Faschismus: Geschichte, Forschung, Medien

Wem gehört der 9. November?

Über Revolution, Konterrevolution und Antisemitismus 1918/1923/1938

Dezember 2007

Kein Tag wie jeder andere: der 9. November. Auf hintersinnige Weise geistert er seit 1799 durch die Geschichte, zuerst maskiert als „18. Brumaire“: ein Tag im „Nebelmonat“ des französischen Revolutionskalenders[1]. Napoleon Bonaparte errichtet an diesem 9. November 1799 seine Diktatur unter dem Titel eines „Ersten Konsuls“. Vier Jahre später setzt er sich die Kaiserkrone auf.

Der verweigerte Nationalfeiertag

Am 9. November 1848 fällt Robert Blum, der volkstümlichste der demokratischen Linken unter den Kugeln eines kaiserlichen Hinrichtungskommandos. Als Abgeordneter des Parlaments in der Frankfurter Paulskirche war er nach Wien gereist, um den von der Konterrevolution hart bedrängten Demokraten beizustehen. Seine Immunität als Parlamentarier, auf die er vertraute, hat ihm nicht geholfen.

Am 9. November 1989 „fällt die Mauer“, bricht das Grenzregime des ostdeutschen Staates zusammen. Aber selbst dieses Ereignis, auf das die Regierungen der Bundesrepublik jahrzehntelang hingearbeitet hatten, genügt nicht, den 9. November aus dem Zwielicht zu befreien. Auf der Suche nach einem Nationalfeiertag anstelle des 17. Juni weicht man auf den 3. Oktober aus, ein formaljuristisches Datum aus dem Jahr 1990. Niemand knüpft an diesen Tag irgendeine Erinnerung, und schon 2004 verärgern Kanzler und Finanzminister den Bundespräsidenten mit dem Vorschlag, den Feiertag zu Zwecken der Sparpolitik wieder abzuschaffen. Nur wenige sprechen es aus, aber eigentlich ist es klar: Nationalfeiertag müsste der 9. November sein, der Geburtstag der ersten deutschen Republik, der Tag, an dem 1918 der Kaiser in das Exil abreist, und mit ihm die ganze Fürstenkaste aus der Geschichte verschwindet. An diesem Tag wird der Frieden erkämpft im fünften Kriegsjahr. Mit diesem Tag endet die Schande des preußischen Dreiklassenwahlrechts, wird die Bahn freigemacht für das Wahlrecht der Frauen, für den Achtstundentag, für die Anerkennung der Gewerkschaften, der Tarifverträge, für paritätische Arbeitsnachweise, für eine wirkungsvolle Interessenvertretung im Betrieb, für die Aufhebung der Gesindeordnungen und der Ausnahmegesetze gegen die Landarbeiter.

„Niemand hat die Massen, die am 9. November (1918 in Berlin) stadteinwärts geströmt waren, gezählt. Aber alle Augenzeugen sprechen von Hunderttausenden. Sie alle hatten einen ungeheuren Stimmungsumschwung erlebt: Am Vormittag waren sie, jeder einzelne von ihnen, darauf gefasst gewesen, in den Tod zu marschieren. Sie wussten nichts davon, dass die Truppe ‚nicht mehr hielt’, sie erwarteten Maschinengewehrsalven, wenn sie vor den Kasernen und Regierungsgebäuden ankamen. In den vorderen Reihen der endlosen, dumpf und langsam aus allen Himmelsrichtungen heranmarschierenden Kolonnen trug man Plakate: ‚Brüder, nicht schießen!’… Und dann geschah nichts! Die ‚Brüder’ schossen wirklich nicht, sie öffneten selbst die Kasernen, sie halfen selbst die roten Fahnen zu hissen …“[2]

In Tagen wird mehr erkämpft als zuvor in Jahrzehnten. Das Bürgertum hat sich feige hinter herabgelassenen Rollläden versteckt, als auf den Straßen die Frauen und Mädchen aus den Rüstungsbetrieben, die Arbeiter und Angestellten, die Soldaten und Matrosen Seite an Seite für das Ende des Krieges, für den Aufbau einer demokratischen und sozialistischen Republik demonstrieren. Der blutigen Niederschlagung folgt die Diffamierung, das Verdrängen und Verschweigen bis heute.

„Wo man Helden erwartete, fand man befreite Sträflinge, Literaten, Deserteure, die brüllend und stehlend, von ihrer Wichtigkeit und dem Mangel an Gefahr trunken, umherzogen, absetzten, regierten, prügelten, dichteten. Man sagt, diese Gestalten beschmutzten jede Revolution. Gewiss. Nur dass in anderen das gesamte Volk mit solcher Urgewalt hervorbrach, dass die Hefe verschwand. Hier handelte sie allein.“[3]

Fünf Jahre später, am 9. November 1923, gibt ein gewisser Adolf Hitler das Signal zur Konterrevolution, zum „Marsch auf Berlin“, zur Beseitigung der Republik. Die italienischen Faschisten haben es ihm mit ihrem „Marsch auf Rom“ 1922 vorgemacht. Die „Schande“ der Novemberrevolution soll an ihrem fünften Jahrestag vergessen gemacht werden. Der Schlag misslingt. Am 20. Jahrestag der Revolution, dem 9. November 1938, lässt derselbe Hitler, inzwischen Diktator und umworbener Vertrauensmann des deutschen und internationalen Großkapitals, seine Terrorbanden auf die Juden los. Das Pogrom der „Reichskristallnacht“ soll abermals vergessen machen, dass imperialistische Großmachtpolitik und Menschenverachtung an diesem Tag, zwei Jahrzehnte zuvor, eine schwere Niederlage hatten einstecken müssen.

Warum zählt heute nur dieses Ereignis aus dem Jahr 1938? Warum hat der Bundespräsident am 9. November 2006 bei der Einweihung der neuen Hauptsynagoge in München[4] die Revolution des 9. November 1918 mit keinem Wort erwähnt? Der Auftritt des „Großen Diktators“, das Trara seiner nationalen „Sozialisten“, seiner „Filmkünstler“ und „Rassehygieniker“, Wehrwirtschaftsführer und Feldmarschälle dauerte zwölf Jahre. Wer konnte in den Tagen der Befreiung, als alles noch in frischer Erinnerung war, ahnen, dass sich sechs Jahrzehnte danach das Bild der deutschen Geschichte noch immer um die Achse dieser wenigen Jahre drehen würde? Danach geschah, so hat man den Eindruck, nichts mehr, was ein vergleichbares Interesse an sich binden kann. Davor liegt die alte Unübersichtlichkeit, Burgen und Schlösser, Kaiser und Könige, ein verlorener Weltkrieg und eine ungeliebte Republik, hektisch und verwirrend. Aber so ähnlich haben die Nazis sie auch schon gesehen, die „Systemzeit“, die der „Neuen Ordnung“ vorausging.

Eine schwierige Frage

Diese zwölf Jahre münden nicht in den breiten Strom des Vergangenen. Sie scheinen näher zu rücken. Jahrzehntelang hat man sich gefragt: Ist Bonn Weimar? Steht der zweiten deutschen Republik ein ähnliches Ende bevor wie der ersten? Das Anwachsen der Massenarbeitslosigkeit seit 1974 und der bald einsetzende Sozialabbau machten es leicht, Vergleiche anzustellen, Ähnlichkeiten aufzusuchen und dabei fast wörtliche Übereinstimmungen des Forderns und Begründens zu finden. Aus Bonn ist Berlin geworden. Man sitzt wieder im Reichstag, die Außenpolitik wird gleich neben dem alten Reichsluftfahrtministerium gemacht. Die deutsche Luftwaffe war dabei, als 1999 erneut Bomben auf Belgrad fielen. Zu Weihnachten bedient man Soldatenwünsche vom Balkan, aus Afghanistan, von den Schiffen vor dem Horn von Afrika und vor der libanesischen Küste. Die Zahl der Arbeitslosen liegt irgendwo zwischen vier und sieben Millionen. Genau weiß das niemand. Eine Wende ist nicht abzusehen. Soziale Leistungen werden zusammengestrichen. Löhne kommen unter Druck. Es wird eng, nicht nur für die Arbeitslosen.

Ist es nun die Berliner Republik, die einem ähnlichen Schicksal entgegengeht wie die von Weimar, weil ihre politische Klasse mit jeder „Reform“ mehr abwirtschaftet, bis eines Tages vielleicht der große „Ruck“ durch das Volk geht, und ganz andere Saiten aufgezogen werden? Könnte es nicht sein, dass es in der Hitze irgendeines künftigen Sommers nicht mehr auffällt, wer auch geflaggt hat, sondern wer nicht?

Was ist Faschismus?

Die Unsicherheit bei der Einschätzung der faschistischen Gefahr resultiert aus der Tatsache, dass die Umrisse dessen, was Faschismus überhaupt ist, mit jedem Jahrzehnt diffuser geworden sind. Wenn ein italienischer Großgrundbesitzer 1921 gefragt worden wäre, wozu denn all die jungen Leute mit den schwarzen Hemden gut seien, so wäre er um die Antwort nicht verlegen gewesen: Die Kommunisten hinauszuprügeln, die Hetzer, die Anarchisten, das ganze Gesindel eben. Und wäre der Pfarrer dazugekommen, hätte er gewiss nicht versäumt, daran zu erinnern, dass die Bolschewisten, die gottlosen, nun schon seit Jahren in Russland wüten, und sich noch niemand gefunden hat, ihrem Treiben ein Ende zu setzen. Ein Jahr später, 1922, hing das Bild des Duce, des Führers der „Fascisten“, überall rechts neben dem Bild des Königs. Das Symbol der Bewegung waren die altrömischen fasces, ein Rutenbündel, aus dem ein Richtbeil als Symbol der Strafgewalt herausragte. Ob Richtbeil oder Hakenkreuz, die Botschaft der konterrevolutionären Gewalt ist immer dieselbe. Ob in Italien oder Deutschland, in Spanien oder Kroatien: Der Begriff Faschismus steht für eine Politik, die sich im Dienst des Großkapitals und des Großgrundbesitzes das Ziel setzt, die Arbeiterbewegung zu vernichten und bereit ist, dafür die bürgerlichen Grundrechte außer Kraft zu setzen.

In den beiden Jahrzehnten zwischen 1919 und 1940, als der Faschismus mit einiger Aussicht auf Erfolg beanspruchen konnte, etwas Neues, kraftvoll Junges, die Zukunft schlechthin zu sein, war auf den ersten Blick erkennbar, dass sich hier die Gegenbewegung zur proletarischen Revolution formiert hatte, eine Bewegung, die sich nicht wie der alte Polizeistaat damit begnügte, die Revolutionäre zu bespitzeln, zu verhaften und abzuurteilen, sondern es unternahm, mit der Revolution zu konkurrieren. In der revolutionären Situation, die in den letzten beiden Jahren des Ersten Weltkrieges entstanden war, hatte die proletarische Bewegung in Europa, ausgehend von Russland, zum ersten Mal auf breiter Front die Frage nach der Macht gestellt. Erstmals bestand die reale Chance, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer zu stürzen und eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen.

Die Welt teilte sich in Rot und Weiß, in das Lager der sozialistischen Revolution und in das Lager der „Weißgardisten“, der Konterrevolutionäre. In den Anfängen der Hitlerbewegung war dieser Zusammenhang noch so deutlich, dass viele meinten, die Bewegung müsste eigentlich eine weiße Fahne vor sich hertragen. Man entschied sich dennoch für Rot. Die fanatischen Feinde der Revolution ließen sich zu „Sozialisten“ umtaufen und holten sich aus dem gegnerischen Lager großzügig alles, was ihnen dabei helfen konnte, sich als „Revolutionäre“ zu verkleiden. Noch heute zeugt dieses Verhalten der deutschen Kontras davon, wie tief der sozialistische Gedanke im deutschen Proletariat und selbst im Kleinbürgertum Wurzeln geschlagen hatte. Sie auszureißen, schien nur möglich zu sein, wenn man konkurrierend vorgab, einen weit besseren, nämlich den einzig wahren, weil deutschen Sozialismus zu wollen.

„Als nationale Sozialisten sehen wir in unserer Flagge unser Programm. Im Rot sehen wir den sozialen Gedanken der Bewegung, im Weiß den nationalistischen, im Hakenkreuz die Mission des Kampfes für den Sieg des arischen Menschen und zugleich mit ihm auch den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird.“ [5]

Die zwanghafte Imitation des Gegners war in der Tat eine deutsche Besonderheit. So wenig Faschisten zugleich Antisemiten sein müssen, so wenig ist es zwingend, dass sie sich als „Sozialisten“ gebärden. Gleichgültig welche Symbole sie wählen, sie sind und bleiben die Todfeinde der Revolution. Der Faschismus an der Macht ist das politische System der Konterrevolution. Aus der finalen Entgegensetzung von proletarischer Revolution und terroristischer Diktatur bezieht er eine eigentümliche Dynamik, die allerdings nicht länger währt als seine zerstörerische Mission. Erlischt sein revolutionäres Gegenüber, schwinden auch seine Kräfte.

Dieses Merkmal unterscheidet ihn von älteren Systemen der Unterdrückung und Massenbeeinflussung. Faschisten erklären sich jederzeit zum letzten Wort der Geschichte, berechnen ihre Herrschaft nach Jahrtausenden und finden doch keine Stabilität. In einer endlosen Kette von Aktionen, Festen, Hetzjagden und Kriegen erfinden sie sich täglich neu und können doch nicht davon ablenken, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Die Faschisten mögen noch so dröhnend von Zukunft reden, sie haben keine, die über den Ausnahme-, den Belagerungszustand hinausreicht. Sie geben vor, die konsequentesten Imperialisten zu sein, aber ihr Denken bleibt in den Kategorien des Bürgerkrieges gefangen.

„Wenn man … sich nur darauf beschränkt, … das Heer zu vergrößern, so ist das meiner Meinung nach sinnlos. Was nützt eine Armee aus marxistisch infizierten Soldaten? … Erst muss der Marxismus ausgerottet werden … Um dieses Ziel zu erreichen, erstrebe ich die gesamte politische Macht. Ich setze mir die Frist von sechs bis acht Jahren, um den Marxismus vollständig auszurotten.“[6]

Den Ausnahmezustand aber erklären die wirklichen Führer der Bourgeoisie und sie sind es auch, die ihn wieder aufheben. Die Faschisten erobern die Macht nur in der Phantasie, in der Wirklichkeit wird sie ihnen von den herrschenden Klassen übertragen und auch (wie in Spanien) nach erfüllter Mission wieder entzogen. Eine faschistische Guerilla, wie sie von den Alliierten für Deutschland befürchtet wurde, hat es nirgends gegeben, denn so penetrant die Faschisten das Wort „Volk“ gebrauchen, sie waren jederzeit Handlanger gegen das Volk. Sank ihr Stern, weil die wirklich Mächtigen ihnen das Mandat entzogen, gab es keine soziale Basis mehr, auf der sie einen illegalen Kampf hätten führen können.

Legal, wie sie 1933 in Deutschland die Macht übernommen hatten, verschwanden sie zum Erstaunen der Welt in der neuen Legalität des Kalten Krieges. Selbst ihre Folterknechte fanden Verwendung, ihre Juristen und Generäle selbstredend auch. Es fiel keinem schwer, sich in das geänderte Mandat einzuleben, denn der konterrevolutionäre, der antikommunistische Kern blieb unberührt, nun nicht mehr eingehüllt in das nordisch-herbe Fleisch eines „großgermanischen Reiches“, sondern in das rheinisch-süße des „christlichen Abendlandes“.

Die faschistische Diktatur ist auch für ihre Auftraggeber nicht frei von Risiken, und man entscheidet sich für diese Extremform bürgerlicher Politik erst angesichts einer akuten Bedrohung. Rückblickend sind Zweifel erlaubt, ob an der Jahreswende 1932/33 die führenden Kreise in Deutschland das revolutionäre Potenzial der Arbeiterbewegung richtig bewertet hatten, als sie meinten, alles auf die faschistische Karte setzen zu müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sie ihre Entscheidung in einem weiten Kontext trafen, zu dem die rasche Industrialisierung der Sowjetunion im Osten ebenso gehörte wie die starken Arbeiterbewegungen Frankreichs und Spaniens im Westen. Schon drei Jahre später, 1936, griff das faschistische Deutschland in den spanischen Bürgerkrieg ein, zogen ihn gewissermaßen an sich, und ließ ihm 1941 mit dem Überfall auf die Sowjetunion den europäischen Bürgerkrieg folgen.

Sieben Jahrzehnte danach

Sieben Jahrzehnte später hat sich die politische Geografie Europas und der Welt in einer Weise verändert, die niemand vorausahnen konnte, zumal jene nicht, die selbst erlebt hatten, wie die Sowjetunion durch ihren militärischen Sieg über den deutschen Faschismus zur Weltmacht aufstieg. Nie war der Kommunismus populärer in Europa als im Sommer 1945, während der wenigen Monate zwischen dem 8. Mai und dem 6. August, zwischen der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands und dem Abwurf der ersten Atombombe durch die USA. Die Tatsache, dass sich die Sowjetunion seit 1929 selbst in eine Diktatur verwandelt hatte, wog in den Augen der Welt nicht allzu viel gegen die andere Tatsache, dass es die Rote Armee gewesen war, die den entscheidenden Beitrag im Kampf gegen den deutschen Faschismus geleistet hatte. Nach dem Ende des blutigsten aller Kriege schien sich eine neue weltgeschichtliche Perspektive aufzutun. Nach dem weltweiten Bürgerkrieg zwischen Revolution und Konterrevolution, der seit 1918 mit kurzen Unterbrechungen getobt hatte, schien die Sache der arbeitenden Menschen eine neue Chance zu bekommen. Mit den Verbrechen der deutschen Faschisten schien das Potenzial menschlicher Niedertracht ausgeschöpft zu sein. Der Bombenabwurf über Hiroshima sollte solchen Hoffnungen einen schweren Schlag versetzen.[7]

Nur 46 Jahre nach dem Sieg über Hitlerdeutschland löste sich die UdSSR selbst auf. Die mächtige KPdSU kollabierte zu einer Sekte und aus ihren ehemaligen „Wirtschaftskadern“ rekrutierte sich eine neue Bourgeoisie. Der innere Zusammenbruch der sozialistischen Länder hat den alten Brandherden neue hinzugefügt. Ganz Westasien und große Teile Afrikas sind heute Kriegsschauplatz oder laufen Gefahr, es zu werden. Die USA haben 2001 im Zuge ihres „Krieges gegen den Terrorismus“ ein uneingeschränktes Interventionsrecht proklamiert und handeln danach. Jugoslawien, Afghanistan, der Irak und der Libanon wurden bereits überfallen. Syrien und der Iran werden bedroht. Die „Demokratisierung“ Cubas, d.h. die Vernichtung der kubanischen Revolution, ist ein ebenso selbstverständlicher wie beiläufiger Punkt der Traktandenliste, für die das Völkerrecht geradezu demonstrativ außer Kraft gesetzt ist.

„Es entstehen (durch die Abwehr der Terrorbedrohung) aktuell attraktive Märkte, wie die Sicherung der Außengrenzen von Europa, in Nordafrika oder im Nahen Osten. Hier wollen wir eine führende Rolle spielen und bewerben uns auch als Generalunternehmer.“[8]

Das alles geschieht ohne Faschismus. Die herrschende Politik hat die Konfrontation mit der revolutionären Bewegung weit hinter sich gelassen und ist nun wieder am Ausgangspunkt angekommen, beim gewöhnlichen Imperialismus. Ein Grund aufzuatmen ist das nicht, denn Verbrechen größten Stils waren jederzeit Teil dieser Politik.

Die „westliche“ Welt

Die große Bedeutung des deutschen Faschismus im Geschichtsbewusstsein hat zu einer gespaltenen Wahrnehmung geführt: Man horcht gespannt auf Anzeichen eines kommenden Unheils und ist zugleich abgestumpft gegen das Getöse der Kriege, die einige Flugstunden weiter geführt werden, abgebrüht auch gegen die Sendboten des Elends, die täglich halbtot europäische Küsten erreichen. Wir leben gewissermaßen vor den Drahtzäunen großer Lager und sehen zu, wie die Fluchtversuche vereitelt werden. Das alte koloniale Schema ist auf eine neue Stufe gehoben. Die Metropolen halten untereinander Frieden. Sie erklären sich zur „Welt“ schlechthin, zu einer idyllischen „Staatengemeinschaft“. Außerhalb einer gewissen Linie gelten die Rechtsnormen nur eingeschränkt. Die Gewalt nimmt nach der Peripherie hin zu. In den Zentren ist sie diesem Modell nach ein Monopol des Rechtsstaates, an den unzugänglich gewordenen Rändern ist sie das konstituierende Element. Es ist bemerkenswert, mit wie viel Aufmerksamkeit und berechtigtem Schamgefühl jede Einzelheit des Massenmordes in Erinnerung gebracht wird, wenn er in Mitteleuropa stattgefunden hat, und wie oberflächlich, ja gleichgültig man den Massenmord hinnimmt, findet er in Zentralafrika[9] statt.

Diese konzentrische Struktur wird verschleiert durch den pseudogeografischen Begriff der „westlichen Welt“. In Wirklichkeit bedeutet „Westen“ ganz allgemein die Mitte der kapitalistischen Welt, die Gesamtheit ihrer weltweit agierenden Zentren und insbesondere jener zu beiden Seiten des Nordatlantiks. In dieser neokolonialen Welt ist kein Bedarf an Massenbewegung und Massenrepression im faschistischen Stil. In Jahrhunderte langen Kämpfen hat sich das Großkapital, zuletzt gegen die sozialistische Bewegung, erfolgreich durchgesetzt und übt nun zum ersten Mal eine nahezu absolute Macht aus. Es ist dieser historisch neue Absolutismus des Kapitals, der den Anhängern einer faschistischen Diktatur wenig Raum lässt. Man braucht sie einfach nicht, weil keine Revolution droht, weil Kriege in großer Zahl ganz ohne faschistisches Tamtam geführt werden. Welche Rohstoffe könnte ein faschistisches Regime zum Ziel seiner Feldzüge machen, die nicht schon längst in der Hand der Konzerne sind? Welche Arbeitskräfte könnte es auftun, die nicht schon längst für den Weltmarkt ausgebeutet werden? Selbst ein Krieg zwischen den Großmächten ist ganz ohne faschistische Kulisse möglich, wie der Erste Weltkrieg zeigt.

Antifaschismus und Sozialismus

„Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ Diese Losung aus den Jahren unmittelbar nach der Befreiung brachte zweifellos zum Ausdruck, was die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung unter dem frischen Eindruck der Bombennächte und Rückzugskämpfe dachte. Und doch traf die Losung nicht den Kern der Sache, denn auch die Großindustriellen hatten keine Lust auf einen weiteren verlorenen Krieg und die Großgrundbesitzer dankten es dem Führer nicht sonderlich, dass die deutsche „Ostbewegung“ nun selbst hinter die Siedlungsgrenze des 13. Jahrhundert zurückfiel. An ihr faschistisches Abenteuer wollten beide lieber nicht erinnert werden. Sie hatten ja eigentlich gar nichts damit zu tun. Es war also nicht schwer, in diesen Jahren gegen Faschismus und Krieg zu sein.

Der Konflikt brach an einer ganz anderen Frage auf. Sollte nun das Geschäft des Kapitalismus mit veränderter Dekoration weitergeführt werden, oder ging es darum den Sozialismus aufzubauen, um endlich aus dem Teufelskreis von Krise, Unterdrückung und Krieg auszubrechen? Wer keinen „Wiederaufbau“ der kapitalistischen Gesellschaft wollte, sondern den endlichen Beginn eines solidarischen Zusammenlebens, der konnte sich mit dem Verzicht auf Faschismus und Krieg nicht zufrieden geben, der musste schon sagen, wie das andere Leben aussehen sollte, und viele haben das auch getan und angepackt.

Daran sollten sich möglichst viele beteiligen, auch solche, die zwar vom Faschismus nichts mehr wissen wollten, aber deshalb noch lang nicht sozialistisch gesinnt waren. Durch die Auseinandersetzung mit dem Faschismus als Teil ihrer Biografie sollten sie schrittweise an sozialistische Denkweisen und Ziele herangeführt werden. Zu Anfang gelang dies wohl auch, aber die dominante Tendenz der nachfolgenden Jahrzehnte war doch eine gegenläufige. Der sozialistische Staat geriet in Misskredit und meldete 1989 seinen politischen und wirtschaftlichen Bankrott an. Die Erinnerung an den faschistischen Terror, die einer gesellschaftlichen Alternative zum Kapitalismus den Weg hätte bereiten sollen, wurde fortan zum Selbstzweck.

„In antiextremistischer Sicht“

Den bürgerlichen Geschichtspflegern war es nun leicht gemacht, in „antiextremistischer Sicht“ von „zwei deutschen Diktaturen“ zu sprechen, die man glücklich hinter sich gebracht habe. Auch diejenigen, die eine solche diffamierende Gleichsetzung kategorisch ablehnen, hielten sich zurück, das sozialistische Projekt zu verteidigen. Man war nun „Anti“ und schwieg sich im Übrigen aus.

Zur Einübung des neuen Geschichtsbildes trug auch bei, dass sich seit der kläglichen Selbstauflösung der Sowjetunion der Blick auf den Zweiten Weltkrieg verändert hat. Der Höhepunkt des Ringens mit der Konterrevolution erscheint nun als etwas Unbegreifliches, Sinnloses, lediglich dem Größenwahn der Diktatoren Entsprungenes. Man organisiert Treffen von Kriegsteilnehmern, die sich „über Gräber hinweg“ die Hand schütteln, und es fehlt nicht viel, dass sich die Rotarmisten auch noch entschuldigen. Während den Konzernen seit 1991 auch über Osteuropa ihr Glücksstern wieder leuchtet und die deutschen Arbeitgeber lässig auf das Arbeitskräftepotenzial „im Osten“ verweisen können, hat sich für die Linken der Himmel zugezogen. Sie laufen Gefahr, eine Art Straßenkehrer des herrschenden Systems zu werden, allzeit den „braunen Dreck“ im Blick, immer bereit, ihn wegzufegen, ohne mit dieser Arbeit jemals an ein Ende zu kommen. Die herrschenden Kreise lassen die rechte Szene gewähren, unterstützen sie diskret und haben nicht viel dagegen, wenn zwischen Linken und Rechten ein Kleinkrieg stattfindet, der möglichst viele Kräfte der ohnehin schwachen Linken bindet.

Die Chance, sich auf diesem Weg nach und nach in das Zentrum des gesellschaftlichen Konflikts vorzuarbeiten, ist gering, denn die faschistische Option bürgerlicher Politik resultiert nicht etwa aus einer langfristigen Summierung „rechter Tendenzen“, aus einer Art Verschmutzung der politischen Szene. Sie entwickelt sich auch nicht wie eine Krankheit aus kaum wahrnehmbaren Symptomen zum Vollbild der Diktatur und des Massenmordes. Sie ist an eine konkrete, so nicht jederzeit wiederholbare Konstellation der Klassenauseinandersetzungen gebunden. Die faschistische Diktatur ist auch kein beliebiges Mittel zur Bewältigung einer ökonomischen Krise, noch weniger die unmittelbare Folge von Massenarbeitslosigkeit, wie das für Deutschland unter formelhafter Berufung auf „die sechs Millionen Arbeitslosen“ gerne behauptet wird. Gerade in Deutschland ist seit 1974 der Beleg dafür erbracht worden, dass die Arbeitslosigkeit gewaltige Ausmaße annehmen kann, ohne die faschistische Option auch nur entfernt zu aktualisieren. Die deutsche Geschichte der frühen 1930er Jahre zeigt, dass die Bewältigung der wirtschaftlichen Krise keineswegs das ausschlaggebende Motiv der herrschenden Politik war. Man hat im Gegenteil (wie schon während der Inflation 1923) bewusst auf die Verschärfung der Krise hingearbeitet, um den Klassengegner stellen und schlagen zu können. Und als die Machtübertragung an die Nazis stattfand, zeichnete sich das Ende der großen Krise schon ab.

Im Deutschland des Jahres 1933 kam die Spekulation hinzu, man könnte den weithin populären Kreuzzug gegen den Bolschewismus mit der Gründung eines Kolonialreiches in Osteuropa verbinden. Dieser „Fingerzeig des Schicksals“ steigerte zweifellos die Aggressivität der deutschen Kontras, aber es ist doch festzuhalten, dass nicht jede faschistische Diktatur mit einem derart weitgreifenden Expansionsprogramm verbunden sein muss. Umgekehrt können solche Programme sehr wohl mit „antifaschistischen“ Sprüchen garniert sein, wie die US-Politik unserer Tage lehrt.[10]

Die nicht selten unter den Kategorien von Schuld und Sühne stattfindende Fixierung auf die deutsche Diktatur verstellt den Blick auf abweichende Varianten faschistischer Politik. Man stelle sich beispielsweise vor, der deutsche Diktator hätte (bei etwas mehr „Vernunft“) den Krieg „rechtzeitig“ beendet oder erst gar nicht angefangen, wäre in den 50er Jahren zu einem Verbündeten der USA geworden, in Ehren ergraut und 1975 samt seinem Regime beerdigt worden. Zwei Jahre später hätte sich die NSDAP aufgelöst und der Chef des Hauses Hohenzollern wäre zur Freude der Boulevardblätter König von Deutschland geworden. Ein obszöner Gedanke? In Spanien ist genau das passiert, und doch wird niemand behaupten wollen, das Franco-Regime (von Hitler und Mussolini an die Macht gebombt) sei keine faschistische Diktatur gewesen.

Die Weigerung, den Faschismus über alle nationalen Besonderheiten hinweg als das System der Konterrevolution wahrzunehmen, mag vielfach auf Unkenntnis beruhen. Die Inbrunst, mit der die politisch „Korrekten“ das Wort „Nationalsozialismus“ aussprechen und die Zähigkeit, mit welcher der amtliche Sprachgebrauch an dieser Tarnbezeichnung festhält, hat allerdings gute Gründe. Erstens müsste man nach Anerkennung des gegenrevolutionären Kerns auch von der Revolution selbst reden. Von ihr schweigt man jedoch lieber. Zweitens besteht entschiedenes Interesse daran, die sozialistische Bewegung in die Nähe der Barbarei zu bringen, was einem farbenblinden „Antiextremisten“, für den Rot und Braun dasselbe ist, nicht schwer fällt. Drittens braucht man einen Begriff, der nur auf Deutschland anwendbar ist, weil sich nur in der Beschränkung auf den deutschen Faschismus und speziell auf den mörderischen Antisemitismus der deutschen Faschisten jenes Substrat gewinnen lässt, das man seit dem Kosovokrieg zur erneuten Legitimation des Krieges braucht. Es war der deutsche Außenminister, der die Losung ausgab „Nie wieder Auschwitz!“ und damit die Losung „Nie wieder Krieg!“ neutralisierte.

Das Recht zum Krieg wie auch das Recht auf uneingeschränkte Intervention, diese Merkmale einer jeden imperialistischen Politik, waren nach über einem halben Jahrhundert Friedensrhetorik offenbar nicht anders zu begründen. Es liegt auf der Hand: Wer einen „Weltkrieg gegen den Terrorismus“, wer das Folterlager Guantanamo rechtfertigen will, der braucht den monströsen, aus allen Zusammenhängen isolierten Bezugspunkt, der keinen Widerspruch zulässt. Ebenso klar ist es, dass die Erinnerung an eine Revolution dabei nicht weiterhilft, die in erster Linie eine antimilitaristische war, ein Aufstand der Matrosen und Soldaten gegen den Krieg, gegen das ganze System der Entwürdigung. Man will nicht wissen, wie ein Krieg unführbar wird, sondern wie man Kriege führbar machen kann.

Massenmord als Legitimation

So erklärt sich auch der auffallende Widerspruch, dass die gleichen, die eindringlich vor der Wiederholung des Faschismus warnen, im selben Atemzug die Einmaligkeit seiner Verbrechen behaupten. Die Arbeiterbewegung hat frühzeitig den Antisemitismus bekämpft, war diese besondere Form der reaktionären Hetze seit dem Ende des 19. Jahrhundert doch auch gegen sie selbst gerichtet. Es war die illegale KPD, die der Empörung über den Pogrom von 1938 Ausdruck gegeben hat, ganz im Gegensatz zur Diplomatie Englands und Frankreichs, die sich bedeckt hielt, um den Partner des kurz zuvor unterschriebenen Münchner Abkommens nicht zu verstimmen.

„Getreu den stolzen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung … erhebt die Kommunistische Partei Deutschlands ihre Stimme gegen die Judenpogrome Hitlers, die vor der gesamten Menschheit die Ehre Deutschlands mit tiefster Schmach bedeckt haben … Es sind nicht die Juden, die durch eine fortgesetzte Politik der Gewalt und der erpresserischen Drohungen gegenüber andern Ländern den Frieden gefährden und Deutschland in einen neuen Weltkrieg treiben. Es sind die Krupp, Thyssen, Mannesmann, Flick usw., die alten imperialistischen Verderber Deutschlands, die Kriegsgewinnler vom letzten Weltkrieg, die Inflationsgewinnler in der Republik, die Rüstungsgewinnler von heute, in deren Auftrag Hitler bereit ist, das deutsche Volk wieder in einem Krieg hinzuopfern.“[11]

Auch als die Züge in die Vernichtungslager rollten, unternahm die alliierte Luftwaffe nichts, das Morden aufzuhalten.[12] Die Rote Armee war es endlich, die Auschwitz befreite und der Welt die ersten Bilder der Überlebenden lieferte.[13] Es fehlte denen, die vor den Überresten des Verbrechens standen, wohl oft die Worte, aber es machte doch auch hier keinen Sinn, einem historischen Ereignis „Einmaligkeit“ zu attestieren.

Es ist leider eine Tatsache, dass die Erinnerung an den faschistischen Massenmord systematisch dazu herangezogen wird, der imperialistischen Politik des Westens eine moralische Rechtfertigung zu geben. Je ausgreifender die Ziele, je bedenkenloser die Mittel und je wertvoller der „westliche“ Brückenkopf für die geostrategischen Ziele der USA, umso intensiver wird an dieser ideologischen Verknüpfung gearbeitet.[14] Viele, die in den vergangenen Jahrzehnten die Erinnerung an die faschistischen Massenverbrechen wach gehalten haben, geraten in die fatale Situation, der Rechtfertigung einer aggressiven, durchaus kolonialen Mustern folgenden Politik dienstbar gemacht zu werden. Gerade hier wird deutlich, wie leicht Erinnerung manipuliert werden kann, wenn man sie aus dem rational erfassbaren Zusammenhang löst und zum Gegenstand moralischer „Bekenntnisse“ macht.

Ausblick

Die Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung reicht tief in das 19. Jahrhundert zurück. In diesen Zeitraum von zwei Jahrhunderten wurden die Überzeugungen und Ziele formuliert, die noch immer gültig sind.

„Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe und Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel) in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion kann es bewirken, dass der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt werde.“[15]

Wenn die Linke heute auch schwach ist und gleichsam nur ein Schatten dessen, was sie einmal war, so ist sie doch Teil der großen Anstrengung, zu einer gerechten Gesellschaft zu gelangen. Dieses Ringen vollzog sich in einem weiten Spannungsbogen, der in Europa seinen Höhepunkt in der russischen Oktoberrevolution 1917 und in der deutschen Novemberrevolution 1918 hatte. Am Datum des 9. November wird sich künftig Jahr für Jahr zeigen, ob die Linke im Stande ist, sich aus der Fixierung auf den Faschismus zu lösen und zu sich selbst zurückzufinden. Das Erinnern an die Verbrechen der Konterrevolution ist nutzlos, wenn darüber die Forderungen der Revolution vergessen werden.

Auch der Pogrom von 1938 wurde mit dem Ziel unternommen, die Erinnerung an die Revolution des 9. November 1918 auszulöschen, ganz in dem Sinn, wie die Nazis zuvor schon am 9. November 1923 versucht hatten, mit einem „Marsch auf Berlin“ die Konterrevolution zum Sieg zu führen. Auch wenn es den Beteiligten nicht bewusst ist und noch weniger in ihrer Absicht liegt: Wer am 9. November von der Revolution der Matrosen und Soldaten des Jahres 1918 schweigt und stattdessen allein an die Verbrechen der Mordbanden des Jahres 1938 erinnert, der vollzieht, was er zu bekämpfen meint. Es nimmt den Opfern von 1938 nichts, ja es macht ein würdiges Gedenken überhaupt erst möglich, wenn man diese Zusammenhänge aufdeckt und den 9. November endlich wieder zum Jahrestag der deutschen Revolution macht, des Kampfes gegen Ausbeutung und Krieg, gegen den Imperialismus in allen seinen Formen.

[1] Der Kalender war 1792 eingeführt worden und rechnete ab dem 14. Juli 1789, dem Sturm auf die Bastille. Mit dem 31.12.1805 wurde er abgeschafft.

[2] Sebastian Haffner, Die deutsche Revolution 1918/19, München 1991, S. 85 f. – Zur Atmosphäre: Klaus Kordon, Die roten Matrosen, oder: Ein vergessener Winter, München 2005 (Junge Bibliothek Bd.9).

[3] Der in München lebende reaktionäre Publizist Oswald Spengler verleumdet hier Ende 1919 die Bayerische Räterepublik. Auszug aus: Preußentum und Sozialismus, in: Politische Schriften, München 1933, S. 9f.

[4] Dieses Verschweigen ist umso peinlicher, als München auf besondere Weise mit der Novemberrevolution verbunden ist. Sie erfolgte dort bereits am 7.11.1918. Nicht wenige Sozialisten jüdischer Herkunft kämpften in ihren Reihen, von der Konterrevolution als „land- und rassefremd“ diffamiert. Nach der blutigen Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik im Mai 1919 wurde München zu einem Sammelbecken der Reaktion und nicht zufällig zum Zentrum der Hitlerpartei. Einblick in die Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung, die sich in scharfer Abgrenzung gegen die Zionisten entfaltete, gibt: John Bunzl, Klassenkampf in der Diaspora, Wien 1975.

[5] Adolf Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, Kap. 7 „Im Ringen mit der roten Front“.

[6] Hitler am 3.2.1933 vor den Spitzen der Reichwehr (sog. Hammerstein-Rede), zit. Nach: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3/2001, S. 547.

[7] Für diese Enttäuschung gibt es viele Zeugnisse. Irmgard Seidel, eine Überlebende des Frauenkommandos des KZ Buchenwald 1995: „Wir Überlebende sind sehr enttäuscht, dachten wir doch, dass nach diesem Abgrund sich alles ändern wird …“ Jenny Spitzer (KZ Auschwitz) 1994: Sie stehe mit vielen der Überlebenden in Verbindung. „Es ist eigenartig, alle behaupten einstimmig, oh harte Wirklichkeit!, enttäuscht zu sein. Woran liegt das? Haben wir uns das Leben in unserer Phantasie zu schön vorgestellt?“ (Ich war Nr. 10291, Stäfa 1994, S. 148) – Zum Verbrechen des Bombenabwurfs: Stephen Walker u.a., Hiroshima, München 2005 und Florian Coulmas, Hiroshima: Geschichte und Nachgeschichte, München 2005.

[8] So der Leiter des Geschäftsfeldes Homeland Security („Heimatsicherheit“) des Rüstungskonzerns Rheinmetall DeTec. (Financial Times Deutschland, 16.6.05)

[9] Zwischen April und Juli 1994 wurden in Ruanda zwischen 0,8 und 1,0 Mio. Menschen getötet. Vgl. Linda Melvern, Ruanda: Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt, München 2004.

[10] Der US-Präsident liebt es, sich als selbstloser Kreuzritter gegen die „faschistischen Islamisten“ darzustellen.

[11] Sonderausgabe der Zeitung „Rote Fahne“ gegen die Judenpogrome, Mitte Nov. 1938. Zit. nach: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1966, Bd.5, S. 509f.

[12] Unter anderen informierte der Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses die Alliierten am 8.8.1942, ohne jeden Erfolg. Dazu Frank Bajohr, Der Holocaust als offenes Geheimnis: Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006.

[13] Was am neu geschaffenen Holocaust-Gedenktag (27.1.) regelmäßig „vergessen“ wird.

[14] In schöner Bescheidenheit wird das Operationsgebiet des Feldzuges „Enduring Freedom“ („Dauerhafte Freiheit“) 2001 wie folgt definiert: „Arabische Halbinsel, Mittelmeer und Zentralasien, Nordostafrika, sowie die angrenzenden Seegebiete.“ (Wolf Wetzel, Krieg ist Frieden, Münster 2002, S. 217)

[15] Erfurter Programm der SPD, Oktober 1891. Dieter Dowe u.a. (Hrsg.), Programmatische Dokumente, Bonn, 1973, S.173 ff.