Editorial

September 2008

Während die Linke in Deutschland gegenwärtig eine Reihe parlamentarischer Erfolge zu verzeichnen hat, mussten sozialistische und kommunistische Parteien in anderen Ländern Europas in jüngster Zeit schwere Niederlagen hinnehmen. Das Scheitern von Rifondazione Comunista bei den italienischen Parlamentswahlen im April 2008 war nur die letzte einer Reihe von Wahlschlappen ehemals starker kommunistischer Parteien. Frankreich und Spanien sind weitere Beispiele. Die mit dem Epochenbruch 1989/90 ausgelöste Krise der sozialistischen und kommunistischen Linken wirkt bis heute, was sich auch an organisationspolitischen Veränderungen festmachen lässt. Dabei entstehen neue linke Gruppierungen, die zeitweilig, manchmal dauerhaft, Erfolg haben. Die Veränderungen im Parteienspektrum der Linken bilden den Schwerpunkt dieses Heftes.

In Italien scheint die Frage neuer Sammlungsbewegungen erledigt zu sein, sieht man sich das desaströse Ergebnis des linken Regenbogenbündnisses an. Jens Renner zeichnet den langen Weg der einst stärksten kommunistischen Partei Westeuropas nach, der auf der einen Seite in die Beliebigkeit der politischen Mitte und zur Preisgabe jedes linken Anspruchs führte, auf der anderen Seite mit Rifondazione Comunista eines der bemerkenswertesten Projekte kommunistischer Erneuerung hervorbrachte, das aber aktuell existentiell gefährdet ist. Die mit dem Sieg Sarkozys einhergehende hegemoniale Stellung der Rechten in Frankreich und die Auswirkungen auf die Linke von den Sozialisten bis zur PCF und Gruppierungen wie der Ligue Communiste Revolutionaire (LCR) stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Elisabeth Gauthier. Die Frage, ob eine antikapitalistische Sammlungsbewegung die Linke aus ihrer Krise herausführen kann und welche Inhalte mobilisierungsfähig sein könnten, steht auf der Tagesordnung.

Neue Gruppierungen und Sammlungsbewegungen auf der Linken sind auch Gegenstand der Beiträge von Julian Marioulas, Hermann Dworczak und Dominic Heilig, Autoren, die in den Auseinandersetzungen selbst stark engagiert sind und Position beziehen. Während Marioulas den traditionalistischen Politikansatz der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) und die linke Sammlungsbewegung Synaspismos (mit starker Sympathie für letztere) hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Bezugspunkte und Programmatiken untersucht, geht Dworczak von der Krise der SPÖ in Österreich aus, die inzwischen zum Bruch der großen Koalition und zur Ankündigung von Neuwahlen im September geführt hat. In dieser Krise der SPÖ hat sich auch in Österreich eine linke Sammlungsbewegung konstituiert, die – bei skeptischer Haltung der KPÖ – zu den Wahlen antreten will. Aus der Perspektive des Beitrags von Heilig sind die Erfolgsaussichten solcher Sammlungsprojekte zweifelhaft. Mit Bezug auf Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland wird die These vertreten, dass auch eine organisatorisch vereinigte Linke ohne die Erarbeitung eines gemeinsamen inhaltlichen Projektes („vereinte Linke“) keine dauerhafte Basis für linke Hegemonie sein kann. Als Beispiel für die Chancen und Probleme linkssozialistischer und kommunistischer Parteien in den ehemaligen sozialistischen Ländern behandelt Joachim Becker die Kommunistische Partei in Tschechien. Seiner Ansicht nach hat sie trotz der Erfolge bei der Abwehr neoliberaler Angriffe nur dann Zukunftsperspektiven, wenn sie sich dem Dialog mit sozialen Bewegungen öffnet und Bereitschaft zeigt, ihre Vergangenheit selbstkritisch aufzuarbeiten. Ingesamt zeigt der Schwerpunkt, wie stark die Prozesse der Orientierungsfindung der Linken in Europa im Fluss sind; ob die vorgestellten Analysen tragfähig sind, wird sich in der Zukunft erweisen müssen.

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Mit zwei unterschiedlichen Wendepunkten der europäischen Geschichte befassen sich Walter Schmidt und Lorenz Knorr. Schmidt schildert die Revolution von 1848/49 als gesamteuropäischen Prozess, bei dem Erfolge bzw. Niederlagen der Linken eines Landes Einfluss auf die Entwicklung in anderen Ländern hatten. Aus Anlaß des siebzigsten Jahrestags des Münchner Abkommens analysiert Knorr jene Faktoren, die 1938 zur Auslieferung der CSR an Nazi-Deutschland geführt hatten. Grund war vor allem der in Chamberlain verkörperte Antikommunismus der Westmächte, demzufolge Hitlerdeutschland gegenüber der Sowjetunion das kleinere Übel war.

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Beiträge zur marxistischen Diskussion über Demokratie und alternative Wirtschaftspolitik liefern die folgenden Aufsätze. Uwe-Jens Heuer macht auf Entwicklungstrends in der marxistischen Diskussion zum Verhältnis von Staatsgewalt und Recht aufmerksam (u. a. zum ‚Absterbens des Staates’) und diskutiert historische Fortschritte der rechtlichen Eingrenzung von staatlicher Gewalt (Rechtsstaat-Frage, Gewaltverbot in der Charta der Vereinten Nationen). Rechtsstaatlichkeit, so Heuer, sei ein unabdingbarer Faktor gesellschaftlichen Fortschritts, aber sie garantiere ihn nicht. Zur Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Keynes und Marx äußert sich Harry Nick, der linken Wirtschafts- und Sozialpolitikern empfiehlt, neben dem Keynesschen Gedanken einer antizyklischen staatlichen Konjunkturpolitik zugleich die sozial-ökonomischen und politischen Ursachen der sozialen Misere im Auge zu behalten und für direkte Einkommensverbesserungen der sozial Benachteiligten zu kämpfen. Dass die politische Regulierung von Preisen auch in marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystemen möglich ist, ebenso wie freie Preise in sozialistisch-etatistischen, zeigt der Beitrag von Joerg Roesler am Beispiel der Auseinandersetzungen um Preisgestaltung, Konsumgüterversorgung und Preistreiberei nach den 1948er Währungsreformen in Ost- und Westdeutschland. Die Tendenz, Sicherheitsaufgaben der öffentlichen Hand zu privatisieren, untersucht Florian Flörsheimer. Dabei macht er ein neues Sicherheitsdispositiv aus, das er im Kontext der Transformation vom Welfare- zum Workfare-Staat verortet. Der „schlanke Staat“ lagert zunehmend auch jene Bereiche aus, die sein Gewaltmonopol berühren, ohne dieses selbst aufzugeben.

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Zu den „weiteren Beiträgen“: Geschlechterbegriffe („Frau“, „Mann“, „Geschlecht“) sind keine rein natürlichen Kategorien, sie verändern ihren Bedeutungsgehalt in der Geschichte menschlicher Gesellschaften. Margarete Tjaden-Steinhauer unterscheidet verschiedene Deutungsansätze (patriarchaler, naturalistischer, sozialkonstruktivistischer Geschlechterbegriff) und verweist auf deren ideologische Funktion.

Zwei Autorinnen befassen sich mit internationalen Entwicklungen, die in der bürgerlichen Öffentlichkeit nur wenig (Nepal) bzw. einseitig aufgeladene (Südafrika) Aufmerksamkeit erhalten. Cornelia Schöler berichtet über die Lage im Himalaya-Staat Nepal und den Kampf der Kommunistischen Partei Nepals (Maoistisch), den sie als eine der erfolgreichsten revolutionären Bewegungen der jüngeren Geschichte bezeichnet. Schöler analysiert sowohl innen- wie außenpolitische Konstellationen – etwa die Rolle der Monarchie in einer in Kasten gespaltenen Gesellschaft und die Einflußnahme der USA und Indiens. Ebenso behandelt sie Widersprüche und Konflikte innerhalb der Maoistischen Partei. Auch in Südafrika vollziehen sich interessante Veränderungen. Im regierenden ANC wird ein Machtkampf zwischen dem gegenwärtigen Staatspräsidenten Mbeki und dem ANC-Vorsitzenden Zuma ausgetragen. Mit Zuma, der voraussichtlich Mbekis Nachfolger werden wird, verknüpfen viele Menschen die Hoffnung auf einen Linksruck. Simone Claar rekonstruiert die Konflikte vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Probleme in Südafrika – und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: „Business as usual“ sei auch unter einem Präsidenten Zuma wahrscheinlich.

Stoff für die Aufarbeitung geschichtlicher Erfahrungen liefern drei historisch orientierte Beiträge. Ulla Plener setzt sich mit der Behauptung auseinander, schon Lenin habe auf ‚Export’ des Sozialismus durch militärische Expansion gesetzt. Auf der Grundlage nachprüfbarer Quellen weist sie nach, dass Lenin früh Lehren aus Niederlagen der Roten Armee in Polen gezogen hatte und sich in der Folge gegen die so genannte ‚Offensivtheorie’ wandte. Die Thesen unseres 2004 verstorbenen Autors Hansgeorg Conert zum Scheitern des Sozialismus in der UdSSR befassen sich mit der Entwicklung der Sowjetgesellschaft in der Stalinära und danach. Auch wenn man Stalin vor allem moralisch und humanitär als Totengräber des sowjetischen Kommunismus ansehen könne, seien wesentliche Grundlagen für die Erosion des staatsozialistischen Regimes erst in der Ära nach Stalin gelegt worden. Im Gespräch mit Sabine Kebir berichtet Diether Dehm über ästhetische und theoretische Hintergründe seines Romans „Bella Ciao“. Gerade in einer Zeit der Erosion linker in Politik in Italien kann es interessant sein zurückzublicken in jene Zeit des antifaschistischen Partisanenkampfes, in der Dehms Roman spielt. Im Interview geht es um Politik, Geschichte, Literatur, Partisanen und die Liebe.

Berichte und Buchbesprechungen – Schwerpunkt ist diesmal Geschichte des Marxismus/Sozialismus im 19. und 20. Jahrhundert – beschließen das Heft.

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Z 76 (Dezember 2008) wird im Schwerpunkt die Krise der internationalen Agrarwirtschaft behandeln.