politischen und sozialen Milieus zu tun, „quer durch die traditionellen, sozialen und weltanschaulichen Fronten hindurch“, also jenseits der alten Front von Sozialismus und Nichtsozialismus. Die Progressiven führen am Rande und in den Nischen der gesellschaftlichen Organisationen (in Parteien, Verbänden, kulturellen und religiösen Vereinigungen) oder als Individuen (Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler) eine Art Pariadasein. Was sie auszeichne, sei keine Frage der Knopflochblume, nichts, was ihnen quasi automatisch per Bekenntnis zukomme. Es ist vielmehr eine Frage der humanistischen Sensibilität und müsse immer wieder von neuem den herrschenden Gewalten bewusstseinsmäßig abgerungen werden.
Entscheidend (und hier liegt die Originalität seiner Theorie) ist nun, dass Kofler in dieser progressiven, humanistischen Elite eine historisch eigenständige und entsprechend ernst zu nehmende Kraft gesehen hat. Er gab ihr nicht nur einen Begriff und eine Struktur, er sah in ihr auch eine gleichsam historisch-soziologische Notwendigkeit. Diese neue Elite könne zwar, fügte der überzeugte Marxist und Sozialist sogleich kritisch hinzu, „die zur Umwandlung der Gesellschaft historisch berufene Arbeiterbewegung nicht ersetzen. Sie bleibt ein bloßer und vorübergehender Ersatz für diese Bewegung in den Zwischenzeiten ihrer Erstarrung“. Sie sei jedoch „ein unentbehrlicher Gärstoff (...), der die Gesellschaft vor der Todesstarre bewahrt“ (meine Hervorhebung).
Dieser unentbehrliche Gärstoff nehme die alten humanistischen Versprechen ernst und wende sich mal mehr, mal weniger bewusst gegen die „Dekadenz“-Erscheinungen der spätbürgerlichen Gesellschaft, gegen Entfremdung und Verdinglichung. Doch gerade weil sie sozial, politisch und kulturell nicht gefestigt seien, gerade weil sie nicht integraler Teil einer stabilen sozialpolitischen Gegenmacht wie der alten klassischen Arbeiterbewegung seien, neigen diese humanistischen Individuen nicht nur zur ‑ in der Regel ironisch gebrochenen ‑ Auflehnung gegen das Bestehende. Ebenso neigen sie permanent dazu, dem Zwang der herrschenden Entfremdung zu unterliegen und sich in abwartender Passivität, in Kontemplation mal pessimistisch verzweifelnd, mal zynisch einzurichten. Deutlich sei deswegen ein für die progressive Elite typischer und von Kofler auch gerechtfertigter Zug ins Utopische angesichts zunehmender Entfremdung und integrierter Praxis, der jedoch beständig umzukippen drohe in einen haltlosen und lebensfremden Utopismus.
Koflers Analyse der progressiven Elite erinnert nicht zufällig an seine Interpretation der frühbürgerlichen Sektenbewegungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit in Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft.[9] Auch die vielfältigen Sektenbewegungen sind Träger radikaler Sozialkritik. Auch sie weisen einen inneren Widerspruch zwischen revolutionärem Rationalismus und mystizistischer Hinnahme des Bestehenden auf. Auch sie sind Produkte einer historischen Situation objektiver Unmöglichkeit revolutionärer Gesellschaftsveränderung: Individuelle Revolten und Kleingruppenbewegungen sind strukturell nicht dazu in der Lage, eine Klassengesellschaft umzustürzen und eine neue Gesellschaft aufzubauen. Das Wissen um die strukturellen Grenzen der mittelalterlichen Sektenbewegungen hat den Historiker Kofler jedoch nicht gehindert, sie als „vorwärtsweisende Faktoren in der neuzeitlichen Geschichte“ zu verstehen. Vergleichbar die moderne „progressive Elite“. Mit dem Zerfall der klassischen sozialistischen Massenbewegung, bzw. ihrer weitgehenden Integration, wurde die menschliche Emanzipationsbewegung Mitte des 20. Jahrhunderts erneut auf individuelle und Kleingruppen-Akte zurückgeworfen. Anders jedoch als in der frühen Neuzeit gibt es für den überzeugten Sozialisten Kofler allerdings eine zeitgenössische Umwälzungsperspektive im Bündnis mit der erneuerten Arbeiterbewegung.
Was Kofler Ende der 50er Jahre als einer der ersten historisch beschrieben und analysiert hat, war der Aufstieg der Neuen Linken der 60er und 70er Jahre. Diese Neue Linke, im weitesten Sinne verstanden, umfasste Sozialisten und Demokraten, Männer und Frauen, Arbeiter, Studierende und Bürger, die Anti-Atombewegung wie die Friedensbewegung, Künstler, Wissenschaftler und Gewerkschafter, Internationalisten und Befreiungstheologen usw.. Sie war alles andere als homogen, aber nichts desto trotz eine identifizierbare Gemengelage ‑ eine amorphe Masse mit stark fluktuierenden Tendenzen, entstanden aus einer politischen Konstellation „alt“linker Niederlagen.
So sehr Kofler diese sich in der Neuen Linken konzentrierende progressive Elite für historisch im Recht hielt und auch die „neu“linke Programmatik in vielem teilte, so hielt er doch in „alt“linker Tradition daran fest, dass die progressive Elite lediglich eine historische Übergangsgemeinschaft sein könne, deren historisch-politische Aufgabe nicht die Begründung einer ganz neuen sozialen Bewegung ist, sondern die Rekonstruktion einer antibürokratischen, revolutionären Klassenbewegung. Um zu dieser Rekonstruktion zu gelangen, bedürfe es, so Kofler, eines neuen Bündnisses zwischen Intelligenz und sozialer Bewegung, einer Assoziation der progressiven Elite mit jenen in der Integration verharrenden Lohnabhängigen. Einzig der gemeinsame Kampf zur Rückeroberung gewerkschaftlicher und politischer Organisationen könne einen Ausweg aus der herrschenden Entfremdung weisen. Eine solche Bündnisperspektive verlange jedoch, wie er es in seiner 68er Schrift Perspektiven des revolutionären Humanismus (S.73ff.) so bildreich beschreibt, die Aufhebung der Trennung der beiden „ihrem Ursprung nach kritischen und oppositionellen Welten“. Sie verlange, dass sich die Welt der Fabrik, d.h. die Welt des vulgären und sturen Praktizismus, mit der Welt der Universität, d.h. der Welt hochentwickelter Abstraktion und selbstgefälligem Intellektualismus, wieder mische und gegenseitig beeinflusse. Ein solches Ziel mutet der progressiven Elite in der Tat sehr viel zu, da beide Welten „eifersüchtig über ihren Bestand (wachen), denn eine neuerliche Verbindung ist nur über die Zerstörung der beiden Glashäuser möglich, nur über die Überwindung des Praktizismus einerseits und über die Selbstkritik des halbnihilistischen Nonkonformismus andererseits“: „Die Zerstörung der beiden Glashäuser, die zu ideologischen Gefängnissen geworden sind, bildet die Voraussetzung für die Gesundung des revolutionären Humanismus“.
Um zu diesem Ziel zu gelangen, bedarf es der Partei nehmenden Einmischung. Doch nicht nur deswegen. Da die neue historische Schicht strukturell labil sei, da sie also permanent drohe, in verzweifelnden Pessimismus und Nihilismus abzurutschen, und weil ihre historisch-politische Aufgabe die Selbstveränderung, die Zerstörung der beiden Glashäuser sei, sieht Kofler die Klärung ihres prinzipiellen Gedankengutes in Auseinandersetzung vor allem mit nihilistischen Tendenzen innerhalb der progressiven Elite, aber auch mit liberalen, christlichen und anderen, auch anderen linken Tendenzen des Humanismus als seine vordringliche Aufgabe an, als seinen persönlichen Beitrag zur Entfaltung eines neuen revolutionär-sozialistischen Humanismus. Nur durch solche in Selbstkritik übergehende Selbstaufklärung könne die progressive Elite ihre historische Aufgabe erfüllen und damit vermeiden, zum Feigenblatt regressiver Tendenzen zu werden.
Worüber sich Kofler hier keine zureichende Rechenschaft ablegt ‑ das sei kritisch festgehalten ‑, ist, inwiefern der besondere Charakter der progressiven Elite auch einer besonderen Streitkultur bedürfte. Denn wenn die Progressiven im historischen Recht, politisch aber oftmals nur gebrochen humanistisch sind, kann man diese ihre Gebrochenheit von revolutionär-humanistischer Warte aus kaum in derselben Weise kritisieren, wie man früher, zu Zeiten der sozialistischen Klassik, zwischen Sozialismus und Nicht-Sozialismus diskutierte. Eine rein polemisierend-entlarvende Kritik geht hier offensichtlich an den historischen Notwendigkeiten vorbei. Aber gerade in seiner scharfen Abrechnung mit dem „Marxo-Nihilismus“ der Frankfurter Schule neigte Kofler zu partiell einseitiger Polemik.[10]
Von der Neuen Linken...
Die Originalität der Koflerschen Theorie der progressiven Elite besteht darin, dass sie zwei Dinge gleichzeitig macht, die sonst im allgemeinen getrennt werden. Einerseits rechtfertigt Kofler in geradezu geschichtsphilosophischer Manier den historischen, politischen und soziologischen Aufstieg der Neuen Linken. Das unterscheidet ihn von vielen v.a. traditionalistischen Linken, die in den Fehlern der 68er ‑ damals wie heute ‑ einen Grund erblicken, sie links liegen zu lassen oder gar zu denunzieren (bspw. als kleinbürgerlich, moralisch usw.). Kofler sieht in ihnen statt dessen einen unentbehrlichen Motor der sozialistischen Erneuerung. Andererseits kritisiert er die Bewegung, insofern dieselbe sich zum die alten sozialen Bewegungen vermeintlich überwindenden neuen historischen Subjekt stilisiert. Da von einer Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft keine Rede sein kann, könne sich auch nichts an der grundsätzlichen marxistischen Analyse des bürgerlichen Kapitalismus ändern. Die Aktualität des klassischen Sozialismus könne zwar zeitweise außer Kraft gesetzt werden, nicht jedoch auf Dauer. So sehr die neuen Bewegungen also zum geschichtlichen Fortschritt beitragen, eine nachbürgerliche Gesellschaft können sie strukturell nicht erreichen.
Die Koflersche Theorie trägt also der strukturellen Heterogenität des historischen Phänomens „1968“ Rechnung, erlaubt es uns, die als solche weitgehend studentische Neue Linke in einem größeren geschichtlichen Kontext zu sehen ‑ als bisher wirkungsvollsten Ausdruck eines historisch notwendigen und entsprechend gerechtfertigten Dritten Weges ‑ nicht zwischen bürgerlichem und sozialistischem Weg, sondern zwischen oder jenseits zweier „sozialistischer“ Wege (Sozialdemokratie und „Kommunismus“). Sie erlaubt es uns, zu erkennen, dass es zur Erneuerung der sozialistischen Bewegung ‑ um im Bild zu bleiben ‑ beider bedarf, der Hefe wie des Teigs, der Intellektuellen wie der Arbeiterbewegung, und dass es auf deren Mischung ankommt. Sie erlaubt es uns, zu erklären, warum der Bewegung von Anfang an Opportunismus (d.h. die Neigung zur Reintegration in die akademischen und politischen Institutionen der spätbürgerlichen Gesellschaft) ebenso wie Sektierertum (d.h. die Selbstghettoisierung bis hin zum elitären Zynismus) als die beiden Pole einer nicht darauf zu reduzierenden Bewegung eingeschrieben sind. Und sie erlaubt es uns, zu verstehen, warum die progressive Elite in der Lage ist, unter bestimmten historischen Umständen eine beachtliche gesellschaftliche Breite und utopische Tiefe zu entfalten, die in eigenartigem Kontrast zu ihrer Unfähigkeit steht, dauerhafte Strukturen eigener Art herauszubilden.
Die Stärken der Theorie wurzeln bei Kofler in einer soliden Gesellschaftstheorie des spätbürgerlichen Kosumkapitalismus, die die ideologischen Fallstricke einer Theorie der ‚verwalteten Welt‘, der ‚eindimensionalen Gesellschaft‘ oder des ‚integralen Etatismus‘ vermeidet, ohne die ihr zugrunde liegenden Erscheinungen zu ignorieren. Dass die Theorie auch Schwächen aufweist, hängt vor allem damit zusammen, dass es Kofler versäumt hat, sie politisch zu konkretisieren. Hier spielt seine persönlich-politische Isolation sicherlich ebenso eine Rolle, wie seine generelle Fremdheit gegenüber praktischer Politik.
Dass Kofler die Tiefe seiner eigenen Theorie selbst nicht ganz bewusst war, dass lässt sich interessanterweise an seinen späteren Urteilen zur 68er Bewegung ablesen. Hätte er seine Theorie der progressiven Elite konsequent durchdacht, so hätte er sich wohl kaum dazu verleiten lassen, der APO nach 1968 vor allem vorzuwerfen, dass sie sich nicht als Partei mit Zeitung, Verlagen, mit Schulungen, mit Lokalen und Kulturinsitutionen zu konstituieren verstand. Das eben hätte eine Homogenität zur Voraussetzung gehabt, welche die progressive Elite qua seiner eigenen Definition nicht besaß.[11]
Koflers Theorie erlaubt uns aber auch, die Metamorphosen der progressiven Elite nach 1968 zu verfolgen, ihre Kontinuitäten und Brüche offen zu legen und zu historisieren. Die damals allgemein artikulierte Hoffnung, die neulinken Bewegungen auf eine emanzipativ-sozialistische Gesellschaftstransformation hin zu bündeln, scheiterte bereits 1969/70. Die beiden Glashäuser, von denen Kofler schrieb, wurden nicht zerstört. Ganz im Gegenteil begannen sie, sich zunehmend gegeneinander abzuschotten. Die Bewegung zerbrach in viele Einzelteile, die zwar also solche, als neue soziale Bewegungen, eine durchaus neue Blüte erlebten. Eine neue Bündelung gelang vorerst jedoch nicht mehr, auch kein nennenswerter Einbruch in die institutionalisierte Welt der westdeutschen Arbeiterbewegung. Entsprechend tief war der Fall ‑ tiefer als in anderen Metropolenländern, wo diese Annäherung von radikaler Linker und neuer Arbeiterbewegung zumindest teilweise gelang.
Die Neue Linke der 60er und 70er Jahre hat es nicht geschafft, die beiden Glashäuser zu zerstören und den gesellschaftlichen Unmut politisch-strategisch in eine sozialrevolutionäre Bewegung zu bündeln. „Nicht nur die Euphorie eines ultralinken Aktionismus und die Überspanntheiten des ML-Rückgriffs auf die Stalin-Zeit haben sich als haltlos erwiesen“, schrieb 1980 Peter Cardorff, „(a)uch die ernsthaften Versuche, an die revolutionären Traditionen Marx’, Engels’, Lenins, Trotzkis, Luxemburgs anzuknüpfen und sie mit verschiedenen neueren theoretischen Strömungen zu verbinden, haben nicht die anvisierten Erfolge gezeitigt. Die politische Hegemonie der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien in den entscheidenden gesellschaftlichen Schichten ist nicht aufgebrochen worden.“[12] Die Neue Linke, so Cardorff, wurde zerrieben zwischen technokratischem Reformismus und irrationalistischem Unmittelbarkeits-Kult.
Dass auch die aus den Trümmern der Neuen Linken hervorgegangenen neuen sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre ‑ebenso ein nicht untypischer Fall progressiver Elitenbildung ‑ mit ihrem Bündelungsversuch in der grün-alternativen Partei gescheitert sind, dies wurde in der zweiten Hälfte der 80er Jahre für die meisten ihrer linken Protagonisten mehr als deutlich. 1988/89 initiierten sie mit versprengten Restgruppen der 68er Linken die „Radikale Linke“. Doch auch dieser Bündelungsversuch ist 1990/91, im Kontext der Implosion des ehemals real existierenden Sozialismus (an dem alles real war, nur nicht der Sozialismus - Dutschke), kläglich und folgenreich gescheitert. Ein großer Teil der westdeutschen Linken zog sich ins postmoderne Privatleben zurück, ein anderer gab seine Eigenständigkeit auf, indem er sich der ostimportierten PDS unterordnete. Und der Rest bildete jenes Milieu einer neuen zynischen Intelligenz, die seitdem den „linken“ Ton angibt.
Bereits 1967, in seiner Schrift Der asketische Eros (S.325), hatte Kofler die progressive Elite vor einem Steckenbleiben in solcherart ‘marxo-nihilistischer’ Negation gewarnt, sah gar eine mögliche Entwicklung zu einem sich verfestigenden System der Negation. 25 Jahre später war es schließlich so weit. Die „Kraft der Negation“, wie sich die Radikale Linke nannte, offenbarte ihren nihilistischen Pferdefuß.[13] „Keine der politischen Strömungen“, schrieb Perry Anderson 1992 zu Recht, „die in diesem Jahrhundert als Herausforderer des Kapitalismus antraten, hat zur Stunde noch Kampfgeist oder eine Massenbasis.“[14] Spezifisch deutsch an dieser Entwicklung war höchstens die Gründlichkeit dieser Flurbereinigung.
... zu den neuen globalisierungskritischen Bewegungen
Doch „die Linke“ könnte noch so zerschlagen und demoralisiert sein, der Kapitalismus lebt weiter und er produziert auch weiterhin strukturelle Widersprüche ebenso wie Hoffnung auf deren Änderung. Dies ist der Hintergrund jenes Wiederauflebens kapitalismuskritischer Bewegungen, die man mehr schlecht als recht die „Anti-Globalisierungsbewegung“ nennt. Diese neuen, seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre aufgekommenen, sozialen Bewegungen sind zum umstrittenen Objekt öffentlicher Diskussionen geworden. Was bewegt sich da eigentlich warum und wohin? Meine These ist, im Anschluss an Leo Kofler, dass wir es dabei mit einer typischen Form progressiver Elitenbildung zu tun haben.
Die Charakteristika, mit denen wir bei der Diskussion der neuen Bewegungen konfrontiert werden, sind dieselben wie die der „progressiven Elite“. Erneut haben wir es mit einer amorphen Masse mit stark fluktuierenden Tendenzen zu tun, die sich vor allem durch ihre programmatische Breite und Vagheit sowie durch ihre soziale, politische und kulturelle Heterogenität auszeichnet. Erneut haben wir es mit einer Bewegung zu tun, die wesentlich radikaldemokratisch-humanistisch ausgerichtet ist. Doch je radikaler ihre Aktivisten und Anhänger jene Phänomene der Verdinglichung und Entfremdung hinterfragen, gegen die sie aufbegehren („Die Welt ist keine Ware!“), desto offener sind sie für emanzipativ-sozialistische Vorstellungen und Positionen. Nur mit den zumeist verknöcherten Politikformen der „alten“ und „neuen“ Linken wollen sie nichts zu tun haben und eine ihrer größten Ängste ist die Angst vor der bürokratischen Integrationskraft des herrschenden Systems. Gegen die zeitgenössischen Formen entmündigender Stellvertreterpolitik setzen sie etwas, was man früher Selbsttätigkeit nannte und was sich in diversen, alles andere als neuen Formen direkter Aktion niederschlägt. Aus der historischen Not machen sie eine politische Tugend und propagieren netzwerkartige und auf permanente Bewegung und Aktion orientierte Organisationsformen.
Selbst das, was scheinbar am originellsten ist, ihr praktizierter Internationalismus, ist nicht gar so neu, wie er zunächst erscheint. Vergessen wird allzu schnell, dass auch „1968“ von Beginn an ein zutiefst internationalistisches Ereignis gewesen ist. Ja noch mehr: Auch die klassische Arbeiterbewegung war in ihren Anfängen (Erste Internationale) ein eminent internationales Phänomen.[15] Erst in einer späteren Phase stehen soziale Bewegungen vor der Frage, wie sie sich, vor allem national, dauerhaft organisieren können. An dieser Aufgabe ist die Neue Linke der 60er und 70er zerbrochen. Und auch der mit den neuen sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre verbundenen Idee einer grün-alternativen Anti-Parteien-Partei ist es nicht besser ergangen.
So sehr auch die neuesten sozialen Bewegungen einen neuen Anlauf emanzipativer Gesellschaftskritik darstellen, ihren Protagonisten wird es schwer fallen, ein inhaltliches Kriterium zu nennen, das nicht schon in der einen oder anderen Weise bekannt wäre. Als wesentliche Fundamente dieser neuen europäischen Sozialbewegung betrachtet bspw. Pierre Bourdieu den Kampf gegen Theorie und Praxis des Neoliberalismus, den internationalen und internationalistischen Charakter dieses Kampfes, die radikaldemokratischen Netzwerk-Strukturen und ihre stark symbolischen Aktionsformen, sowie die Solidarität als Ziel und Haltung derselben.[16] Auch Naomi Klein, der kanadischen Aktivistin und Journalistin, geht es vor allem um direkte Aktion und dezentralisierte, nichthierarchische Bewegungsstrukturen, um der Krise repräsentativer Politik, gerade auch der traditionellen linken Parteipolitik zu begegnen. Sie will nicht auf die abstrakte Revolution warten, sondern kollektive Spielräume und gemeinschaftliche Werte und Institutionen zurückerobern.[17]
Nicht nur der Geist solcher Selbstverständniserklärungen, auch ihre Begrifflichkeit findet sich zumeist in den entsprechenden Texten der 60er Jahre. Bei Protagonisten wie dem französischen Bauernführer José Bové, dem phillipinischen NGO-Aktivisten Walden Bello oder dem mexikanischen Guerillero Subcommandante Marcos ist der Zusammenhang zu „1968“ auch biografisch deutlich. Gerade die mexikanischen Zapatistas sind ein paradigmatisches Beispiel: Ihre spezifische Mischung aus Radikaldemokratismus und Antikapitalismus ist so faszinierend erfolgreich wie ohnmächtig, den gesellschaftlichen Kampf für sich zu entscheiden. Schärfer als hier kann der Kampf gegen Stellvertreterpolitik und Avantgardeanspruch kaum geführt werden. Und doch wird dieser Kampf von einer Elite, einer Avantgarde geführt, eben einer progressiven.
Solche formallogischen Widersprüche sind nur dialektisch, d.h. historisch zu verstehen und zu lösen. Koflers Theorie der progressiven Elite erlaubt uns einen solchen dialektischen Interpretationszugang. Sie erlaubt uns die Einsicht in Größe und Grenzen der neuen Bewegungen und zu verstehen, warum den Bewegungen auf der einen Seite nicht nur eine machtvolle gesellschaftliche Breite und utopische Tiefe innewohnt, sondern auch, warum es ihnen immer wieder misslingen wird, eigene auf Dauer und politische Effizienz ausgerichtete sozialrevolutionäre Organisationsformen zu entwickeln. Sie erlaubt es uns, kurz gesagt, die historische Bedeutung dieser neuesten sozialen Bewegungen zu würdigen, ohne auf ihre Selbsttäuschungen als vermeintlich neues welthistorisches Subjekt hereinzufallen.
Sei es ein Immanuel Wallerstein, der die globalisierungskritische Bewegung als Ausdruck eines seit „1968“ welthistorisch neuartigen, die alte Arbeiterbewegungslinke überwindenden, „antisystemischen“ Kollektivsubjektes zu theoretisieren versucht, wohlwissend, dass es „dennoch keine völlig kohärente alternative Strategie entwickelt“ hat,[18] sei es das erfolgreiche Autorenduo Michael Hardt und Antonio Negri (Empire), das die Koflersche „amorphe Masse mit stark fluktuierenden Tendenzen“ großmäulig und durch und durch irrationalistisch zur „Multitude“, zur subjekthaften Menge hoch stilisiert ‑ diese und andere „Ideologen“ der neuen Bewegungen verwechseln die Oberfläche eines neuen Kapitalismus und der von ihm hervorgebrachten Gegenbewegungen mit deren unverändertem Wesen.
Die Notwendigkeit, dem seit zwei Jahrzehnten auch bei uns
herrschenden Neoliberalismus emanzipativ zu begegnen und das
„Versagen“ der verschiedenen Fraktionen der Linken
(gerade auch der aus den neuen sozialen Bewegungen der 70er Jahre
hervorgegangenen grünen Partei) bilden den historischen
Hintergrund für die Reaktivierung der progressiven Elite in
neuer Gestalt. Dass die heutigen sozialen Bewegungen programmatisch
vage sind und an demokratischen Vorstellungen und Forderungen
(demokratische Kontrolle, Teilhabe, Anerkennung usw.)
anknüpfen, ist also weder Zufall noch neu. Dass sie mit
bestimmten Werten der herrschenden Gesellschaft (Gerechtigkeit,
Wohlstand, Demokratie, Freiheit u.ä.) ernst machen wollen, das
ist nicht ihre Schwäche, sondern ihre Stärke. Im Zentrum
der neuen Bewegungen steht der Protest gegen die die Gesellschaft
durchdringende Profit- und Konkurrenz-
ökonomie, gegen Verdinglichung und Entfremdung. Ganz praktisch
wird hier angegangen gegen zentrale Institutionen der
kapitalistischen Weltwirtschaft und gegen jene vorherrschenden
Parteien, die sich denselben unterordnen. Man will teilhaben,
mitbestimmen, ändern - und dies im Geiste internationaler
Solidarität. Es ist also ernstlich kaum zu bestreiten, dass
die neuen sozialen Bewegungen gegen die aktuelle Verfasstheit des
neoliberal herrschenden Kapitalismus aufbegehren, dass sie damit
ihrer objektiven Logik nach antikapitalistisch sind, ohne dass sich
dies bei jedem/jeder in dieser Form subjektiv niederschlagen
muss.
Hinter der Vorherrschaft des scheinbar Neuen winkt also bereits das unabgegoltene Erbe des klassischen Sozialismus. „Die Zivilisation der Solidarität ist eine sozialistische Zivilisation“, schreiben Michael Löwy und Frei Betto.[19] Und das Schicksal der globalisierungskritischen Bewegungen wird nicht unwesentlich davon bestimmt, inwieweit sie sich diese Erkenntnis zu eigen machen.
[1] Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Versuch einer verstehenden Deutung der Neuzeit, 2 Bände, Berlin 1992 (Erstausgabe 1948).
[2] Der proletarische Bürger. Marxistischer oder ethischer Sozialismus?, Wien 1964, S.8.
[3] Vgl. hierzu ausführlich C. Jünke: „Leo Kofler und die Neue Linke. Zur politischen Theorie der progressiven Elite“, in: ders. (Hrsg.): Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20. Jahrhundert, Münster 2001, S.298-323.
[4] Vgl. C. Jünke: „Freiheit wozu? Zur Einführung in Leben und Werk von Leo Kofler (1907-1995)“, in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000, S.7-29.
[5] Vgl. C. Jünke: „Koflers Stalinismuskritik“, in ders. (Hrsg.): Am Beispiel Leo Koflers, a.a.O., S.238-258.
[6] Der proletarische Bürger, a.a.O., S.7.
[7] Hier zitiert nach der dritten, unter dem Titel Vergeistigung der Herrschaft (2 Bde., Frankfurt/M. 1986 und 1991) erschienenen Auflage.
[8] Nachdruck unter dem Titel „Bert Brecht und die Neue Linke“, in: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, a.a.O., S.139-143.
[9] Vgl. Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, a.a.O., Band 1, S.199ff. sowie Ulrich Brieler: „Eine Genealogie der kritischen Geistes. Über Leo Koflers ‘Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft’“, in: C. Jünke (Hrsg.): Am Beispiel Leo Koflers, a.a.O., S.28-45.
[10] Zur Auseinandersetzung Koflers mit der Frankfurter Schule vgl. C. Jünke: „Pseudonatur und Pseudokritik. Krahl, Kofler und die Kritik der Frankfurter Schule in praktischer Absicht“, in: Sozialistische Hefte 4 (Sonderheft der SoZ-Sozialistische Zeitung), Juli 2003.
[11] In seinem Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, schreibt Peter Brückner 1978 (S.140), „dass es in der BRD eine besondere Opposition gibt, die - kaum organisiert und über viele Schichten und Klassen verteilt - im wesentlichen der studentischen Protestbewegung 1967/68 ihre prekäre Existenz verdankt. Ihr ‘Projekt’, das quer zu deutschen Traditionen und zu den Großwetterlagen steht, ist vielleicht überhaupt eher eine Methode politischen Handelns, eine Auffassungsweise gesellschaftlicher Beziehungen, die sich in verschiedenen oppositionellen Strömungen findet, als etwa die ideologische Basis für eine Partei“. Die verblüffende Parallelität von Brückners Denken und Trachten zu Koflers Theorie der progressiven Elite ist, da sich beide gegenseitig ignoriert haben, rein sachlich bedingt.
[12] Peter Cardorff: Studien über Irrationalismus und Rationalismus in der sozialistischen Bewegung. Über den Zugang zum sozialistischen Handeln, Hamburg 1980, S.160.
[13] Vgl. hierzu C. Jünke: „Vorantreiben, Helfen oder Stören. Längerer Rückblick auf zehn Jahre konkret - aus gegebenem Anlass“, in: ak. analyse und kritik Nr.409, 18.12.1997, S.31f.
[14] Perry Anderson: Zum Ende der Geschichte, Berlin 1993, S.141.
[15] Vgl. dazu Wolfgang Abendroth: Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, 8. erweiterte und korrigierte Auflage, Frankfurt/M. 1972.
[16] Pierre Bourdieu: „Gegen die Politik der Entpolitisierung: Die Ziele der europäischen Sozialbewegung“, in: ders.: Gegenfeuer 2: Für eine europäische soziale Bewegung, Konstanz 2001, S.62-79.
[17] Naomi Klein: „Die Rückforderung des Gemeinguts“, in: Christine Buchholz u.a.: Unsere Welt ist keine Ware. Handbuch für Globalisierungskritiker, Köln 2002.
[18] Immanuel Wallerstein (1988): „1968 - Revolution im Weltsystem“, in Etienne Francois u.a. (Hg.): 1968 - ein europäisches Jahr?, Leipzig 1997. Wallersteins aktuelle Anwendung auf die globalisierungskritischen Bewegungen („Revolts against the System“) findet sich in New Left Review II/18, November-December 2002.
[19] Michael Löwy/Frei Betto: „Zivilisation der Solidarität“, in: M. Löwy u.a.: Der Geist von Porto Alegre und die Strategie der Linken, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/2002.