Berichte

„Neoliberalismus und Subjekt"

Tagung von BdWi, Helle Panke und Rosa Luxemburg-Stiftung, Wertpfuhl bei Berlin, 17. bis 21. September 2004

Dezember 2004

Die Tagung „Neoliberalismus und Subjekt. Gesellschaftliche Anforderungen, subjektwissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven“ versuchte Überlegungen zur Subjektkonstitution aus den Gouvernemental Studies und der kritischen Psychologie mit einer zeitgemäßen Analyse der Produktions-, Lebens- und Klassenverhältnisse im Neoliberalismus zusammenzubringen. Es herrschte ein so großes Interesse an dieser Veranstaltung, dass die VeranstalterInnen die zulässige TeilnehmerInnenzahl noch einmal erhöhten. Schließlich bot sie über 50 TeilnehmerInnen – überwiegend jungen WissenschaftlerInnen und Studierenden vor allem aus Berlin – die Möglichkeit, sich fünf Tage lang Vorträge von 15 ReferentInnen anzuhören und sich an wissenschaftlich bisweilen anspruchsvollen aber meist dennoch allgemeinverständlichen Diskussionen zu beteiligen. Die ersten vier Vorträge der Tagung versuchten dem schillernden Begriff Neoliberalismus als ideologisch-politisches Projekt, das auf den ökonomischen Prozessen der Globalisierung aufbaut, Substanz zu verleihen. Dabei wurden die Besonderheiten neoliberaler Produktionsweise als ein Zueinander von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften verstanden. Die Referenten waren sich weitgehend einig, dass sich ein neues postfordistisches Sozial- und (Arbeits-)regime durchgesetzt hat (Thorsten Bultmann), das eine spezifische transnationale kapitalistische Produktions- und Lebensweise mit neuen Arbeits- und Subjektanforderungen (Mario Candeias) hervorgebracht und zur Neubildung von gesellschaftlichen Klassen beigetragen hat (Klaus Dörre). Der zweite Teil der Tagung vertiefte unterschiedliche Zugänge und Blickwinkel der Subjektwissenschaften auf das Subjekt im Neoliberalismus. Auf der Tagung konsensfähig war die Meinung, dass Neoliberalismus als spezifische Form der kapitalistischen Vergesellschaftung weitreichend die Subjekte transformiert hat und dabei auch gewisse Emanzipationsprozesse in sich trägt, die er auf spezifische Weise und meist in veränderter Form in das Herrschaftsprojekt aufzunehmen weiß. Deshalb kann es keinesfalls darum gehen, Forderungen zu stellen, in das fordistische Fabrikregime mit all seinen Ausgrenzungsmechanismen zurückzukehren.

Da ein Tagungsbericht nicht den Inhalten aller Vorträge angemessen Rechnung tragen kann, soll nachfolgend lediglich versucht werden, bruchstückhaft zusammenzutragen, was die unterschiedlichen ReferentInnen dazu sagten, wie der Neoliberalismus (als Produktions- und Lebensweise) auf Subjekte zugreift, welche Kompetenzen und Selbstkonzepte er erzeugt und wie sich die Subjekte selbsttätig darin erschaffen.

I.) Klaus Dörre betonte, dass der Neoliberalismus eine Subjektivierungsweise hervorgebracht hat, die gerade in den subalternen Klassen im Leugnen von Klassenverhältnissen besteht und die Internalisierung von Markt- und Machtmechanismen mit sich bringt. Prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen führen in Kombination von neoliberalen Anrufungen der Eigenverantwortlichkeit dazu, dass die subalternen Klassen sich sehr stark an einem individuellen Aufstieg orientieren. Im Gegensatz dazu hat die herrschende Klasse ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein. Mario Candeias betonte, dass die Arbeitsanforderungen im High-Tech-Kapitalismus für die beiden neu entstehenden Teile der Arbeiterklasse durchaus ähnlich sind. Während das „Prekariat“ (wachsendes Subproletariat) ganz offen völlig ungeschützten Arbeitsbedingungen ausgesetzt ist, ist auch eine „Flexiplotation“ im „Kybertariat“ (der WissensarbeiterInnen) zu verzeichnen. Werden ihnen höhere Löhne angeboten, stehen sie dennoch unter einem hohen psychischen Änderungs- und Anpassungsdruck. Auch sie haben sich „für den Arbeitsmarkt fit zu machen“, und ihre Interessen individuell statt kollektiv zu vertreten. Dieses Individualisierungsparadigma zeigt auch die diskursive Verschiebung von der „Scheinselbständigkeit“ zur „Ich-AG“. Sven Opitz, Tilmann Reitz/Susanne Draheim und Jan Rehmann präsentierten in drei Vorträgen ihre durchaus unterschiedlichen Zugänge und Kritikpunkte zu von Foucault inspirierten Gouvernementalitätsstudien (GS). Sven Opitz analysierte Managment-Literatur und Berufsratgeber und versuchte darüber, „Menschenregierung“ im Neoliberalismus zu verstehen. Es entwickelte sich eine interessante Kontroverse über die (beschränkte?) Reichweite der GS sowie ihren möglicherweise affirmativen Charakter, da die Möglichkeit, mit diesem Ansatz Widerstand zu denken, unterschiedlich eingeschätzt wurde.

II.) Iris Nowak und Peter Nancy Wagenknecht gingen in ihren Vorträgen genauer auf Geschlechterverhältnisse, sexuelle Politiken und potentiell entstehende subjektive Freiheiten im Neoliberalismus ein. Iris Nowak betonte, dass durch die Flexibilisierung der Geschlechterverhältnisse unter neoliberalen Paradigmen keineswegs eine feministische Utopie im Sinne der umfassenden Verbesserung der Situation aller Frauen in Erfüllung gegangen ist. Zwar sind für gebildete und besserverdienende Frauen die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten und die Lebensqualität gewachsen, aber Geschlechterdemokratie und Gleichberechtigung im eigenen Umfeld durchzusetzen, wird zum Ergebnis individueller Anstrengungen dieser Frauen, wenn die Lebensumstände „Terminkalenderlösungen“ zulassen. Trotz zahlreicher erfolgreich erkämpfter Rechte für Frauen durch die Frauenbewegung ist zur Zeit aber auch eine erneute Anrufung von Familienwerten zu verzeichnen. Durch die „elitäre Lösung“ der Geschlechterfrage sind die Differenzen zwischen Frauen noch einmal größer geworden, da die Frauen der unteren sozialen Klassen – vor allem Migrantinnen – besonders von Sozialabbau betroffen und durchgehend in prekärer Weise im Niedriglohnsektor beschäftigt sind. Sie merkte kritisch an, dass der neue Diskurs über Prekarisierung, der diese über das „Ende des Normalarbeitsverhältnis“ definiert, ausblendet, dass Frauen historisch schon immer „prekär“ beschäftigt waren. Peter Nancy Wagenknecht konstatiert im neoliberalen Kapitalismus auch eine gewisse Pluralisierung von Lebenspraxen, die in ein „diversity managment“ münden. Hierbei wird Einzelnen insbesondere in kreativen Tätigkeiten potentiell auch vom mainstream abweichende sexuelle Orientierung zugestanden, solange sie „normal“ funktionieren und diese Differenz produktiv gemacht und verwertet werden kann. Dies festigt aber eher die symbolische Ordnung, als dass es sie in Frage stellt. Deshalb gilt es störende Praxen zu entwickeln, die den Sinn der heterosexuellen Matrix zerbröckeln lassen, wie es möglicherweise die GrenzbewohnerInnen dieser Orte durch den Diskurs über Intersexualität können oder die Fokussierung auf Freundschaftspraxen, die den Verwandschaftskomplex hinter sich lassen.

III.) Drei Referenten warfen einen Blick darauf, was Bildung zur Subjektkonstitution unter aktuellen Bedingungen beiträgt und potentiell leisten könnte. Thorsten Bultmann arbeitete den Funktionswandel der Bildungspolitik im aktuellen Kontext heraus und formulierte optimistisch eine mögliche emanzipatorische Denkrichtung der Bildungsreform. Trotz aller angemessenen Skepsis könnte die wachsende Bedeutung von Wissen im Neoliberalismus, der zugleich aber auch wesentlich auf die Kontrolle der Wissensproduktion abzielt, zu einer Öffnung von Bildung führen. Da sich die fordistische Begründung für die Teilung von Kopf- und Handarbeit verflüchtigt hat, ist auch die Legitimation für die Beschränkung des Hochschulzugangs und die Dreigliedrigkeit des Schulsystems weggefallen. Es sollte diskutiert werden, ob der Begriff des „Lebenslangen Lernens“ nicht auch von links besetzt werden könnte, wobei daran zu erinnern ist, dass Lernen nicht linear determiniert ist, sondern durchaus auch Elemente subversiven Denkens, Hinterfragens und gesellschaftliches Handeln anregen kann. Andreas Merkens Hoffnungen gingen in eine ähnliche Richtung. Er arbeitete in seinem Vortrag die Tauglichkeit von Gramscis Hegemoniebegriff als Analyse(instrument) der pädagogischen Binnenstruktur von Herrschaft und ihre Relevanz für eine Kritik des Neoliberalismus heraus. Wenn man mit Gramsci die Suprematie einer Gruppe als eine widersprüchliche Einheit von Herrschaft und intellektueller und moralischer Führung begreift, wird jedes Verhältnis von Hegemonie zu einem Verhältnis von Erziehung, da sich Führung v.a. durch Erziehung vermittelt. Mit der Etablierung der wissensbasierten Produktionsweise und ständig präsenten Diskursen über lebenslanges Lernen, Weiterbildungs- bzw. Wissensgesellschaft wird zwar einerseits die marktförmige Zurichtung von Bildung und eine „Kolonisierung der Lebenswelten“ erreicht, andererseits könnten aber auch Praxisfelder des Widerspruchs, der Emanzipation und der kritischen Bewusstseinsbildung produziert werden.

Morus Markard machte auf die gesellschaftspolitische Funktion des Elite-Diskurses aufmerksam, der sich als historisch belastetes Konzept durch die Abwertung des Gegenbegriffs der Masse dadurch auszeichnet, bestehende Ungleichheiten zu legitimieren und naturalisieren. Ein Diskurs, in dem Leistung nur konkurrenzförmig gedacht wird und ständig Individualität, Unverwechselbarkeit und Vergleichbarkeit betont werden, aber zugleich Anpassung gefordert wird, ist dem Neoliberalismus, in dem Antiegalitarismus ein wesentlicher Bestandteil ist, inhärent.

IV.) Zwei weitere Vorträge machten auf die unterschiedlichen Bearbeitungsweisen der Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung unter neoliberaler Prägung aufmerksam. Christina Kaindl fasste das Anliegen der Kritischen Psychologie darin zusammen, die Handlungsfähigkeit des Einzelnen zu erhöhen, um einerseits in den bestehenden Verhältnissen zurecht zu kommen und andererseits seine persönlichen Möglichkeiten zu erweitern, indem er über diese Formen hinausdenkt. Unter neoliberalen Bedingungen ist es schwieriger geworden zu vermitteln, dass Gesellschaft auch als strukturierendes Feld verstanden werden kann, seit Utopien weitgehend fehlen und die Vorstellung der Unveränderbarkeit der Verhältnisse hegemonial geworden ist. Viele Menschen sehen sich im Moment von sozialem Abstieg bedroht und entwerfen sich ein Begründungsmuster, wonach der Neoliberalismus eine Art Vertrag aufkündigt, der ihnen im Austausch für „harte Arbeit“ Wohlstand versprochen hatte. Wenn trotz der Bereitschaft, noch härter zu arbeiten, ihre Ohnmachtsgefühle nicht aus der Welt geschafft werden, kann auch die Nation als Gemeinsamkeit hochgehalten und können all diejenigen als Feinde benannt werden, die Geld bekommen ohne (vermeintlich) selbst „hart“ zu arbeiten. Damit ist auch Rechtsextremismus eine Art, die neoliberalen Widersprüche zu bearbeiten, wenn er auch nicht direkt aus dem Neoliberalismus abzuleiten ist. Thomas Barfuss machte auf eine weitaus symphatischere Form der Bearbeitung gesellschaftlicher Widersprüche in einem amüsanten Vortrag über die Ironiker aufmerksam. Das ironische Subjekt durchschaut den Schein, ohne sich ihm zu verweigern und lässt damit ironischen Konsum potentiell zum Mittel der Subversion wie auch zum Schmiermittel dieses Konsums werden, indem das kritische Element in den mainstream eingekauft wird und Kritik damit „verweihnachtlicht“. Möglicherweise kann sich durch Ironie die subjektive Beweglichkeit erhöhen und vielleicht können sich die Subjekte durch ironische Bearbeitung gesellschaftlicher Widersprüche selbst kohärent arbeiten und die Verhältnisse anders gestalten.

V.) Dazu, wie sich „das“ – oder „die“ politische(n) – Subjekt(e) im Neoliberalismus denken lässt (lassen), machten Thomas Seibert und Frieder Otto Wolf Vorschläge. In ihren Vorträgen unter dem Titel „Ein Denken von Subjektivität aus der Dekonstruktion des Subjekts heraus. Philosophie. Politik,“ bzw. „Neoliberaler Antiödipus? Subjektanrufungen zwischen Selbstunterwerfung, Herrschaft und Befreiung“ setzten sich beide vor allem kritisch mit dem Subjektbegriff im Werk von Hardt/Negri auseinander. Thomas Seibert sieht die Stärke des Terminus der multitude vor allem darin, dass es sich um einen Klassenbegriff handelt, der – gar nicht so weit vom Proletariatsbegriff, wie er im „Kommunistischen Manifest“ entwickelt wurde, entfernt ist – alle diejenigen umfasst die vom Kapitalismus aus ihren identitären Zusammenhängen gerissen worden sind. Die Differenz zum Proletariatsbegriff der ML-Parteien ist kaum zu übersehen. Multitude ist eben gerade nicht auf die kollektive Subjektivitätsbildung im Sinne von Klassenbewußtsein oder auf bürgerliche Kategorien wie Nation oder „Volk“ angewiesen, sondern multitude bezeichnet die Singularitäten der Menge, die plurale Kämpfe führt. Die Subjektivität der multitude ist das, was hervortritt, wenn traditionelle Subjektkonstruktionen dekonstruiert werden. Frieder Otto Wolf hob an dem neuen Buch „multitude“ von Hardt/Negri vor allem positiv hervor, dass betont wird, wie die neoliberale Form selbst die Kräfte produziert, die sie potentiell überwinden. Neoliberale Subjektivierungsweisen mit ihrer Betonung von Handlungsfähigkeit, Kreativität und Verantwortung produzieren immer auch neue Widerständigkeiten und Möglichkeiten zur Rebellion. Er kritisierte u.a., dass in den Überlegungen keine ökonomische Vermittlung von Staatsapparaten und Politik und deren Kontextstruktur mitgedacht ist, Geschlechterverhältnisse wie andere Differenzen der Subjekte nicht gesehen werden, sondern mögliche Gemeinsamkeiten immer schon als wirkliche dargestellt werden.

VI.) In der Abschlussrunde wurden vor allem Vorträge vermisst, die noch stärker die Möglichkeiten und Momente des Widerstands auszuloten versuchen und unterschiedliche linke Praxisvorschläge theoretisch reflektieren. Während zwar alle ReferentInnen die Frage der Widerständigkeit tangierten, rückte sie Jörg Nowak als einziger ins Zentrum seines Vortrags. Er stellte exemplarisch die Vorschläge von Joachim Hirsch zur sozialen Infrastruktur, als Strategie gegen Prekarisierung und Sozialabbau den Überlegungen von Frank Deppe zur Autonomie sich vernetzender Gewerkschaften gegenüber. Dabei kam er zu der Beobachtung, dass die AnhängerInnen beider Konzepte sich jeweils gegenseitig vorwerfen würden, die soziale Basis, die sie zur Durchsetzung benötigen, nicht zu haben. Die meisten Gewerkschaftsstrategien konzipieren die Arbeiterklasse zwar als in Fraktionen geteilt, aber doch als Einheit mit spezifischen Interessen, die es nur besser zu vertreten gilt, aber bedenken nicht, dass die Interessen der Fraktionen selbst im Widerspruch zueinander stehen können, zumal sich auch außerhalb von Lohnarbeit Interessen formieren. Diese Interessengegensätze manifestieren sich auch, wenn es um den Vorschlag einer sozialen Grundsicherung geht; diese mag für Arbeitslose sehr relevant sein, und die Lockerung des Lohnarbeitszwangs würde sicher vielen zu Gute kommen, nichtsdestotrotz ist der Vorschlag für viele abhängig Arbeitende anscheinend wenig attraktiv. Hirsch verzichtet in seinem Vorschlag darauf, potentielle Träger emanzipatorischer Politik anzugeben. Ob ein gemeinsamer Protest der Gewerkschaft(slinken) mit der globalisierungskritischen Bewegung dauerhaft möglich sein wird, wird entscheidend dafür sein, ob eine linke Alternative zum Neoliberalismus mehr sein wird als marginalisierte Opposition.

Insgesamt gaben die TeilnehmerInnen der Tagung positive Rückmeldungen, was angesichts der angenehmen Atmosphäre, der guten Unterbringung und der hochinteressanten Inhalte wohl kaum verwundert. Es wurde die spannende Dynamik betont, die dadurch entstand, dass sich in diesem Rahmen Leute trafen, die zu ähnlichen Fragen arbeiten. Durch die lange Dauer der Tagung konnte stets an Kontroversen und Wissen vom Vortag angeknüpft werden, was die Möglichkeit bot, soviel zu lernen wie sonst in zwei Semestern, wie einer der Teilnehmer bemerkte.