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Die „Bolivarianische Alternative für Amerika"

Eine neue Perspektive der lateinamerikanischen Entwicklung

Dezember 2007

Die massenhafte Enttäuschung über den Neoliberalismus hat an der Jahrhundertwende die Entstehung der sozialen Bewegung des Alterglobalismus bedingt, der sozialen Protestbewegung gegen die neoliberale Globalisierung. In den meisten lateinamerikanischen Ländern ist der über zwanzig Jahre lang herrschende Kurs neoliberaler Reformen, der, wie seine Anhänger glauben, auf die Lösung der sozial-ökonomischen Probleme der Region gerichtet sei, durch dessen konsequente Umsetzung in Zuspitzung dieser Probleme umgeschlagen. Daher bildete sich gerade hier die kämpferischste und am besten organisierte Abteilung des Alterglobalismus heraus.

Bis in die jüngste Zeit hinein bestand der hautsächliche Inhalt der Tätigkeit der Alterglobalisten in der Kritik der neoliberalen Form der Globalisierung. Eine Schwachstelle der Bewegung, die den Grund für berechtigte Kritik an ihr lieferte, war das Fehlen eines klaren und bestimmten Aktionsprogramms zur Umgestaltung des so zornig durch den Alterglobalismus kritisierten Phänomens. In den letzten Jahren jedoch tauchte auf der Ebene der internationalen Beziehungen in Lateinamerika zunächst verbal, dann aber auch in der Praxis ein neues Projekt der lateinamerikanischen Integration auf, das, wie wir denken, gute Chancen bietet, die Lücke des fehlenden positiven Programms zu schließen – wenn nicht die des weltweiten Alterglobalismus, so doch wenigstens seines lateinamerikanischen Teils. Es handelt sich dabei um die Alternativa Bolivariana para la América (ALBA), die von der República Bolivariana de Venezuela (RBV) und ihrem Präsidenten Hugo Chávez als alternativer Entwicklungsweg der Region ausgearbeitet wurde.

Die Bestimmung der internationalen Stellung des ALBA-Projektes erfordert eine ganzheitliche und komplexe Analyse und setzt seine Betrachtung in vier Dimensionen voraus – der nationalen, regionalen, kontinentalen und globalen.

ALBA und Bolivien

Im nationalen Maßstab stellt ALBA eine bevorzugte Richtung der Außenpolitik der RBV dar.

Die Wechselwirkung mit den führenden integrativen Blöcken der Region stand im Zentrum der Außenpolitik der Regierungen, die der bolivarianischen vorangegangen waren. Unter Carlos Andrés Perez (1989-1992) bildeten einen Anziehungspunkt vor allem die Länder des Andenpaktes (Pacto Andino) und in erster Linie Kolumbien als Führungsmacht des Blockes, der Zentralamerikanische Gemeinsame Markt (El Mercado Común Centroamerico – MCC) und die Karibische Gemeinschaft (La Communidad del Caribe – Caricom). Unter Rafael Caldera (1994-1999) verschob das nationale Binnenprogramm zur Entwicklung des Südens des Landes die außenpolitischen Prioritäten Venezuelas zugunsten des Mercosur (El Mercado Común del Sur) und Brasiliens als Führungsmacht dieses Blockes.

Die Mannschaft von Hugo Chávez stellte der venezolanischen Öffentlichkeit im Verlaufe ihres Wahlkampfes 1997 das programmatische Dokument „Der Vorschlag von Hugo Chávez zur Transformierung Venezuelas“ vor, das im Anschluss „Übergangsprojekt“ genannt wurde. In diesem Dokument werden fünf Typen von Gleichgewichten unterschieden, auf denen das allgemeine Gleichgewicht der neuen Republik beruhen soll: das politische, das soziale, das wirtschaftliche, das territoriale und das weltweite Gleichgewicht. Im Rahmen des fünften, des weltweiten Gleichgewichts wurden die allgemeinen Konturen und strategischen Prioritäten der Außenpolitik der RBV umrissen: die Länder der Andengemeinschaft, des Karibischen Beckens, Mittelamerikas, die Länder des Mercosur, Guayana, Nordamerika, die Europäische Union und Asien.[1] Das heißt, dass die Außenpolitik der RBV zunächst faktisch im Weltmaßstab mit dem besonderen Akzent auf Lateinamerika konzipiert wurde. Im Programm selbst und in den öffentlichen Auftritten dieser Periode fehlt jedoch noch ein bestimmtes integratives Projekt.

Mit dem Machtantritt von Hugo Chávez wurden die südamerikanische, die Anden- und die Karibik-Dimension der Außenpolitik Venezuelas zu gleichwertigen Achsen einer allgemeinen Lateinamerikapolitik der RBV. Die ersten Länder, die Hugo Chávez nach seinem Machtantritt besuchte, waren Brasilien (15.12.1998) und Kolumbien (17.-18.12.1998). Es veränderte sich auch der Inhalt der Außenwirtschaftsbeziehungen der RBV: Im Vergleich zu den vorherigen Regierungen wurde der Akzent vom Privatsektor hin zum staatlichen Sektor verschoben.

Einen gewaltigen Schritt nach vorn auf dem Weg zur Institutionalisierung der lateinamerikanischen Integrationsstrategie der RBV stellte die im Dezember 1999 angenommene Verfassung dar. Ihr Artikel 153 ist allein dem Thema der lateinamerikanischen Integration gewidmet: „Die Republik wird die lateinamerikanische und karibische Integration mit dem Ziel der Schaffung einer Gemeinschaft von Nationen vorantreiben und fördern, indem die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, politischen und ökologischen Interessen der Region vertreten werden. Die Republik kann internationale Verträge unterschreiben, die die Anstrengungen zur Sicherung der allgemeinen Entwicklung unserer Nationen verknüpfen und koordinieren und die das Wohlergehen der Völker und die kollektive Sicherheit ihrer Bewohner garantieren. Für diese Ziele kann die Republik mit Hilfe von Verträgen übernationalen Organisationen Vollmachten einräumen, die für die Verwirklichung von Integrationsprozessen notwendig sind. Im Rahmen der Politik der Integration und des Bündnisses mit Lateinamerika und den Karibikstaaten wird die Republik den Beziehungen mit Iberoamerika Vorrang geben, um zu erreichen, dass auch die allgemeine Politik unseres ganzen Lateinamerikas sich nach dieser Art entwickele. Die Normen, die im Rahmen von Vereinbarungen über die Integration angenommen werden, werden als Bestandteil einer aktiven Gesetzgebung mit Direktivkraft betrachtet werden und gegenüber der inneren Gesetzgebung Vorrang bekommen.“[2] Die verfassungsmäßige Formierung des Integrationskurses als strategisches Staatsziel besitzt nicht allein für die RBV Bedeutung, sondern für die gesamte Region. Das liefert auch den Grund für die Ansicht, dass Hugo Chávez in der Region den Export des bolivarianischen Programmes betreibe, indem er den Nationalstaaten und -verfassungen eine übernationale Struktur aufprägen würde.

ALBA im Rahmen der Region Lateinamerika/Karibik

Im regionalen Maßstab (Lateinamerika und Karibik) stellt ALBA ein Projekt zur Integration der Staaten der Region dar. Es ist in historischer Kontinuität mit einer Reihe von Versuchen verbunden, die lateinamerikanischen und vor allem die Andenstaaten zu vereinigen, die sich letztlich auf La Gran Colombia zurückführen lassen, das unter Führung von Simón Bolivar geschaffen wurde; weswegen die Charakterisierung des Projektes als neobolivarianisch historisch durchaus gerechtfertigt ist. Beide Projekte ähneln sich tatsächlich in vielen Merkmalen und verweisen auf eine unmittelbare Beziehung zwischen ihnen. So entwerfen beide Projekte ein konföderatives Modell der Vereinigung, beide verhalten sich äußeren Mächten gegenüber oppositionell (das Projekt von Bolivar stellte sich gegen die Hegemonie Spaniens und der USA, das ALBA-Projekt – gegen die der USA). Diese gemeinsamen Züge sind jedoch Ausdruck eher einer äußeren, als einer inneren Verwandtschaft der Projekte. Beide trennen 187 Jahre voneinander (von den „Briefen aus Jamaika“ bis zur ersten Formulierung von ALBA), die immerhin eine ganze historische Epoche ausmachen. Der Inhalt dieser Epoche besteht für Lateinamerika in der Herausbildung einer Reihe von selbständigen Nationalstaaten. Das Projekt von Bolivar war am „Eingang“ zu dieser Epoche entstanden, als sich nach dem Unabhängigkeitskrieg der Prozess der Staatenbildung – der Herausbildung und Konsolidierung von Nationalstaaten – stürmisch zu entwickeln begann. ALBA dagegen taucht in einem welthistorischen Moment auf, als der Staat als selbständige politische Institution seine Souveränität zu verlieren beginnt und allmählich die Führung an transnationale Kräfte abtritt. Der Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts richtete sich gerade auf die Reduktion der staatlichen Funktionen in der Regulierung des gesellschaftlichen Lebens. Das ALBA-Projekt entsteht folglich am „Ausgang“ jener Epoche, in der die staatliche Form noch die führende Rolle in den internationalen Beziehungen gespielt hatte. Damit hängt auch zusammen, dass die beiden Projekte vor völlig unterschiedlichen Aufgaben standen bzw. stehen: Im Projekt von Bolivar tritt die Integration als Instrument zur Stimulierung einer harmonischen und ausbalancierten Staatenbildung auf, im ALBA-Projekt – als Instrument zum Erhalt des Staates als Institution im Allgemeinen und des Machtausbaus konkreter Staaten im Besonderen.

Politische Integration

In politischer Hinsicht setzt das Projekt eine Konföderation der lateinamerikanischen Staaten voraus. Prinzipien der Konföderation sollen die Prinzipien der internationalen Beziehungen werden, die die RBV als Grundlage ihrer Außenpolitik deklarierte. So wird in Artikel 152 der Verfassung gesagt: „Die internationalen Beziehungen der Republik ... sind geleitet von den Prinzipien der Unabhängigkeit, der Gleichheit zwischen den Staaten, der freien Selbstbestimmung und Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten, der friedlichen Lösung internationaler Konflikte, der Zusammenarbeit, Achtung der Menschenrechte und der Solidarität zwischen den Völkern im Kampf um ihre Befreiung und um das Wohl der Menschheit.“[3]

Einen analogen Ansatz kann man in der ersten multilateralen Vereinbarung im Rahmen von ALBA erkennen – im Vertrag der RBV mit 13 Karibik-Staaten über die Schaffung des Unternehmens Petrocaribe vom 29.07.2005: „Wir garantieren die vollständige Achtung der Prinzipien der Gleichheit der Staaten, der Unabhängigkeit, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, der freien Selbstbestimmung und des Rechts jeder Nation frei sein soziales, politisches und wirtschaftliches System zu bestimmen.“[4] Es ist offensichtlich, dass die RBV nicht nur in der Verfassung, sondern auch in einem internationalen Vertrag sich nicht über, sondern in einer Reihe mit denjenigen Staaten sieht, die zur Zusammenarbeit und Integration bereit sind. Indem es sich auf die Prinzipien der Selbstbestimmung und Freiwilligkeit gründet, stellt das ALBA-Projekt keinen Export der bolivarianischen Revolution nach Lateinamerika dar. Im Zusammenhang damit lässt sich der Charakter sowohl der Verfassung, als auch des ALBA-Projektes nicht als übernational, sondern als international bestimmen.

Von der Realisierbarkeit der politischen Komponente von ALBA als eines regionalen Projektes zu sprechen, wäre verfrüht. Gegenwärtig ist die Rede von der Herausbildung der wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine politische Gemeinschaft.

Die Integration des Energiesektors

Das Fundament für die politische Integration soll, nach der Idee von Hugo Chávez, die Integration im Energiesektor mit dem Schwerpunkt Erdöl abgeben. In wirtschaftlicher Hinsicht wird im Rahmen von ALBA an die Schaffung eines einheitlichen Produktionskomplexes in der Region auf der Grundlage des staatlichen Sektors gedacht.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurde eine Vereinbarung mit den Karibik-Staaten zur Schaffung des Unternehmens Petrocaribe auf den Weg gebracht, in dessen Rahmen eine karibische Filiale (PDVSA-PDV Caribe) gebildet wurde.

Der Vertrag stützt sich auf zwei vorangegangene Energieverträge – den Vertrag von San Jose von 1980 und den Energiepakt von Caracas aus dem Jahre 2000[5], geht aber über diese hinaus. Das Projekt trägt partiell den Charakter eines Produktionsabkommens: So beabsichtigt die PDVSA in die Erdölfirma Petrojam in Jamaika zu investieren, um deren Produktionsausstoß zum Jahre 2008 von 36.000 auf 50.000 Barrel Erdöl pro Tag zu steigern. Allerdings hat Trinidad und Tobago – Erdölexporteur Nr. 1 der Region – die Teilnahme an diesem Projekt abgelehnt. Das verringert die Produktionsmöglichkeiten von Petrocaribe. Vorrangig ist jedoch das Projekt auf den Export des venezolanischen Erdöls in die Staaten der Karibik zu Vorzugspreisen orientiert, indem es ein Kreditsystem auf dem Markt der Erdölprodukte bereitstellt. Vertragsgemäß soll, je höher der Weltmarktpreis pro Barrel Öl, desto höher, so heißt es im Vertrag, „der Prozentsatz der Kompensation und Finanzierung“ angesetzt werden, oder mit anderen Worten, der von der RBV gewährte Preisnachlass. In diesem Dokument wird eine entsprechende Skala dafür angeführt: 15 $ - 5 Prozent, 20 $ - 10 Prozent, 30 $ - 25 Prozent, 40 $ - 30 Prozent, 50 $ - 40 Prozent, 100 $ - 50 Prozent. Die Periode der anfänglichen unentgeltlichen Erdöllieferungen umfasst zwei Jahre anstelle eines Jahres laut Energiepakt von Caracas. Die Frist der Kreditbegleichung betrug nach dem Energiepakt von Caracas 15 Jahre, im Rahmen von Petrocaribe wurde sie auf 17 Jahre erhöht und lässt sich auf 25 Jahre ausdehnen, wenn der Weltmarktpreis 40 $ pro Barrel übersteigen sollte. Dabei wird ein beispiellos niedriger Tarif von 1 Prozent im Jahr (anstelle von 2 Prozent nach dem Energiepakt von Caracas) festgesetzt. Die Zahlungen für den Erdölimport können durch Waren abgegolten werden. Die RBV „kann von den Karibik-Staaten Zucker, Bananen und andere Waren und Dienstleistungen erwerben, die unter der Handelspolitik der reichen Länder leiden“.[6] Außerdem wird auf Initiative der RBV eine Stiftung ALBA-Caribe mit einem Startkapital von 50 Millionen US-Dollar eingerichtet, der für die Finanzierung von sozialen und wirtschaftlichen Programmen vorgesehen ist.

Es kursiert die Meinung, dass Petrocaribe den wirtschaftlichen Einfluss der RBV auf die karibischen Länder zum Ziel habe, um deren Unterstützung in den inneramerikanischen Institutionen zu bekommen, vor allem in der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS – Organización de los estados americanos).[7] Eine solche Beurteilung mutet einigermaßen einseitig an, obwohl solche politischen Folgen von Petrocaribe, wie die Solidarität der karibischen Länder mit der RBV in diesen oder jenen Fragen, nicht auszuschließen sind. Unserer Meinung nach spielt dabei keine unwichtige Rolle, dass die RBV sich ihrer Verantwortung gegenüber den Staaten bewusst wird, die vom Preisanstieg auf dem Erdölmarkt betroffen sind, der in nicht geringem Maße durch die Politik der RBV in der OPEC bedingt ist. Außerdem unterstreicht die Schaffung von Petrocaribe die in der Bolivarianischen Verfassung verkündeten internationalen Prinzipien. Die Regierung von Hugo Chávez gibt der internationalen Gemeinschaft zu verstehen, dass das venezolanische Erdöl ein Gut des ganzen lateinamerikanischen Volkes und dessen Lebensquelle darstellt, und nicht als Extraprofit Transnationaler Korporationen (TNK) und einer nationalen Oligarchie zu behandeln ist. Eine andere Frage ist es, wie weit in Zeit und Raum eine solche dem Inhalt nach internationale, der Form und dem Erscheinungsbild nach populistische Politik reichen wird.

In der gegenwärtigen Welt ist die Frage nach dem Eigentum an Erdöl untrennbar verbunden mit der Frage nach der politischen Macht. Im Falle von Venezuela fallen sie absolut zusammen. Das Erdöl als strategische Ressource, dessen Preise die Weltmarktpreise für andere Waren bestimmen, wird für die RBV dank ihres hohen Weltmarktanteils an der Erdölförderung[8] zum Fundament der internationalen Politik insgesamt und der lateinamerikanischen im Besonderen. Zugleich war und bleibt der Ölpreis die „Achillesferse“ der RBV. Heute noch sind hohe Erdölpreise vorteilhaft für die Konkurrenz – die transnationalen Erdölkonzerne. Morgen schon könnten diese die Preis senken, um letztlich ganz und gar die eigenen Spielregeln zu diktieren. Die Chávez-Regierung ist sich der möglichen Gefahr bewusst und arbeitet an der Risikominimierung durch Diversifizierung nicht nur der nationalen, sondern nach Möglichkeit auch der lateinamerikanischen Wirtschaft.

Über den Ölfaktor hinaus

Weit verbreitet ist die Meinung, dass „für ALBA eine ökonomische Stütze oder eine Ressource von strategischem Wert, wie es im venezolanischen Fall das Öl darstellt, unabdingbar“ sei.[9] Doch birgt diese Sichtweise nur einen Teil der Wahrheit, und nicht einmal den wesentlichen. Unserer Ansicht nach ist nicht einfach Erdöl das Fundament von ALBA, sondern ALBA selbst erweist sich langfristig als potentielles Fundament für die Stabilität sowohl des Ölfaktors in der Entwicklung der lateinamerikanischen Wirtschaft, als auch der lateinamerikanischen Wirtschaft insgesamt, falls sich die Rolle des Ölfaktors aus dem einen oder anderen Grunde verringern sollte. Das venezolanische Erdöl ist, wie paradox das auch erscheinen mag, dazu berufen, die Entwicklung und Integration Lateinamerikas mit dem Ziel zu stimulieren, die Rolle des Erdöls in der lateinamerikanischen Wirtschaft im Maße ihrer wachsenden Diversifizierung, Integration und Stabilität zu verringern. Darin besteht, unserer Meinung nach, das strategische Ziel von ALBA.

Als eines der Hauptprinzipien der regionalen Integration gilt die „wirtschaftliche Ergänzung und Zusammenarbeit der Teilnehmer-Staaten, nicht aber die Konkurrenz zwischen den Ländern und Volkswirtschaften, so dass eine effektive und konkurrenzfähige produktive Spezialisierung gefördert werde, die mit einer ausgeglichenen wirtschaftlichen Entwicklung jedes Landes vereinbar ist, wie auch mit den Strategien der Armutsbekämpfung und mit dem Erhalt der kulturellen Eigenart der Völker.“[10] Das heißt, anstelle der im Verlaufe vieler Jahrzehnte in Lateinamerika praktizierten Wirtschaftsstrategie der nationalen Diversifizierung, die auf einer importablösenden Entwicklung beruhte, schlägt ALBA eine Diversifizierung zwischen den Nationen vor, die sich auf deren wechselseitiger Ergänzung gründen soll.[11] ALBA geht über die traditionelle wirtschaftliche Zusammenarbeit hinaus, indem es ein einheitliches Wirtschaftssystem zum Ziel der Integration macht.

In den letzten beiden Jahren begünstigt die Konjunktur auf dem Erdölmarkt die Tätigkeit der RBV in dieser Richtung.

In strategischer Perspektive ist die Schaffung eines einheitlichen regionalen zwischenstaatlichen Wirtschaftsunternehmens Petroamerica[12] geplant, das die Erdöl- und Erdgasunternehmen der Länder der Region vereinen soll. Dessen Ziel ist die Gewährleistung der Energiesicherheit der Region durch Schaffung eines stabilen Systems der Energieversorgung, unabhängig von den Transnationalen Korporationen.

Petroamerica soll eine Multinationale Korporation (MNK) darstellen. Der prinzipielle Unterschied eines MNK von einem TNK besteht, erstens, darin, dass eine MNK und ihre Bestandteile Eigentum von Staaten darstellen, und zweitens, dass die Beziehungen innerhalb der Korporation auf Parität und wechselseitiger Abhängigkeit beruhen, im Unterschied zu den TNK, die auf Abhängigkeitsbeziehungen der Filialen von ihrer Mutterkorporation aufgebaut sind. Petroamerica könnte 11,5 Prozent der weltweiten Erdölförderung kontrollieren. Die Frage besteht darin, ob die Erdöl-TNK zulassen werden, dass ein so beträchtlicher Anteil des schwarzen und blauen Goldes durch einen staatlichen Sektor kontrolliert werden würde. Werden die Teilnehmer an diesem Projekt in der Lage sein, deren feindlichen Aktivitäten standzuhalten?

Neben Petrocaribe ist im Rahmen des Projekts Petroamerica eine trilaterale Vereinbarung zwischen der RBV, Argentinien und Brasilien zur Schaffung von Petrosur vorgesehen. Zur Jahreswende 2005-2006 wurde auf Initiative der RBV im Rahmen von Petrosur und des Projektes eines einheitlichen Energieringes aktiv die Frage nach der Schaffung der weltweit mächtigsten zwischenstaatlichen Großen Erdgastrasse des Südens (Gasur) diskutiert. Die Ausdehnung von Gasur soll etwa 9000 km betragen und sechs Länder umfassen, die Transportdurchlässigkeit zielt auf 150 Mio Kubikmeter und die Investitionen sollen 15-23 Mrd. Dollar betragen. Geplant ist als Termin der Inbetriebnahme das Jahr 2010. Eine der nicht unwichtigen sozialen Folgen des Projektes wird die Schaffung von etwa einer Million Arbeitsplätze sein.[13] Auf dem trilateralen Treffen zu Fragen von Gasur im März 2006 wurde der Beschluss gefasst, 9,2 Mio. $ für die Durchführung von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten bereitzustellen. Dem russischen Unternehmen Gasprom wurde ein Vorschlag zur Beteiligung unterbreitet.

Analoge Verhandlungen wurden im Rahmen des Projektes Petroandino geführt. Zwischen der RBV und Kolumbien wurde eine Vereinbarung über den Bau einer Erdgasleitung (240 km, 300 Mio.$, geplante Inbetriebnahme 2008 ) bei hundertprozentiger Beteiligung von venezolanischem Kapital erzielt, der ab Juli 2006 beginnen und später in Mittelamerika und den Andenländern weitergeführt werden soll. Allerdings könnte der Abschluss des Freihandelsabkommens zwischen Kolumbien und den USA vom März 2006 die Realisierung des Projekts erschweren.

Unter den Ländern der südlichen Halbkugel hat Argentinien die vielseitigsten Beziehungen zur RBV geknüpft. Das 2004 geschaffene staatliche Energieunternehmen Enarsa arbeitet aktiv mit der venezolanischen PDVSA zusammen. Das Spektrum gemeinsamer Projekte erstreckt sich von der militärischen bis hin zur kulturellen Sphäre. Begonnen wurde ein Technologie-Transfer beim Bau von Kriegsschiffen; geplant ist die Wiederaufnahme der Arbeit einer gemeinsamen Fabrik für Leichtautomaten.[14] Im August 2005 wurde eine Reihe von Vereinbarungen im Gesamtwert von 568 Mio.$ geschlossen, deren wichtigste der Vertrag über den Tausch von venezolanischem Erdöl gegen landwirtschaftliche Ausrüstungen aus Argentinien wurde (200 Mio. $).[15]

Nachdem die RBV im Dezember 2005 als gleichberechtigtes Mitglied im Block Mercosur aufgenommen wurde, lässt sich eine weitere Vertiefung der bilateralen Beziehungen erwarten.

Die soziale Dimension von ALBA

Der sozialen Ausrichtung von ALBA gebührt spezielle Aufmerksamkeit aufgrund ihrer besonderen Relevanz für das Projekt. Rechte Massenmedien in Lateinamerika bezeichnen das Regime von Hugo Chávez wegen der von ihm eingeleiteten Sozialprogramme sowohl im Inland, als auch im Ausland als populistisch. Populismus nennt man jedoch eine Politik, die auf die Befriedigung der Augenblicksinteressen und -forderungen der Massen gerichtet ist. Die Programme und Projekte der RBV im Bereich des Gesundheitswesen, der Bildung, der Beschäftigung und der Kultur dagegen kann man insofern nicht populistisch nennen, als sie auf die Entwicklung dessen zielen, was in der modernen Wirtschaftstheorie „der menschliche Faktor“ oder das „soziale Kapital“ genannt wird, diese können und müssen als wichtiger Wirtschaftsfaktor für die regionale Entwicklung angesehen werden. Das heißt, das „Soziale“ steht nicht einfach an letzter Stelle der Aufzählung hinter dem Politischen und Ökonomischen, sondern ist organisch sowohl in das Eine wie in das Andere eingebunden und spielt mitunter die Rolle eines Bedingungsfaktors. Genau dieses Prinzip liegt dem Projekt ALBA zugrunde, „in dessen Zentrum der Aufmerksamkeit der Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung steht.“[16]

Am intensivsten entwickelt sich die soziale Richtung auf der Basis des am 14. Dezember 2004 unterzeichneten Vertrages über ALBA zwischen der RBV und Kuba, real aber überschreitet sie diesen Rahmen, indem sie multinationalen Charakter annimmt.

Im Gesundheitswesen werden die folgenden Projekte verwirklicht, die auf die Entwicklung eines staatlichen Systems kostenloser und allgemein zugänglicher medizinischer Versorgung orientieren:

1) Die Mission „Im Wohnviertel“. Nach den Ergebnissen der Mission „Im Wohnviertel I“ zu urteilen, haben 30.000 kubanische Ärzte in der RBV vor allem in armen Wohnvierteln und schwer zugänglichen Bezirken 163 Mio. (!) ärztliche Untersuchungen durchgeführt, davon 14,8 Mio. zahnärztliche und 3,8 Mio. augenärztliche.[17] Dafür wurden 733 Beratungszentren geschaffen, gegenwärtig sind weitere 2.412 solcher Zentren im Bau. Innerhalb des Programmes „Im Wohnviertel II“, das im Juni 2005 gestartet wurde, ist die Ausbildung von 40.000 Ärzten und 5.000 Spezialisten für Hochtechnologien im medizinischen Bereich geplant.

2) Die medizinische „Wundermission“ (Misión Milagro) begann im Januar 2005; innerhalb von zehn Jahren soll das Sehvermögen von 6 Millionen Menschen in ganz Lateinamerika wiederhergestellt werden. Von dieser Zahl der Patienten werden allein 3 Millionen in der RBV operiert werden und eben so viele auf Kuba. Momentan haben bereits 115.452 Patienten aus der RBV, 7.488 aus den Ländern der Karibik. 9.925 aus Bolivien und 127 aus Guatemala an einer Heilbehandlung teilgenommen.

Im Bildungswesen gibt es:

1) Die „Misión Robinson I“, die auf die Überwindung des Analphabetismus zielt und für 1.406.000 Venezolaner die Möglichkeit schafft, Lesen und Schreiben zu erlernen. Mit Abschluss dieser Mission soll die RBV die nach Kuba zweite „von Analphabetismus freie Zone in Lateinamerika“ werden.[18] Im März 2006 reiste ein Gruppe venezolanischer Lehrer nach Bolivien und legte damit den Beginn für eine „Internationale Mission Robinson“.

2) Die „Mission Robinson II“, die sich zum Ziel gesetzt hat, 1.262.000 Venezolanern eine Grundschulbildung bis zur sechsten Klasse zu ermöglichen.

3) Die „Mission Ribas“, die auf eine Ausbildung bis zum Baccalaureat orientiert. Gegenwärtig haben 29.921 Menschen einen solchen Kurs bereits abgeschlossen und werden weitere 724.739 Menschen ausgebildet.

4) Die „Mission Sucre“, die die Universalisierung der Hochschulbildung zum Ziel hat.

In der Beschäftigungssphäre bildet das wichtigste Programm die „Misión Vuelvan Caras“, die mit der Absicht durchgeführt wird, Genossenschaften aufzubauen (seit März 2004 wurden 6.814 davon geschaffen) und damit 700.000 arbeitsfähigen Bürgern materielle und technische Hilfe bzw. Unterstützung bei der Bildung zu geben.[19] Am 21. März 2006 begann die „Internationale Misión Vuelvan Caras“: 127 Spezialisten reisten nach Brasilien, Kolumbien, Nicaragua, Kuba und in den Iran, um die venezolanischen Erfahrungen weiterzugeben.

Kulturpolitische Aspekte

In kultureller Hinsicht lassen sich zwei klare Projekte ausmachen, die auf den Erhalt der Eigenständigkeit der lateinamerikanischen Kultur gerichtet sind.

Das erste ist der Fernsehsender Telesur, der dazu eingerichtet wurde, um die Informationsunabhängigkeit der Länder der Region zu sichern. In Lateinamerika ist weniger als ein Drittel der TV-Kanäle lateinamerikanischen Ursprungs, von 70 Prozent der importierten Fernsehsendungen werden 62 Prozent durch Medienkonzerne nordamerikanischer Herkunft übertragen.[20] Im Zusammenhang damit stellt sich die Entwicklung „autochthoner“ Massenmedien als Informationsbedingung einer eigenständigen Entwicklung der Region heraus. Am 24. Mai 2005 nahm Telesur den Probebetrieb und am 24. Juli bereits einen vollwertigen Sendebetrieb auf.[21]

Telesur ist ein staatsübergreifendes Unternehmen, dessen Anteile vier Staaten halten: Die RBV ist mit 51 Prozent, Argentinien mit 20 Prozent, Kuba mit 19 Prozent und Uruguay mit 10 Prozent beteiligt.

Beim zweiten Projekt handelt es sich um die Kulturstiftung ALBA, die von der RBV und Kuba am 13. Februar 2006 bei der Eröffnung der 15. Internationalen Buchausstellung ins Leben gerufen wurde. Im Rahmen der Stiftung ist die Herausgabe von Kinofilmen, Dokumentarfilmen und Musik-CDs vorgesehen. Als venezolanisch-kubanisches Gemeinschaftsunternehmen wird der Verlag „ALBA“ geschaffen, um Bücher zur lateinamerikanischen Thematik und zwei Zeitschriften herauszugeben: eine, die politischen und kulturellen Problemen gewidmet ist und eine Kinderzeitschrift.

Ein komplexes Integrationsprojekt

Im Großen und Ganzen entsprechen die Prinzipien der Sozialpolitik, die von der RBV und Kuba im Rahmen der bilateralen Vereinbarung von ALBA verwirklicht werden, der „Gesellschaftscharta der Amerikas“.[22] Deren Idee wurde ursprünglich von Hugo Chávez im März 2001 entworfen, seit 2004 wird das Dokument von der OAS beraten. Indem es dazu berufen ist, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und ökologische Rechte der Bürger, darunter auch der Ureinwohner, zu garantieren, erweitert und ergänzt es die „Demokratische Charta amerikanischer Länder“, die von den USA entworfen, von der OAS im Jahre 2001 gebilligt wurde und hauptsächlich politische Rechte und Freiheiten verteidigt.

Das Projekt ALBA hebt die Bewegung zur lateinamerikanischen Einheit auf eine qualitativ neue Stufe, indem es einen komplexen Charakter der Integration voraussetzt, die alle Sphären der gesellschaftlichen Verhältnisse berührt – die politische und wirtschaftliche ebenso, wie die soziale und kulturelle. Alle diese Aspekte treten als Teile eines Ganzen auf. Das erlaubt es, dieses Projekt nicht nur als eines unter vielen anderen neben der CSN, Mercosur, Caricom u.a. zu beurteilen, sondern als etwas prinzipiell Neues.

Integrationspotential von kontinentaler Dimension besitzt auch die „Südamerikanische Union der Nationen“ (Comunidad Sudamericana de Naciones - CSN), die im Dezember 2004 gegründet wurde. Beide Projekte könnten einander ergänzen und bei erfolgreicher Entwicklung sogar im Rahmen eines einheitlichen Systems der regionalen Integration eine Synthese eingehen. Dafür müssten aber die Schwierigkeiten der Formierung der CSN bewältigt werden, die in nicht geringem Maße durch das gegenwärtige Kräftegleichgewicht zwischen den Anhängern eines gemäßigten Modells einer südamerikanischen Freihandelszone (Brasiliens Idee seit 1993) und der von der RBV favorisierten radikalen Variante von ALBA bedingt sind.[23]

Gegensätzliche Pole: ALBA und ALCA

Im kontinentalen Maßstab, also im Rahmen der westlichen Hemisphäre stellt ALBA eine radikale Opposition zum neoliberalen Projekt einer „Freihandelszone der beiden Amerikas“ (El Área de Libre Comercio de las Américas - ALCA) dar, das historisch die Entgegensetzung von Panamerikanismus und Lateinamerikanismus fortsetzt. Die Gegensätzlichkeit von ALCA und ALBA wird sogar an ihren Abkürzungen deutlich: „La alba“ bedeutet Sonnenaufgang, Morgenröte. Auf vielen Demonstrationen der Globalisierungskritiker kann man dagegen Wortspiele mit der Abkürzung ALCA beobachten: ALCApone, ALCApitalismo, ALCAeda, ALCArajo (die schicklichste Übersetzung von „carajo“ lautet Sumpf).

Sowohl ALCA als auch ALBA präsentieren sich als Integrationsprojekte. Doch drückt der Begriff „Integration“ im Rahmen von ALCA die extrem asymmetrische Wechselwirkung zwischen den Wirtschaften der beiden Amerikas aus, die zwar die vollständige Handlungsfreiheit für die transnationalen Konzerne und Banken nordamerikanischer Herkunft gewährleistet, ohne jedoch adäquate Garantien für die schwächeren Teilnehmer abzugeben. Das Projekt ALBA dagegen rechnet mit Ländern, die sich nach Stufe und Typ der Entwicklung näher stehen und setzt, wie oben gezeigt wurde, die Vertiefung der Integration über die für Lateinamerika traditionellen Grenzen hinaus voraus.

ALCA stellt eine der geopolitischen Hauptursachen für das Auftauchen des Projekts ALBA dar. Zum ersten Mal hatte Hugo Chávez die kategorische Ablehnung des Projektes ALCA durch die RBV auf dem III. Summit of the Americas (Cumbre de las Américas) im April 2001 im kanadischen Quebec zum Ausdruck gebracht. Bald darauf, im Dezember 2001, entwarf er auf dem 3. Treffen der Staats- und Regierungsoberhäupter der Assoziation Karibischer Staaten in Venezuela die Idee von ALBA. Das passierte während der erfolgreich verlaufenden Verhandlungen über ALCA, als bereits der Termin für dessen Unterzeichnung festgelegt war (der 1. Januar 2005), und als sich die Widersprüche zwischen den Blöcken, die im weiteren Verlauf zum Störfaktor werden sollten, noch nicht so scharf abgezeichnet hatten.[24]

Zur Zeit gibt es eine gewisse Balance, ein Kräftegleichgewicht zwischen ALCA und ALBA. Die Verhandlungen über ALCA haben in den beiden vergangenen Jahren zwei wesentliche Niederlagen erlitten: Es ist weder gelungen, die Vereinbarung zum geplanten Termin zu unterzeichnen, noch den Verhandlungsprozess auf dem IV. Summit of the Americas im November 2005 in Mar del Plata wiederzubeleben. Vor dem Hintergrund der zweifachen Niederlage von ALCA zeichneten sich erste konkrete Schritte bei der Realisierung des Projektes ALBA ab. Bisher hat sich jeder Misserfolg in den ALCA-Verhandlungen in einen Erfolg für ALBA verwandelt. Möglicherweise bildet sich jetzt eine Situation heraus, in der jeder Erfolg von ALBA eine Untergrabung des Potentials von ALCA bedeuten wird. Somit treten die Projekte ALBA und ALCA als zugleich miteinander zusammenhängende und sich ausschließende in Erscheinung.

In der Bewertung der Ereignisse neigen beide Seiten zur Übertreibung. So äußerte der Botschafter der USA in Venezuela in seinem Kommentar über das Abstimmungsverhältnis auf dem IV. Summit, bei dem sich 29 Länder für ALCA und 5 dagegen ausgesprochen hatten: „Für uns ist wichtig, dass ein annehmbarer Konsens zwar nicht aller, aber doch wenigstens der Mehrheit der Länder erreicht wurde.“[25] Dabei wird ignoriert, dass es eine Mehrheit nur quantitativer Art gab, nicht qualitativer. Der Ausgang des Treffens wurde de facto durch eine Minderheit bestimmt, zu der solche Giganten wie Brasilien und Argentinien gehörten.

Andererseits äußerte der Präsident von Venezuela als Hauptopponent von ALCA auf dem parallel zum Summit ausgerichteten III. Treffen der Völker Amerikas, dass ALCA gestorben und die Zeit für seine Beerdigung gekommen sei. Diese Äußerung, die durch sämtliche Massenmedien der westlichen Hemisphäre übertragen wurde, kann man tatsächlich populistisch nennen, insofern in ihr der Wunsch für die Realität ausgegeben wird. Diese Position wurde auf dem VII. Internationalen Kongress der Wirtschaftswissenschaftler zu Fragen der Globalisierung und Entwicklung im Februar 2006 in Havanna einer Kritik unterzogen, wo festgestellt wurde, dass ALCA nicht tot, sondern nur angeschlagen sei. Das ist eine etwas ausgewogenere Bewertung, da die USA gegenwärtig mehr oder weniger erfolgreich eine abgeschwächte Version von ALCA favorisieren (sozusagen ALCA-light), die Vereinbarungen über eine Freihandelszone zwischen den USA und einzelnen Ländern bzw. Ländergruppen vorsieht. Allein in der ersten Jahreshälfte 2006 schlossen die USA solche Vereinbarungen mit Kolumbien, Peru, Guatemala, der Dominikanischen Republik und Costa Rica ab.

Im globalen Maßstab, im Rahmen der offiziell durch die Regierung der RBV beschlossenen Konzeption einer multipolaren Welt[26], ist ALBA dazu berufen, die Rolle eines dieser Pole zu spielen und zum allgemeinen Gleichgewicht der Welt beizutragen (diese Idee geht schon auf Simón Bolivar zurück). Hugo Chávez unterscheidet fünf Pole: Afrika, Asien, Europa, Nordamerika und Südamerika. Eine globale Aufgabe sieht er darin, die Unipolarität der gegenwärtigen Welt mit den USA an der Spitze aufzuheben. Der Widerstand gegen das Projekt ALCA bildet einen Teil der weltweiten Strategie zur Erreichung einer multipolaren Welt.[27]

Wir denken, dass ALBA wie ALCA durch die gegenwärtigen Tendenzen des Globalisierungsprozesses hervorgerufen wurden. In wirtschaftlicher Hinsicht besteht der Kern des Prozesses[28] im quantitativen und qualitativen Wachstum transnationaler Subjekte der Weltwirtschaft (TNK und Banken), aber auch in der steigenden Macht internationaler Handels- und Finanzorganisationen, die deren Interessen gewährleisten (für die TNK ist das vor allem die WTO, für die Banken der IWF und die Weltbank). Die Tätigkeit dieses Institutionenkomplexes lässt sich als Transnationalisierung bezeichnen. Sie ist auf die Festigung der internationalen Macht der TNK und Banken gerichtet, ihr Mittel und Ergebnis aber stellt die Untergrabung der wirtschaftlichen Souveränität der Nationalstaaten, die Öffnung der staatlichen Wirtschaftsbeschränkungen, die Erosion des staatlichen Sektors der Volkswirtschaften und des zwischenstaatlichen der Weltwirtschaft. Eine solche Tendenz nennt man gewöhnlich Neoliberalismus oder neoliberale Globalisierung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat dieser Prozess der Transnationalisierung, der sich in den 1980er und 1990er Jahren stürmisch zu entfalten begann, vermutlich noch nicht sein Reifestadium erreicht.

Von ihrer qualitativen Seite her besteht seine Unreife darin, dass sich die Transnationalisierung zwangsläufig in einer Form realisiert, die ihrem eigenen Inhalt entgegensteht: Auf die Erosion des Staates gerichtet, verwirklicht sie sich in zwischenstaatlicher oder / und staatlicher Form. So stellen WTO und IFW zwischenstaatliche Strukturen dar. Im Projekt ALCA tritt die Transnationalisierung als wirtschaftliche Expansion von US-Monopolen in Lateinamerika zutage. Die in mehrfacher Hinsicht aggressive und asymmetrische Wirtschaftspolitik, deren Kern die Transnationalisierung bleibt, wird bestimmt durch die Spezifik der USA als Staat und widerspricht in gewisser Hinsicht den objektiven Prozessen der Transnationalisierung, deren Inhalt eher die Offenheit der USA als Staat entsprechen würde. In dieser Nichtentsprechung lässt sich eine der Ursachen für den Misserfolg der ALCA-Verhandlungen sehen.

Die Prozesse der Transnationalisierung sind unreif auch in quantitativer Hinsicht. Das kommt darin zum Ausdruck, dass transnationale Produktion und Finanzierung längst noch nicht vollständig die Weltwirtschaft erfasst haben. Führen wir nur einen Umstand als Beleg dafür ins Feld: Nach Angaben der Lateinamerikanischen Stiftung für Energieforschungen werden 41 Prozent des weltweiten Erdölaufkommens durch Staatskonzerne von 11 Ländern gefördert.[29] Daraus ist ersichtlich, dass in diesem strategisch wichtigen Sektor der Weltwirtschaft noch ein Gleichgewicht zwischen transnationalen und staatlichen Kräften besteht.

Man kann davon ausgehen, dass das Projekt ALBA, in dem der Erdölsektor eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle spielt, dieses Gleichgewicht der Kräfte zum Ausdruck bringt und eine Abwehrreaktion des staatlichen Sektors gegen den Angriff der transnationalen Institutionen darstellt. Diese Tendenz könnte man als staatlichen Regionalismus bezeichnen. Wie auch der Transnationalisierung ist ihm ein innerer Widerspruch inhärent: Um unter den gegenwärtigen Bedingungen effektiv zu sein, muss der staatliche Regionalismus aktiv im Rahmen der Tendenzen der Transnationalisierung handeln, die aber letztlich seinem Inhalt widersprechen. So arbeitet z.B. das venezolanische Unternehmen PDVSA aktiv mit transnationalen Erdölkonzernen zusammen, und das Grundprinzip der Wirtschaft der RBV brachte Hugo Chávez auf folgende Formel: „Soviel Staat wie nötig, soviel Markt, wie möglich“.[30]

Die Entgegensetzung von ALCA und ALBA bringt die globale Balance zwischen der Transnationalisierung und der zwischenstaatlichen Internationalisierung zum Ausdruck. In der westlichen Hemisphäre erhält der Konflikt der neuesten weltweiten Tendenzen eine besonders konzentrierte und reife Verkörperung, indem er eine über zweihundertjährige Geschichte des Gegensatzes zwischen Panamerikanismus und Lateinamerikanismus überlagert.

Übersetzung: Gudrun Havemann

[1] Vgl. http://www.analitica.com/bitblio/hchavez/programa.asp#equilibrio_mundial.

[2] Constitución de la Republica Bolivariana de Venezuela 1999. Conforme a la Gaceta Oficial № 5.453 de fecha 24 de marzo de 2000. Imprenta Nacional, S. 148-150.

[3] Ebenda, S. 147-148.

[4] Acuerdo de cooperación energética PETROCARIBE. http://www.mre.gov.ve/Petrocaribe 2005/acuerdo_final.htm.

[5] Ausführlicher dazu vgl. L.B. Nikolaeva, Erdöl und nationale Interessen, in: Latinskaja Amerika Nr. 12, 2005, S. 53 (russ.).

[6] Acuerdo de cooperación energética PETROCARIBE.

[7] PETRO-ALBA. Milos Alcalay. Martes, 12 de julio de 2005, vgl.: http://www.analitica . com/va/economia/opinion/9784360.asp

[8] Ausführlicher über die Position Venezuelas auf dem Weltmarkt für Erdöl nach Vorkommen, Fördermenge und Export vgl. L.B.Nikolaeva, a.a.O.

[9] La naturaleza historico-politica de la Alternativa Bolivariana para las Américas. Nayllivis N. Naim Soto. Vgl. http:/www.insumisos.com/Articulos/Alternativa%20Bolivariana%20para Prozent20las%20America.pdf.

[10] Gemeinsame Deklaration über die Schaffung von ALBA, die von der RBV und Kuba unterzeichnet worden ist. http://www.cuba.cu/gobierno/discursos/2004.

[11] Für die Bezeichnung dieses neuen Typs der Diversifizierung hat sich bisher in der Lateinamerikanistik noch kein fester Begriff etabliert (analog zum Begriff der „Importablösung“). Sollte sich der ALBA-Prozess weiterhin so rasant entfalten wie bisher, wird vermutlich ein neuer Begriff unumgänglich.

[12] Der Vorschlag zur Gründung von Petroamerica wurde erstmals im Juli 2002 von Hugo Chávez auf dem II. Gipfeltreffen der Staatsoberhäupter Südamerikas in Guayacile (Ecuador) geäußert.

[13] Die Angaben wurden entnommen den Mitteilungen von Agencia Bolivariana de las Noticias (ABN). Vgl www.abn.com.ve.

[14] ABN 14/12/2005 „Min.Defensa anunció viaje a Argentina para estudiar acuerdos militares“.

[15] Clarin 12.08.2005 ALIANZA DE INTEGRACION CON VENEZUELA.

[16] Die offizielle homepage des ALBA-Projektes ist zu finden unter www.alternativabolivariana.org Libro „Construyendo el ALBA „Nuestro Norte es el Sur“, „Capitulo II: Principios rectores del ALBA”, S. 36.

[17] ABN 05/02/2006 „Chávez: Barrio Adentro Consolida Sistema Unico Nacional de Salud“.

[18] Die Formulierung „von Analphabetismus freie Zone“ verweist offensichtlich auf die Gegenüberstellung der Sozialpolitik der RBV und Kubas mit der neoliberalen Außenwirtschaftspolitik der USA (aber nicht nur der USA), die auf den Abschluss von Verträgen über „Freihandelszonen“ orientiert ist.

[19] Ausführlicher über die sozialen Missionen der RBV und Kubas vgl: http://www. misionvenezuela.gov.ve

[20] El Informe Mundial para el Desarrollo de Naciones Unidas „Para los Estados Unidos la industria de exportación más grande es el entretenimiento:peliculas y programas de televisión“ Naciones Unidas, Human Development Report 1999, Globalization with a Human Face, Capitulo 1, pag.10, htpp://stone.undp.org/hdr/reports/global/1999/en/

[21] Der Sendestart von Telesur erfolgte zum 222.Geburtstag von Simón Bolivar.

[22] Der vollständige Text der Charta findet sich unter www.alternativabolivariana.org.

[23] Ausführlicher zu den Widersprüchen innerhalb der Südamerikanischen Union der Nationen vgl. A.A. Lavut, Die CSN – ein neuer ökonomisch-politischer Block, in: Latinskaja Amerika Nr.1 / 2006 (russ.).

[24] Ausführlicher zur Entwicklung der ALCA-Verhandlungen und ihren Ergebnissen bis 2001 vgl. A.N. Glinkin, Integrationsprozesse und Perspektiven der Schaffung von Freihandelszonen in der westlichen Hemisphäre, in: Latinskaja Amerika Nr.5 / 2001 (russ.).

[25] El Universal 20.03.2006. Entrevista / Emajador de Estados Unidos vende las bondades del ALCA „Somos el imperio ... de las ideas“.

[26] Am konsequentesten wurde die Konzeption einer multipolaren Welt von Hugo Chávez in seiner Rede am 12.-13. November 2004 „Die neue strategische Karte“ dargestellt, in der er allgemeine Fragen der bolivarianischen Revolution, der modernen Welt und der Zukunft Venezuelas behandelt. Vgl. die homepage von ALBA.

[27] Eine Kritik der Konzeption der multipolaren Welt würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.

[28] Wir abstrahieren hier von anderen Aspekten und betrachten den wirtschaftlichen als den grundlegendsten und reifsten Faktor.

[29] La Nación, 9 de febrero, 2006. Perjuicios que trae la propiedad estatal. Guillermo M. Yeatts presidente de la Fundación Atlas 1853 y de la Fundación Estudios Energéticos Latinoamericanos. http://independent.typepad.com/elindependent/2006/02/perjuicios_que.html

[30] Zit. nach E.S.Dabagjan, H. Chávez: ein politisches Porträt, Moskau 2005, S. 46 (russ.)