Kritik der neoliberalen Bildungspolitik

Schule im Kapitalismus: Anmerkungen zu Freerk Huisken und Hans-Peter Waldrich

Juni 2008

Die Schule „produziert“ mit schöner Regelmäßigkeit das, was man „funktionale Analphabeten“ nennt. Das sind Menschen, die zwar lesen und schreiben gelernt haben, die aber nicht in der Lage sind, den Sinn von Texten zu erfassen oder wiederzugeben. Legt man das Datenmaterial der letzten „PISA“-Studie zugrunde[1], handelt es sich dabei um mindestens 25% der getesteten Schüler. Da man nun daraus aber keinesfalls ableiten kann, dass die restlichen Dreiviertel Glanzleistungen in Sachen Textexegese vollbrächten, sondern, im Gegenteil, es der Fall ist, dass auf einen „guten“ Schüler in Deutschland so viele „schlechte“ kommen, wie in keinem anderen Land[2], spricht in der Tat wenig dafür, dies als ein Versehen der hiesigen Bildungspolitik zu werten. Folglich produziert Schule Halbgebildete entweder gewollt oder nimmt sie zumindest als „Abfallprodukt“ ihres Systems in Kauf.

Die grundlegende Argumentation dieser Schulkritik hat der bekannte Bildungskritiker und inzwischen emeritierte Bremer Hochschullehrer Freerk Huisken bereits 1998 in Erziehung im Kapitalismus aufgezeigt: Der erste Teil des Buches ist eine Generalabrechnung mit der Pädagogik[3], deren Sinn, folgt man Huisken, nur darin besteht, das Gewaltverhältnis, das zwischen Lehrern und Schülern an Schulen hergestellt wird, zu übertünchen. Dass es überhaupt ein Gewaltverhältnis ist, führt in der Tat jeden Lernprozess ad absurdum. Die Autorität eines Lehrers, die sich eigentlich darauf gründet, dass er etwas weiß und lehren kann, was ein anderer gerne lernen möchte, muss an Schulen tatsächlich unabhängig vom Fach immer wieder künstlich – salopp gesagt mit Zuckerbrot und Peitsche – hergestellt werden[4].

Dies ist so, weil die systemische Funktion eines Lehrers nicht das Vermitteln von Wissen ist. Wäre dies der Fall, würde der Lernprozess nicht einem Zeitplan unterworfen, der weder sich aus der zu lernenden Sache ableiten lässt, noch eine intensivere Beschäftigung als im „Lehrplan“ vorgesehen ermöglicht. Es würde das Lernen nicht scheinbar willkürlich abgebrochen, um qua Klassenarbeit in Notenform festzuhalten, wer was noch nicht verstanden hat, um dann sich dem nächsten „Stoff“ zuzuwenden. Tatsächlich aber ist dies genau der Job des Lehrers: Er soll benoten und damit den Nachwuchs vorsortieren für den Arbeitsmarkt. Das wissen natürlich auch die Schüler, die entsprechend sinnfrei gerade das mal auswendig lernen, was demnächst abgefragt wird, um es hinterher wieder zu vergessen.[5] Die Pädagogik hat nun, so Huisken, den Zweck, diesen sich täglich wiederholenden Wahnsinn theoretisch zu untermauern und den Zugriff des (kapitalistischen) Staates auf seine jüngsten Bürger als zu deren Wohl zu legitimieren.

Hier wäre zu prüfen, ob dieses Urteil pauschal für „die“, also alle, Pädagogik aufrechterhalten werden kann, oder ob es nicht Teile gibt – etwa solche, die sich der Arbeit mit Behinderten widmen – die keine Legitimationswissenschaft kapitalistischer Verwertungsinteressen sind.[6] Unabhängig davon hat der Kern der Kritik Bestand, woraus folgt, dass Theorien, die ein verkürztes „Lernen“ propagieren und als kindgerecht verkaufen werden, aufgrund von „G8“[7] sicherlich in naher Zukunft sehr en vogue sein werden.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit dem, womit sich die Schule befasst: Fächer, Lehrpläne, Noten, Lehrer und Schüler.[8] Die Kritik an der Notengebung – die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann – ist so schlüssig wie aktuell, die Kritik an den Lehrern so richtig wie inkonsequent und die Fächerkritik leidet teilweise darunter, dass Huisken seine richtige Kernthese – der Lehrplan soll kein Wissen vermitteln, sondern nur die bürgerliche Ideologie und verwertbare Praxis transportieren – auch da bestätigt sehen will, wo sie sich ausnahmsweise einmal nicht bestätigt. Auffallend ist dies natürlich in der Gesellschaftslehre, wo den Schülern immer noch die Lüge aufgetischt wird, der Kapitalismus (der natürlich so nicht genannt wird, denn das wäre nach der Ideologie der Lehrbuchschreiber ja Ideologie) produziere und verkaufe Waren, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Wo die Vokabel „Profitmaximierung“ nicht vorkommt, rangieren dann Klassengegensätze, etwa in Form des Kampfes zwischen Gewerkschaft und Betrieb, auf dem gleichen Level wie die Frage, ob in einer Beziehung die Frau sich durchsetzt und man abends einen Tierfilm schaut, oder der Mann, ergo „Sportschau“ geglotzt wird. Die „Lösung“ in beiden Fällen: Man muss halt „Kompromisse“ finden.[9] Die neuste Variante dieses Spielchens mag zwar noch keinen Einzug in die Lehrbücher gehalten haben, findet allerdings breite gesellschaftliche Akzeptanz: Gesellschaftliche Unterschiede werden einfach zu biologischen umdefiniert: Da werden dann Kriege nicht geführt, weil wirtschaftliche oder hegemoniale Interessen dahinter stehen, sondern weil Männer eben „aggressiv“ seien. Frauen, die wie etwa Condoleezza Rice, Verantwortung für Kriege tragen, werden einfach als „eher männlich“ deklariert, so dass dieser biologistische Unsinn sich nie an der Realität blamieren muss.

Um allerdings den Ethikunterricht in seine Argumentation zu zwängen, muss Huisken schon einige Verrenkungen vornehmen: So setzt er Kants Kategorischen Imperativ mit der Volksweisheit „Was du nicht willst, das man dir tu...“ gleich[10], was schlicht falsch ist, abstrahiert doch der Imperativ gerade vom Partikularinteresse. Ein Richter kann, auch wenn er selbst nicht im Gefängnis landen will, einen Mörder zu Gefängnis verurteilen, ohne dass dies im Widerspruch zum Kategorischen Imperativ stünde. Auch ausgerechnet Brecht anhand der „Fragen des lesenden Arbeiters“ vorzuwerfen, er würde imperialistische Kriege nicht kritisieren, sondern nur fordern, die Leistungen der Arbeiter darin anzuerkennen,[11] ist hanebüchen.

Festzuhalten bleibt allerdings: Nach Absolvierung der Schulzeit haben die jungen Staatsbürger „gelernt“, dass „die Natur“ und die kapitalistische Gesellschaft in eins fallen, jeder seines Glückes Schmied ist und Bescheidenheit eine Tugend. Wie weit dieser Indoktrinationsprozess im Einzelfall getrieben wird, hängt davon ab, ob man dem Schüler einen Platz in der späteren „Elite“ zutraut, oder ob es reicht ihn so weit zuzurichten, dass er später als kreuzbraver Angestellter sein Dasein fristet. Hauptschüler, die auf „Hartz IV“ und „Ein-Euro-Jobs“ vorbereitet werden, sollten zumindest die Formulare der „Arbeitsagentur“ ausfüllen können.

Durch die Notengebung und das damit verbundene „Sitzenbleiben“ werden gerade diejenigen Kinder vom weiteren Unterricht ausgeschlossen, die ein Mehr an Wissen nötig hätten.[12] Weiter kommt nun aber umgekehrt nicht unbedingt der, der mehr weiß oder kann, sondern der, der die Spielregeln der Schule beherrscht: Sagen, was der Lehrer hören will, Mitschüler ausstechen[13], „Schleimen“, um Noten feilschen, etcetera. Dass dabei alles Wissen auf einen abfragbaren, künstlich segmentierten Stoff verkürzt wird[14], ist bei Huisken ein absoluter Vorgang. Das bedeutet, dass der jeweilige individuelle Lehrer durch seine Funktion dieses System so oder so am Laufen hält, selbst wenn er mit dem Ideal in den Schuldienst gegangen ist, es „später besser machen zu wollen“ als er es vielleicht als Schüler erlebt hat. Da seine Funktion gerade ist, den Lehrplanstoff unter strengem Zeitdiktat den Schülern einzutrichtern, wird er, sobald er merkt, dass er genau dies tut und eben nicht Freude an Wissen und Erkenntnisprozessen fördert, unweigerlich zum Zyniker. Huisken zufolge hat er drei Möglichkeiten sich dieses „Versagen“ zu erklären: Er sucht die Schuld bei sich (mit dem Risiko der Depression), bei den Kindern (die folglich seine Feinde sind) oder bei den „Umständen“ – und kapituliert vor diesen, er resigniert.[15]

Führt man diesen Gedanken konsequent weiter, hat ein Mensch, dem ernsthaft etwas am Wohl von Kindern liegt, der also aus ihnen keine opportunistischen Egoisten machen will, im Schuldienst nichts verloren. Dies sieht Hans-Peter Waldrich anders. In seinem Buch „Der Markt, der Mensch, die Schule“ beschreibt er unabhängig von Huisken die Mechanismen des „Bulimielernens“ und die Reduktion von Wissen zu „Stoff“, gesteht dem Lehrer aber zu, dass er gegen die Schule zumindest einzelne Schüler zu kritischem Denken heranführen kann:[16] „Wenn also beispielsweise die von den PISA-Studien festgestellten Schwierigkeiten deutscher Schüler beim Sinnerschließen von Texten behoben werden sollen, so kann man diese Kompetenz an ganz verschiedenen Gegenständen üben: auf der Sekundarstufe II zum Beispiel an einer Rede Guido Westerwelles, an der Bibel, an Karl Marx und so weiter, denn die angestrebten ‚Kompetenzen’ sind im Prinzip in hohem Maße inhaltsneutral.“[17]

Folgendes Dilemma bleibt in jedem Fall bestehen: Dass die Schule so funktioniert wie sie funktioniert, liegt an ihrer gesellschaftlichen Funktion, ist also durch eine „Schulreform“ nicht aus der Welt zu schaffen, sondern nur durch Überwindung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Wenn allerdings die Kinder zwölf Jahre lang einem System überlassen werden, das die Unveränderlichkeit der herrschenden Verhältnisse in sie eintrichtert, ist von linker Seite die Chance vertan worden, zumindest zu versuchen, eine Gegenhegemonie aufzubauen. Solange aber dies nicht geschehen ist, also jeder 17-Jährige den gegenwärtigen neoliberalen Rollback für „normal“ hält, bleibt völlig unklar, von wem denn eine Veränderung der Gesellschaft herbeigeführt werden soll, die letztlich auch das von Huisken kritisierte Schulsystem überwindet. Dass Lehrer eine systemstabilisierende Funktion haben – allein schon dadurch, dass sie Beamte sind – ist richtig, greift aber zu kurz: Das gegenwärtige System hält (bzw. hielt) auch Huisken selbst durch seine Tätigkeit als Professor am Laufen, so wie, strenggenommen, jeder Bäcker oder Gärtner es tut.

So gesehen hat man als Linker nur zwei Optionen: Suizid, um das herrschende System nicht zu unterstützen[18], oder ein progressives Wirken in seinem Beruf, welcher auch immer es sei. Dass es Berufe gibt, die dafür weniger geeignet sind als andere – Vorstandschef der Deutschen Bank wäre so einer oder Ressortleiter „Politik“ in der FAZ – bleibt davon unberührt.

Seitdem Huisken Erziehung im Kapitalismus vorgelegt hat, sind zehn Jahre vergangen und in dieser Zeit ist zur strukturellen Gewalt an Schulen verstärkt auch direkt sichtbare getreten. In Über die Unregierbarkeit des Schulvolks – Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw. [19] bezieht Huisken diese in seine Argumentation mit ein.

Auch Hans-Peter Waldrich hat sich mit dieser Gewalt auseinandergesetzt: In blinder Wut. Warum junge Menschen Amok laufen heißt sein neustes Buch. Es wirkt schnell heruntergeschrieben. Waldrich konstatiert ernsthaft „eher so etwas wie die Abwesenheit von Motiven“[20] bei Amokläufern, postuliert, man müsse sich „das Innere der Schulamokläufer [...] eher als leer vorstellen“[21] – ohne zu sagen, woher er diesen Einblick haben möchte – um nur eine Seite später doch zugeben zu müssen: „Er [der Amokläufer – AS], begeht seine Taten vor allem aus Rache.“[22] Wenn allerdings Rache aufgrund verletzten „Selbstwertgefühls“ ein Motiv ist, ist ein Amoklauf ebenso wenig „sinnlose“ Gewalt wie singuläre. Das Erklären einer Gewalttat zu „sinnlos“ und „unfassbar“, wie es nach solchen Ereignissen von politisch-feuilletonistischer Seite eingespieltes Ritual ist, verhindert gerade eine Auseinandersetzung mit den Gründen, was der erste Schritt wäre, um eine solche Tat in Zukunft unwahrscheinlicher zu machen.

Huisken arbeitet genau heraus, wie die Gesellschaft – und mit ihr, in ihr, vor allem die Schule – genau jenen Selbstbewusstseins-Kult zelebriert, der dazu führt, die Wertigkeit des eigenen Lebens von äußerem Zuspruch abhängig zu machen. Wenn also das Selbstwertgefühl abhängt von Anerkennung in gewissen Kreisen, Statussymbolen oder guten Noten, ist der Grundstein dafür gelegt, ein Fehlen derselben als persönliche Kränkung zu interpretieren.[23]

Dass das Mittel der Gewalt gewählt wird, um diese Kränkung zu rächen, ist in einer Gesellschaft, die Gewalt einsetzt, um ihre Ziele zu erreichen, nicht überraschend, sondern folgt, ist es auch Wahnsinn, einer gewissen Methode. Es mutet schon grotesk an, wenn Politiker führender Parteien, die 1999 Serbien bombardiert haben, um einem Drogendealer zu einem eigenen Staat zu verhelfen, die jedes Jahr ihre Soldaten nach Afghanistan schicken, Passagierflugzeuge abschießen und die Folter wieder einführen wollen, behaupten, Gewalt dürfe „niemals“ eine Lösung sein.

Ist der Amoklauf eine extreme Form der Gewalt, die medial wahrgenommen wird, so sind Zustände wie an der „Rütli-Schule“ alltäglicher. Kann man nun, wenn ein Großteil der Arbeit der Lehrer darin besteht, überhaupt erst einmal gegen den Widerstand der Schüler eine Situation herzustellen, in der so etwas wie Unterricht erst möglich ist, davon sprechen, der „Jugend“ fehle es an „Respekt“? Wohl kaum. Gerade wer, um sich das Ansehen seiner Peergroup zu verdienen, Lehrer beschimpft und im Klassenzimmer randaliert, hat sehr wohl „Respekt“ – nur eben nicht vor der Staatsmacht in Form des Lehrers, sondern eher vor dem Anführer seiner Gruppe, wie Huisken argumentiert.[24] Das Wort „Respekt“ verlangt die Angabe, „wovor“ man Respekt hat oder haben soll, ist also linguistisch gesehen kein Sortal[25], auch wenn es in der Diskussion gerade von konservativer Seite so gebraucht wird. Hieran zeigt sich wieder einmal, dass Sprachkritik – will sie sich nicht in selbstverliebter Besserwisserei à la Bastian Sick erschöpfen – eben immer auch Ideologiekritik ist. Im Bereich der Schul- und Bildungspolitik ist es Aufgabe der Linken, diese Ideologiekritik offensiv zu betreiben, gerade weil der herrschende Diskurs ein anderer ist. Andernfalls überließe man das Feld denen, die am hiesigen Bildungssystem nur zu kritisieren haben, dass die „Ressource Wissen“ nicht optimal für den „Standort Deutschland“ ausgebeutet werde.

Literatur:

Huisken, Freerk. Über die Unregierbarkeit des Schulvolks – Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw. Hamburg 2007.

Huisken, Freerk. Der „Pisa-Schock” und seine Bewältigung. Wieviel Dummheit braucht/verträgt die Republik? Hamburg 2005.

Huisken, Freerk. Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten. Hamburg 1998.

Waldrich, Hans-Peter. Der Markt, der Mensch, die Schule. Köln 2007.

Waldrich, Hans-Peter. In blinder Wut. Warum junge Menschen Amok laufen. Köln 2007.

[1] cf. Huisken, Freerk. Der „Pisa-Schock” und seine Bewältigung. Wieviel Dummheit braucht/ verträgt die Republik? Hamburg 2005. S.12.

[2] a.a.O.

[3] Dieser Teil erschien zunächst als die inzwischen nicht mehr lieferbare Monographie Die Wissenschaft von der Erziehung.

[4] cf. Huisken, Freerk. Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten. Hamburg 1998. S.463f.

[5] Dieses so genannte „Bulimielernen“ hat mit der Einführung des „Bachelor“- und „Master“-Studiums inzwischen auch die Universitäten erreicht. Report Mainz porträtierte am 07.04.2008 Studenten, die eine Wochenarbeitszeit von 40-60 Stunden angaben – nur für das Studium, Erwerbsarbeit also nicht eingerechnet. Eine der Folgen dieser Verschulung der Universitäten sind entsprechend hohe Abbrecherquoten: 30% der „Bachelor“-Studenten insgesamt verlassen die Universität ohne Abschluss, bei den Fachhochschulen sind es gar 39%. (Zahlen nach Report Mainz, einsehbar auf www.reportmainz.de).Auch hier ist zu fragen, ob dies ein unerwünschter Nebeneffekt des „Bologna-Prozesses“ ist, oder nicht vielmehr dessen Absicht: Gegen diese These spräche, dass die Ingenieursberufe von dieser Abbrecherquote stark betroffen sind, was im Widerspruch steht zur medial dauerverbreiteten Klage „der Industrie“ über mangelnden gut ausgebildeten Nachwuchs. Für diese These spräche immerhin, dass junge Menschen, die ihre privaten Interessen sowie eigene Ansprüche an das Studium so weit hintangestellt haben, dass sie diese Unimaschinerie erfolgreich überstehen, so weit dressiert sind, dass sie auch dem späteren „Arbeitgeber“ gegenüber – etwa bei unbezahlten Überstunden – nicht aufmucken. Wer schon im Studium lieber auf den Urlaub verzichtete, um das Arbeitspensum zu schaffen, kommt vielleicht seltener auf die Idee, im Arbeitsleben anders zu handeln, genießt man doch als Angehöriger der „Elite“ das Privileg sein Geld zu verdienen, ohne dabei in der Raucherpause oder beim Pinkeln gefilmt zu werden.

[6] Bezeichnet man als Wissenschaft eine Disziplin, der es auf Erkenntnis ankommt, deren letzte Kriterien also „wahr“ und „falsch“ sind und nicht „nützlich“ und „unnütz“, spielt es für die Frage, ob etwas eine Wissenschaft ist, gar keine Rolle, für wen denn diese Nützlichkeit erbracht wird. Eine Disziplin, die nur untermauern soll, was „gut“ für den Staat ist, wäre genau so wenig eine Wissenschaft, wie eine, die nur fragt, was „gut“ für den Betrieb ist. Für die Pädagogik ist die Sache m.E. noch nicht entschieden, aber dass BWL an Universitäten nichts verloren hat, kann niemand ernsthaft bestreiten.

[7] „G8“ meint die Verkürzung der Gymnasialschulzeit um ein Jahr, so dass das Abitur bereits nach der 12. Klasse abgelegt wird.

[8] Auch dieser Teil war ursprünglich eine selbständige Publikation: Weder für die Schule noch fürs Leben.

[9] Huisken, Freerk. Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten. Hamburg 1998. S.306 passim.

[10] a. a O. S.263.

[11] a. a. O. S.331.

[12] Dies ist natürlich in erster Linie ein klassenspezifisches Problem. Arbeiter- oder Migrantenkinder, denen etwa die Lesesozialisation eines (muttersprachlich deutschen) Akademikerkindes fehlt, haben von Anfang an einen „Startnachteil“. Da die Schule nun alle Kinder gleich behandelt, an alle, etwa in Klassenarbeiten, die gleichen Anforderungen stellt, wird dieser Nachteil schulisch nie ausgeglichen, sondern mitgeschleppt. Daraus wird allerdings kein Wissensdefizit abgeleitet, das es zu beheben gälte, sondern ein „Begabungsdefizit“: Das Kind weiß nicht einfach weniger als andere Kinder seines Alters, sondern es hat keine Begabung, um mehr zu lernen, folglich auf dem Gymnasium nichts verloren. (a.a.O. S.131 ff.).

[13] Die Schüler wissen zu gut, dass ihre Note nur in Relation zu ihren Klassenkameraden etwas zählt („Wenn Stefan eine drei kriegt, hab’ ich mindestens ’ne zwei verdient!“), sie sich also in einer permanenten Konkurrenzsituation befinden. Ein solidarisches Miteinander ist nur dann gefragt, wenn der Lehrer gerade „Teamarbeit“ machen will; und wer andere in der Klassenarbeit aus Hilfsbereitschaft abschreiben läßt, wird nicht etwa für seine Hilfe belohnt, sondern mit einer Sechs bestraft.

[14] Außerschulisch findet der nämliche Vorgang in den unzähligen Quizshows statt, wo jemand etwas „weiß“, wenn er aus vier vorgegebenen Antworten die gewünschte auswählen kann

[15] a.a. O. S.411ff.

[16] Diese Position vertritt auch der Duisburger Pädagogikprofessor Armin Bernhard. Vergleiche dazu seinen Aufsatz „Subversives Lernen“ in: junge Welt 14.04.2008 S.10f.

[17] Waldrich, Hans-Peter. Der Markt, der Mensch, die Schule. Köln 2007. S.156. Huisken würde der Inhaltsneutralität widersprechen, aber das ist nicht der springende Punkt. Selbst eine Rede Guido Westerwelles könnte, bei aller sprachlichen Armut, eine Bereicherung sein, wenn der Lehrer anhand dieser seinen Schülern demonstriert, wie man neoliberale Propaganda argumentativ auseinandernimmt. So gesehen hat jedes Lernen einen subversiven Kern: Indem Schule den Schülern auch Lesen und Schreiben beibringt, gibt sie den Schülern eben auch die Möglichkeit, Texte kritisch und kritische Texte zu lesen.

[18] Selbstmord ist vermutlich nur eine Scheinlösung. Wer sich schuldig fühlt, weil er bei jedem Bissen, den er isst, an die denkt, die gerade verhungern, hat durch Selbstmord trotzdem niemanden vor dem Verhungern bewahrt, sondern, im Gegenteil, den Kräften, die darauf hinarbeiten, dass niemand mehr verhungern muss, einen Mitstreiter entzogen.

[19] Mit dem Amoklauf in Erfurt beschäftigte sich schon die Monographie z.B. Erfurt. Was das Bildungs- und Einbildungswesen so alles anrichtet, die nicht mehr neu aufgelegt wird, da ihre Thesen im Schulvolk-Buch weiterentwickelt werden.

[20] a.a.O. S.19.

[21] a.a.O. S.20.

[22] a.a.O. S.21.

[23] So gesehen funktioniert Deutschland sucht den Superstar wie die Schule: Eine schlechte Bewertung kritisiert nicht eine einzelne – revidierbare – Leistung, sondern wird zum Urteil über die gesamte Person. Führt diese Bewertung zum Ausschluss vom Rest des Wettbewerbs und wird dieser Ausschluss als Verletzung der eigenen „Ehre“ empfunden, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis irgendwann der Verlierer einer „Casting-Show“ den Entschluss fasst, seine „Ehre“ mit Waffengewalt wiederherzustellen. Henryk M. Broder hat also durchaus recht, wenn er, wie am 09.04.2008 in der Talkshow „Hart aber fair“ (ARD) geschehen, behauptet, dass solche Shows ein ideales Training für das Überleben in unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft seien. Vorzuwerfen ist ihm lediglich, dass er dies als Apologie ersterer und nicht als Kritik an beidem begreift.

[24] cf. Huisken; Freerk. Über die Unregierbarkeit des Schulvolks, Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten usw. Hamburg 2007. S.40ff.

[25] Sortale als „Allerweltsnomen“ (Zimmermann) bedürfen keiner unmittelbaren Ergänzung: Tisch, Stuhl, Bett. Im Gegensatz dazu stehen nichtsortale Nomen wie „Länge“ oder „Oberfläche“, die nur dann sinnvoll verwendet werden können, wenn eine Bezugsangabe direkt folgt oder im Kontext gegeben ist: Länge von etwas, Oberfläche von einem Gegenstand etcetera.