Diskussion – Kritik – Zuschriften

Bemerkungen zu Peter Wahls Beitrag zur Strategie der globalisierungskritischen Bewegung in Z 58, Juni 2004

Dezember 2004

Peter Wahls Artikel ist deswegen bedeutsam, weil er verschiedene Weggabellungen bzw. Entscheidungssituationen aufzählt, vor denen die globalisierungskritische Bewegung steht. [...][1] Er behandelt die Aspekte „Pluralität“, „Demokratie“, „Internationalismus“, „Alternativen“, auf die ich im Folgenden eingehen möchte.

1. Pluralität: Pluralität wird als ein „methodisches Prinzip im Bewegungsalltag und als politische Produktivkraft“ gesehen, dabei wird einerseits die Fähigkeit gefordert, „Differenz akzeptieren und aushalten zu können“, andererseits aber auch, die Unterschiede „möglichst in einen Konsens zu überführen“. M.E. haben wir es jedoch in der globalisierungskritischen Bewegung mit weltanschaulichen und politischen Richtungen zu tun, die sich theoretisch mehr oder weniger als in sich logische Denksysteme verstehen, die selbstverständlich in der Aktionseinheit der globalisierungskritischen Bewegung zusammenarbeiten (was ein historisches Großereignis ist!). Gleichzeitig bleiben sie aber weltanschaulich-theoretisch selbstständig in der Entwicklung ihrer Theorie – und das wird m. E. auch so bleiben. Folglich muss eine (dialektische) Beziehung hergestellt werden zwischen den „Theoriezentren“ der verschiedenen weltanschaulichen Richtungen innerhalb und außerhalb von attac und dem “Aktions“-Bündnis, das sich konstruktiv weiterentwickeln kann und soll. Dazu muss aber die „Theorie“-Ebene anders organisiert sein als bisher. Soll der Prozess insgesamt positiv weiter gehen, müssen diese „Theorie“-Zentren offen sein und dürfen weder durch reduzierte Mittelzuweisungen noch durch z.B. postleninistische Projekte eingeschränkt werden. Dann besteht zumindest die Möglichkeit, dass man sich auf der „Aktions“-Ebene nicht zerstreitet und kontroverse Diskussionen nicht zu Spaltung in der Aktion führen. Theoretische Differenzen und Weiterentwicklungen sind nicht nur unvermeidlich, sondern auch erwünscht!

2. Demokratie: Ich stimme Peter Wahl darin zu, dass „die Ansprüche an Mitreden, Mitmachen und Mitgestalten enorm“ sind und dass dies im Kern eine positive Entwicklung ist, der „hierarchische und zentralisierte Organisationsmodelle nicht gerecht werden“. Angetreten, etwas grundsätzlich anderes zu machen (s. z.B. attac – Grundsatzerklärung von Oktober 01) ist auch attac mit den Konflikten und Wiedersprüchen konfrontiert, an denen frühere Versuche gescheitert sind: zwischen Aktiven und Passiven; Funktionsträgern und Basis; Bezahlten und Ehrenamtlichen; Demokratie und Effektivität – um nur die wichtigsten zu nennen. Diese Gefahren in der Entwicklung von attac muss man ständig im Auge haben. Das Positive an diesem Projekt ist, dass man diese Gefahren von Anfang gesehen und versucht hat, etwas Neues auszuprobieren: Offenheit, Kultur der Zusammenarbeit und Konsensprinzip. Neue Strukturen entwickeln sich, aber wer ist das Korrektiv für Fehlentwicklungen? Wer hält falsche Entwicklungen auf?

3. Internationalismus: Obwohl attac eine internationale Bewegung ist, besteht doch ein Nachholbedarf in der direkten Zusammenarbeit auf internationaler Ebene: Die Weltsozialforen und Europäischen Sozialforen müssen bis ganz unten zu festen Netzen werden, die zu direkter Zusammenarbeit an internationalen Projekten kommen. Es gibt schon positive Ansätze. Ein Fallbeispiel kann hier die attac-Gruppe in Hannover beitragen: Arbeiter der mexikanischen Niederlassung des hannoverschen Reifenherstellers Conti, der den Streik der Arbeiter in Mexiko mit illegaler Werkschließung beantwortete, kommen seit zwei Jahren zur Conti-Generalversammlung nach Hannover. Von attac Hannover werden sie konkret unterstützt [...].

4. Alternativen: Das ist natürlich das schwierigste Kapitel. Die Varianten, die Peter Wahl aufzählt, sind mögliche Alternativvorstellungen im Rahmen von attac. Allerdings müsste man zunächst bestimmen, welche Art von Alternativen man nicht will: patriarchalisch-geldgelenkte (Partei, Stiftung, NGO-Bewegung); postleninistische; unwissenschaftlich-spiritualistische. Obwohl Mitglieder dieser Strömungen Teil der globalisierungskritischen Bewegung sind (und sein sollen), wird ihr Modell als Generalmodell abgelehnt.

Was sich dabei als neu herauskristallisiert, sind für mich vor allem zwei Aspekte: Erstens: die Bereitschaft zum gegenseitigen Lernen (Diskussionskultur, Vielfalt aushalten, Geduld, neue Kommunikationsformen ausprobieren) [...]. Zweitens: Auch – auf den ersten Blick – absonderlich erscheinende Ansätze werden ernsthaft geprüft, ihre Mitglieder erhalten die Möglichkeit, sie vorzustellen. [...] Zeigen sie sich [...] bereit, auch etwas anzunehmen, müssen auch „Insel-Experimente“ abseits vom globalisierungskritischen Mainstream toleriert werden.

Mein Ausblick: Ich sehe ein großes zahlenmäßiges Anwachsen der globalisierungskritischen Bewegung weltweit, in den verschiedensten Organisationen Das Anwachsen in der theoretischen „Tiefe“ muß zwischen der Bewegung und offenen Theorie-„Schulen“ stattfinden und organisiert werden. Korrektiv des Prozesses ist das anwachsende gemeinsame Bewusstsein und seiner Moral. Für uns von attac sehe ich deswegen heute als die Hauptaufgabe an: Stabile Kerne von Aktiven in den Gruppen zu schaffen und mit der traditionellen Arbeiterbewegung zusammenzuarbeiten. Für die gesamte globalisierungskritische Bewegung, in nationalen und lokalen Sozialforen organisiert, sehe ich die Aufgabe, aktive Auffangorganisationen für Beschäftigungslose und deren Familien zu schaffen, um eine weitere Zerstörung des Menschen zu bremsen, bis grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen wirksam werden (Vorbild: brasilianische Landlosenbewegung). Die globalisierungskritische Bewegung hat schon viel verändert.[...] Hoffnung entsteht. Ein historischer Lernerfolg ist die beginnende konstruktive Überwindung der Feindschaft zwischen revolutionärer und „reformistischer“ Strömung!

[1] Von der Redaktion leicht gekürzt.