Neuer Imperialismus – Zentrum und Peripherie

Geopolitik von links

September 2003

Eine andere Welt
ist nicht nur möglich,
sie ist schon im Entstehen.
An einem ruhigen Tag
kann ich sie atmen hören.

Arundhati Roy (Indien)

Zweifellos: die Zeit des 3. Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre Ende Januar dieses Jahres[1] war ein solcher „ruhiger Tag“, von dem Arundhati Roy auf der Schlußkonferenz „Kampf dem Empire“ im Gigantinho-Stadion sprach. Für die Ausbreitung der globalisierungskritischen Bewegung sind die „Sozialforen“ ein zentrales Medium geworden. Innerhalb von gerade drei Jahren etablierte diese Bewegung einen politischen Ereignisort mit globaler Ausstrahlungskraft. In diesem politischen Raum verbinden sich Kritik und Widerstand mit der Kommunikation alternativer Entwicklungsoptionen. Man könnte das eine linke geopolitische Erfindung im Zeitalter des Globalkapitalismus nennen. Ein vergleichbarer Vorgang ist kaum erinnerlich. Sie hat eine Grundlage: nicht die Fürsorgekultur des Stärkeren im Norden gegenüber den Schwächeren im Süden, sondern die wechselseitige globale Interessensolidarität der unterschiedlich Schwachen. Damit hat sich der internationale Raum linker Politik verändert. Die Globalisierung des neoliberalen Kapitalismus hat in einer globalen Bewegung vergleichbare und gegenseitig anschlußfähige politische Positionen des Kampfes gegen diesen hervorgebracht. Dazu gehört politisch-konkrete und wirkungsvolle Handlungsfähigkeit im globalen Raum. Den Impuls für die millionenfachen Demonstrationen in über 60 Ländern gegen den „angesagten“ Irak-Krieg gab eine konkrete Versammlung an einem Ort (in Florenz auf dem ersten europäischen Sozialforum). Offenbar entstand ein politisch-thematisches Netzwerk, das global politische Aktionsziele verallgemeinern kann und in Schlüsselfragen handlungsfähig ist. Das ist neu.

Die Sozialforen und der sie basierende Prozess stehen für eine Qualität der politisch-sozialen Diversität, die Negri/Hardt mit dem Begriff der Multitude charakterisiert haben, welcher der leeren Eigenschaft der Vielheit das Element des nicht-bornierten Subjekts hinzufügt. „Multitude“ beschreibt, was mit Begriffen wie „Klasse“ oder „politisches Subjekt“ unzureichend erfasst wird: ein ganz ungewöhnliches Maß an Differenz, das sich durch das Medium der Vernetzung des Verschiedenen in einem Protestfeld in Form eines offenen Raums realisiert, für das Veranstaltungen wie das Weltsozialforum in Porto Alegre das zentrale Symbol wurden. Auf diesem Treffen, das im Januar 2003 zum dritten Mal stattfand und zu dem Zehntausende aus über 150 Ländern anreisten, ist die ständig neue widersprüchliche Verbindung von Vielheit, Unterschied und Identität, von Differenz und Diversität, von Streit und Konsens die politisch-kulturelle Bewegungsform. Im „Forum“ verschlingen sich die drei Wortbedeutungen von „Forum“: Räume der Diskussion („Agora“), des Marktes (es wird verknüpft, verhandelt und gehandelt) und der Repräsentanz zu einer dynamischen Synergie. Durch verfahrenspolitische Instrumente wird versucht, die dialektische Verknüpfung dieser Momente zu erreichen.

Indem keine für alle stehenden (Abschluß-)Erklärungen gemacht werden, wird verhindert, dass sich Teilnehmende in einer dann zentralen Aussage der Veranstaltung nicht wiederfinden und deshalb im Dissens aus dem Prozess ausscheiden; das schließt die selbstorganisierte Allianzbildung einzelner Teilnehmer um politische Aussagen und Programmatiken nicht aus, sondern erfordert sie geradezu im Sinne der Sicherung des politisch vielfältigen und demokratischen Charakters des Unternehmens und der Herausarbeitung des Gemeinsamen in der Verschiedenheit. So wurde ein „Aufruf der sozialen Bewegungen“ gegen Krieg und Militarismus von mehreren Hundert Organisationen unterzeichnet – und ihre Organisatoren sahen sich zugleich dem entschiedenen Mißtrauen zahlreicher anderer Organisatonen und TeilnehmerInnen ausgesetzt.

Indem die Autonomie des Kernbestandes des Projekts gegenüber Parteien, Regierungen und internationalen Organisationen gesichert wird, ist bei der Strukturierung des Prozesses eine politische Priorität der sozialen Bewegung und ihrer AktivistInnen gegenüber der politischen implementiert. Das bedeutet zugleich eine Entlastung vom Zwang, Ereignisse grundsätzlich in Richtung eines unmittelbar politischen Eingreifens zuzuschneiden und betont gegenüber dem machtpolitischen Handlungsaspekt den diskursiven Charakter des Projekts. Da so eine starke Entlastung vom Zwang zu machtgeladener Entscheidung über Positionen und Handlungsperspektiven stattfindet, können wirklich krass unterschiedlich ausgerichtete soziale Akteure sich auf denselben Raum einlassen – gleichermaßen solche, die reformieren, solche die aussteigen, oder solche, die ausschließlich basisdemokratisch oder lokalistisch agieren wollen. Dabei geht es um die Kernzonen des Projekts. An seiner Peripherie wurden mittlerweile zahlreiche Veranstaltungen mit Parteien und politischen Organisationen angelagert (Parlamentariertreffen, kommunalpolitische Foren etc.) und das WSF 2003 stand zudem zentral im Zeichen des Wahlsieges der brasilianischen PT, der Präsenz von 17 Ministern der neuen brasilianischen Regierung auf der Tagung und eines großen Auftrittes des Staatspräsidenten und Parteichefs Lula, der beanspruchte, auf dem Economic Forum in Davos auch eine Stimme des Weltsozialforums in Porto Alegre zu sein und dieses zu repräsentieren. Diese politische Repräsentanz drückt jedoch keine Position einer intellektuell-politischen Avantgarde aus, die eine hierarchische Prozesspraxis begründet, wo also eine Partei und ihre Führung weiss, wo es lang geht, und dies politisch implementiert. Die naheliegende Frage freilich, welche produktive Funktion Parteien für soziale Bewegungen haben könnten (und wie sie sich dementsprechend verändern müssten), gilt als geradezu politisch inkorrekt – wie auch die womöglich bedeutungsvollere Frage nach der Rolle globaler staatlicher Akteure (UN, ILO) oder Stiftungen (Ford), die Zugang zu dem Forum haben, aber wenig sichtbar sind. Insgesamt ist diese Unterscheidung natürlich sehr heikel. Sie läuft permanent Gefahr zusammenzubrechen, da innerhalb des „legitimen“ Raums der Sozialakteure selbstverständlich über Personen und Organisationen Richtungspolitik (Kampf um Macht und Hegemonie) stattfindet, in dem ständig die Überschreitung der formellen Selbstbegrenzungen droht. Von beiden Seiten aus wird zugleich versucht, voneinander zu profitieren: die Sozialbewegungen von der politischen Professionalität und den Zugangsressourcen der Parteien und staatsnahen Organisationen, die Parteien vom kulturellen Kapital (Authentizität, Moral) der Bewegungen.

Indem das Ereignis in der Vielfalt vergleichbarer Ereignisse (Regional- und Themenforen) eingebettet wird, werden ständig neue Räume und Felder für unterschiedliche Positionen geschaffen; hochgradig selbstorganisierte Differenzierung sichert Wachstum (auch Chaos) und erschwert den Ausbruch grundlegender politischer Konflikte. Die Motivation für ein Ausscheiden aus dem Feld kann so niedrig gehalten werden. Freilich erschwert diese Dynamik der Differenzierung auch Auseinandersetzung, kritische Abarbeitung an unterschiedlichen Positionen und Dissens, der politisch wirksam wird.

Indem der Zugang zum Prozess möglichst offen gehalten wird (einzig militärische Organisationen und die offene Präsenz von Parteien im Entscheidungsprozess bzw. in Kernbereichen der Öffentlichkeit werden ausgeschlossen, die Teilnahme ist nur locker gekoppelt an das Gründungsdokument der „Prinzipienerklärung“ und ist statt dessen an einen sehr diffusen kulturellen Konsens über unscharf definierte politische Optionen gebunden, deren Relevanz keineswegs fix ist), konnte ein riesiger politischer Raum geschaffen werden, der schon aufgrund seiner schieren Größe bislang von keiner speziellen politischen Strömung kontrollierbar war.

Indem schließlich ebenso ein Raum für sehr unterschiedliche Zwecke geschaffen wird (politische Kommunikation und Dialog, Vernetzung und Selbstorganisation, Öffentlichkeitsarbeit, Bildung, Analyse, politische Aktion, Demonstration und Willensbildung, Projektgenerierung), können sich sehr unterschiedliche soziale und politische Kräfte mit ihren Kulturen, Zielen und Möglichkeiten wiederfinden, ohne abgewertet und ausgegrenzt zu werden. Natürlich geht die organisatorische Sicherung einer solchen Funktionsvielfalt nicht konfliktfrei vor sich und einige Entscheidungen sind sehr problematisch. So wurden nun im Unterschied zum 1. und 2. WSF von den Organisatoren die selbstorganisierten und erfahrungsbezogenen zahlreichen Workshops zeitlich parallel zu eher plakativen Großveranstaltungen plaziert – eine unproduktive Konkurrenz, die faktisch auf eine Abwertung weniger machtvoller Akteure und ihrer Themen hinauslief und die öffentliche Aufmerksamkeit auf Stars fokussierte. Die im Bewegungsprozess entstandene (keineswegs gewählte, aber nach staatlichen und regionalen Repräsentanzen ausbalancierte) Infrastruktur des WSF (das brasilianische Organisationskommittee und der internationale Rat) repräsentiert diese Funktionsvielfalt nicht, aber fördert und schützt sie – bisher. Ihre eigene Praxis ist faktisch intransparent, formell aber durchaus (z.B. über das Internet) öffentlich.

Diese Verfahrensprinzipien und ihre Verknüpfung sind selbst praktische Erfindungen des politischen Prozesses. Manche von ihnen sind sogar in Erklärungen (aber keinen Satzungen) formuliert. Vor allem aber sind sie wirksame Normative einer politischen Kultur, die gemeinsam entwickelt und freiwillig akzeptiert wurde. Wenn sie politischem Handlungsdruck – z.B. dem Bestreben, eine explizite allgemeinverbindliche Positionierung gegen den Irakkrieg zu formulieren – oder Sachzwangerwägungen der Organisationseffizienz („das Organisationschaos zeigt, dass das WSF an seine Grenzen gestoßen ist“) ausgesetzt werden, sind sie sicherlich nicht unbegrenzt belastungsfähig. Bislang jedoch stehen etwa die auf dem WSF 2003 formulierte Ablehnung der angestrebten Gründung dauerhafter Organisationskomittees oder die Entscheidung, das WSF 2004 in Indien durchzuführen und damit stark unter den Zwang einer Neuerfindung zu setzen für die Belastungsfähigkeit dieser Prinzipien. Ebensowenig sind sie unmittelbar auf andere Ereignisse oder politische Formationen (Parteien) übertragbar. Bislang jedenfalls haben sie eine außerordentliche Dynamik gesichert und ein politisches Projekt ermöglicht, das gegenüber denen des traditionellen Internationalismus der Arbeiterbewegung eine neue demokratische Qualität der sozialen Bewegung entwickelt hat und alte Abgrenzungen und Feindschaften zwar akzeptiert – aber marginalisiert. Finanzielle Restriktionen sind allerdings massiv spürbar – mit nur Dreivierteln des Budgets von 2002 mussten doppelt so viel TeilnehmerInnen bewältigt werden. Allein für die Bewachung des World Economic Forum in Davos wurde mit 10 Mio. Dollar das Dreifache ausgegeben wie für das gesamte WSF.

Die politische Basis der Globalisierungskritik wird also breiter. Auch die soziale Basis hat sich ausgeweitet – sichtbar etwa am außerordentlich gestiegenen Interesse der Gewerkschaften an dem Prozess, die am 3. Forum weitaus stärker teilnahmen. Die Weltsozialforen sind Ereignisse und Räume, die offen sind für eine Vielfalt von Anwendungsweisen und -praxen. Sie sind zentral von der sozialen und politischen Linken geschaffen worden, aber nicht von einzelnen Teilen von ihr okkupierbar, weshalb die Behauptung, „dass linkssozialdemokratische Realpolitiker auf dem WSF die Macht innehaben“ (Jungle World), nicht zutrifft. Sie sind Unternehmen „Out of Control“ (Peter Waterman): zu gross, zu intransparent, vollgepackt mit Akteuren alter Politik (Parteien, NGO`s, Staat), aber eben auch unkontrollierbar von ihren Erfindern, mit unscharfen, schwach befestigten Grenzen, verblüffenden Ideen, Menschen und Kulturen, voller Widersprüche und Tempo. Dass ein politisch so heterogenes Feld dieser Größe entstehen konnte, ist das buchstäbliche Erfolgsgeheimnis der Forenbewegung.[2]

Zweifellos gibt deshalb die Vielfalt und Ambivalenz des WSF jedes Material für unterschiedlichste Interpretationen. In diesem Raum gibt es althergebrachte Symbolpolitik mit fahnenschwenkende Vorsängern oder flexible reformistische Verlockungen ebenso wie hierarchische Strukturen (z.B. liegen die Kernentscheidungen über zentrale Themen, Abgrenzungen und Positionen auf Zentralpodien beim Leitungsgremium; oder es wird zwischen „Delegierten“ und Ouvintes (Zuhörern) unterschieden, die keinen Zugang zu großen Konferenzen hatten). Und es gibt krasse Ungleichheiten – die Dominanz grosser weisser alter Männer nicht nur auf den Zentralpodien ist evident, nationalstaatliche „Quotierungen“ sind noch gang und gäbe und zumindest die zentralen „Events“ sind alles andere als Ereignisse demokratischer Kommunikation. Krass war die Differenz zwischen den Abschlußveranstaltungen des zweiten und des dritten Forums: hier 15 000 begeistert in einem Fest der Kultur und Politik, dort ein paar Hundert Zuhörer nutzloser staatsmännischer Statements. Hier war das politische Rockkonzert am Ende der Demonstration des Europäischen Sozialforums in Florenz eine Größenordnung weiter – wie überhaupt die Randständigkeit des Kulturellen als Medium der Forumspolitik verblüffte. Ohnehin ist die unmittelbare Mitwirkung an den Foren überdurchschnittlich eine Sache der Mittelklasse des amerikanischen und europäischen Kontinents – freilich ist diese in der Regel mit weniger erfreulichen Angelegenheiten befasst. Und endlich gibt es in diesem Raum massive Anschlüsse an den herrschenden Neoliberalismus, wie beispielsweise das Auftreten von Mario Soares, dem Weltbank-Präsidenten Wolfensohn oder dem WEF-Organisator Klaus Schwab in der Kongresszeitung Terraviva zeigen. Solche Entwicklungen veranlassten etwa die FAZ (29.1.2003) zu der hoffnungsvollen Bilanz: „Das Weltsozialforum, das als Gegenbewegung zu Davos entstanden ist, hat seine einstige aggressive Protesthaltung inzwischen praktisch vollkommen abgestreift.“ Darin zeigt sich die Hoffnung, dass mit der Verbreiterung der politischen Basis innere Konflikte Nahrung finden und so eine politische Entschärfung und Pazifizierung des Projekts Raum greift.

Gegenwärtig ist dies nicht abzusehen. Dafür steht, dass das Forum nicht, wie zuvor etwas kopflastig formuliert, ein „Strategietreffen“ war, sondern dass es immer mehr neben dem Widerstand gegen das neoliberale Modell und Alternativen dazu den Kampf gegen Krieg und imperiale Dominanz thematisierte – sicherlich kein Projekt der paar Soares, Schwabs und all der anderen so klugen Köpfe des Neoliberalismus. Und dafür steht auch die einfache Wahrheit aus den Schlußworten des Beitrages von Arundhati Roy, aus der eine andere Politik entsteht: „Denkt daran: wir sind viele und sie sind wenige. Sie brauchen uns mehr als wir sie.“

[1] Vgl. den Bericht von Dieter Boris in Z 53, März 2003, S. 179-182 (d. Red.).

[2] Zur politisch-kulturellen Veranschaulichung dieses Raums siehe die Bilder, Texte und Filme in der CD „Ich will Euch eine Geschichte erzählen…“, hgg. von der Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin 2003, 5 €, Mail: info@rosalux.de.