Crash am Finanzmarkt

Die Finanzmarktkrise und das neoliberale Akkumulationsmodell

Dezember 2008

Der Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 hat die seit August 2007 ‚schmorende’ Finanzmarktkrise in einer Weise zugespitzt, dass den Analytikern die Superlative auszugehen drohen. Obwohl im November 2008 nicht absehbar ist, ob die massiven und koordinierten staatlichen Interventionen – die Bank of England beziffert das Gesamtvolumen der staatlichen Hilfspakete auf 8.000 Milliarden US-Dollar[1] – ausreichen werden, um die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte wiederherzustellen[2], bleibt die Frage ungeklärt, wieso die Probleme eines vergleichsweise unbedeutenden Marktsegments solche Folgewirkungen haben konnten. Das Volumen des inkriminierten US-Marktes der ‚suboptimalen’ Wohnungsbauhypotheken wird auf etwa 8 Prozent der gesamten Hypothekenschulden von 10.000 Milliarden US$ geschätzt. Aber natürlich sind keineswegs alle Subprime-Hypotheken in Höhe von 800 Mrd. Dollar notleidend geworden, das tatsächliche Ausfallvolumen dieses Marktsegments dürfte weit darunter liegen. Trotzdem bezifferte der Internationale Währungsfonds (IWF) den Abschreibungsbedarf der Banken schon im Oktober 2008 auf insgesamt 1.400 Mrd., die globalen Verluste der Finanzunternehmen werden auf 2.800 Mrd. US$ geschätzt . Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) stellt in ihrem (vor der erneuten Zuspitzung abgeschlossenen) Jahresbericht 2008 die Frage: „Wie konnten Probleme mit suboptimalen Hypotheken, einem so unbedeutenden Teil der globalen Finanzmärkte, derartige Erschütterungen verursachen?“ (S. 3) Die BIZ ist der Ansicht, dass das Hypothekenproblem nicht die Ursache, sondern nur der Auslöser der aktuellen Krise war, d.h. mit dem Charakter der Krise selbst wenig zu tun hat – jedes andere Ereignis hätte diese ebenfalls auslösen können. Im Übrigen dürfte das völlige Unwissen der Beobachter und Akteure über die Zusammenhänge an den Finanzmärkten – was auch für die Experten der BIZ gilt – die Zuspitzung der Krise befördert haben. Noch bis vor kurzem war man überwiegend der Ansicht, dass es sich ‚nur’ um eine Liquiditätskrise handele, hervorgerufen durch eine Vertrauenskrise. So konzentrierte sich die Geldpolitik bis August 2008 auf Maßnahmen zur Bereitstellung zusätzlicher Liquidität. Heute setzt sich erst allmählich die Erkenntnis durch, dass viele Finanzinstitute nicht bloß Liquiditätsprobleme haben, weil die Banken – getrieben durch Vertrauensverluste – sich gegenseitig keine Kredite mehr geben, sondern dass viele von ihnen überschuldet, d.h. in technischem Sinne zahlungsunfähig sind. Wenn sich Banken gegenseitig misstrauen, ist dies also nicht Ausdruck irrationaler Ängste sondern basiert auf der begründeten Vermutung, dass viele von ihnen nicht in der Lage sein werden, die kurzfristig geliehenen Gelder zurückzuzahlen. Politisch heißt dies, dass staatliche Garantieerklärungen nicht ausreichen: Es werden in großem Umfang öffentliche Mittel benötigt, um die maroden Banken zu rekapitalisieren.

Fehlverhalten der Banken oder Systemkrise?

Wie es dazu kam, dass Zahlungsausfälle in einem vergleichsweise kleinen Marktsegment das Gesamtsystem derart erschütterten, kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Lucas Zeise schildert in seinem glänzend geschriebenen Buch[3], wie durch das wiederholte Auf- und Zuschnüren und den Weiterverkauf von Kreditpaketen schlechte zu guten Risiken deklariert und von den Rating-Agenturen mit AAA-Noten aufgewertet wurden. Im Ergebnis infizierten die wenigen wirklich ‚toxischen’, d.h. durch Zahlungsunfähigkeit der Schuldner bedrohten Verbindlichkeiten, das gesamte Kreditgebäude. Denn während die Finanzinnovationen der letzten Jahre die Risiken streuen, d.h. vermindern sollten, führten sie tatsächlich dazu, das Wissen über Kreditrisiken zu beseitigen. Beim Auftauchen erster Krisensignale versuchten die Finanzmarktakteure hektisch, sich von sämtlichen Wertpapieren zu trennen und stellten die Kreditvergabe ein. Die Preise vieler ‚assets’ sanken ins Bodenlose, die schmale Eigenkapitalbasis reichte nicht mehr aus, die Verluste zu decken. So wurde das gesamte System der internationalen Finanzmärkte funktionsunfähig.

Die massiven Staatsinterventionen zur Rettung der Banken werden begleitet von einer weltweit einmütigen Schuldzuweisung an die Banker: Deren grenzenlose Profitgier habe die Wirtschaft an den Rand des Abgrunds geführt. In Deutschland wird Josef Ackermann, der Chef der Deutschen Bank, zum Inbegriff des Bösen. Was früher als Ausfluss von ‚linken’ Neidkampagnen gegeißelt worden war – die Begrenzung von Managerbezügen – gilt heute als liberales Patentrezept. Damit wird von der Tatsache abgelenkt, dass es sich um eine Systemkrise handelt. Denn die Finanzmärkte sind nicht zusammengebrochen, weil die Akteure sich falsch verhalten, sondern weil sie alles ‚richtig’ gemacht haben. Die Suche nach Maximalrenditen, die Schaffung von innovativen Finanzprodukten und die Umgehung bzw. Auflösung von staatlichen Auflagen waren von der Politik aktiv geförderte Unternehmensstrategien im Wettbewerb der Standorte und Finanzplätze. Umgekehrt ist es heute für Banken rational, bei zusammenbrechenden Kreditketten die Vergabe von neuen Krediten einzustellen. Die Suche nach Sicherheit und Liquidität ist das einzelwirtschaftliche Gebot der Stunde – was eben deshalb gesamtwirtschaftlich in die Katastrophe führt. Das wollen die Anhänger der politisch ungebundenen Marktwirtschaft nicht zugeben: Dass es einen Systemkonflikt zwischen einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher Rationalität gibt, der nur über staatliche Regeln und Interventionen aufgelöst werden kann. Sicherlich ist Mitleid mit Ackermann und Co, dem „Buhmann der Nation“ (Börsenzeitung) fehl am Platze: Die moralisierende Verurteilung von angeblich besonders gierigen und schamlosen Bankern aber hat den einzigen Zweck, von den politisch gemachten Ursachen der Krise abzulenken.

Überakkumulation und Unterkonsumtion

Den Hintergrund der aktuellen Krise bildet ein neoliberales Akkumulationsmodell, das sich nach der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahren allmählich herausgebildet und global (in unterschiedlichem Ausmaß) durchgesetzt hatte. Obwohl es nach wie vor große Unterschiede zwischen den einzelnen kapitalistischen Ländern gibt, lassen sich doch gemeinsame Züge und Tendenzen herausarbeiten.[4] Auch wenn jetzt einzelne Auswüchse der Deregulierungswut gebrandmarkt werden, ist doch festzuhalten, dass die politisch Verantwortlichen bis heute daran arbeiten, soziale Schranken im Namen der Freiheit des Kapitals aufzuheben.

Dieses ‚Modell’ ist im Wesentlichen durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

· Ein lang anhaltender Prozess der Schwächung von Gewerkschaften und der Umverteilung zugunsten des Kapitals, in dessen Verlauf der Anteil der Arbeitseinkommen an der Wertschöpfung in den Industrieländern seit den 1980er Jahren von 70 auf 60 Prozent gesunken ist. Dies hat zu einer massiven Erhöhung der Kapitalrentabilität geführt.

· Während die Unternehmensprofite stark angestiegen sind, blieben die Investitionen in den Industrieländern niedrig. Schon 2007 hatte der IWF bemerkt, dass „die Unternehmensprofite auf einem historischen Hoch (sind), während die Unternehmensinvestitionen ungewöhnlich niedrig sind.“[5]

· Die überschüssigen Profite suchten und fanden neue, rentable Anlagesphären auf den Finanzmärkten. Die nach dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods erfolgte Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs, der Deregulierungswettlauf der nationalen Finanzplätze und die Zulassung immer neuer Finanzprodukte und ‚innovativer’ Anlagefonds, die keiner staatlichen Finanzaufsicht unterliegen, schufen Raum zur Aufnahme jenes überschüssigen Kapitals, das wegen der restriktiven Lohn-, Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik in der Produktion keine Anlagemöglichkeiten mehr fand.

· Im Ergebnis ‚verselbständigten’ sich die Finanzmärkte zeitweilig gegenüber der Produktionssphäre: 2007 standen einem Weltsozialprodukt von 50 Billionen US$ Finanzaktiva in Höhe von 500 Billionen gegenüber. Das Volumen der Finanzanlagen wuchs weit rascher als Produktion und Welthandel; statt Kapital dorthin zu lenken, wo Investitionsbedarf bestand, floss immer mehr Kapital ‚bergauf’, Überschüsse aufstrebender Entwicklungsländer finanzierten den öffentlichen (Rüstung) und privaten Konsum der USA.

Dies erklärt aber nicht, warum die Krise der Finanzmärkte ausgerechnet im Jahre 2007 zum Ausbruch kam. Denn Finanzkrisen hatte es auch zuvor in regelmäßigen Abständen gegeben, und jedes Mal war es gelungen, sie in den Griff zu bekommen. Man war daher bis 2007 der Ansicht, dass das Weltwirtschaftssystem in eine Phase besonderer Stabilität eingetreten sei; insbesondere die anhaltend niedrige Inflation galt als Indikator für die Gesundheit der Weltwirtschaft. Bis in die Gegenwart hinein wird die Tatsache, dass der Anstieg der Rohstoffpreise nicht durch höhere Löhne aufgefangen wurde, als Ausdruck der besonderen Stabilität des gegenwärtigen Kapitalismus gewertet.

Als Element einer Erklärung soll hier auf zwei Aspekte verwiesen werden:

· Der erste Aspekt hängt mit dem Finanzsystem selbst und seinen Institutionen zusammen. Die generelle Überschuldung und die – den Akteuren verborgene – allgemeine Verschlechterung der Kreditstandards hat sich über mehrere Wirtschaftszyklen hinweg angestaut. Das war solange unproblematisch, wie niedrige Zinsen und steigende Preise für Vermögensgegenstände und Wertpapiere Rückzahlung und erneute Verschuldung erleichterten. Steigende Aktienkurse, steigende Preise für Häuser, für Kunstgegenstände und Wein sind Elemente, die mit dem Prozess der Produktion und Konsumtion von Waren und Dienstleistungen positiv vermittelt sind. Probleme tauchten auf, als die Finanzmärkte zunehmend Rohstoffe und Vorprodukte als Anlagesphäre entdeckten. Der seit Anfang der 2000er Jahre zu registrierende Anstieg der Rohstoffpreise ist zwar in erster Linie Ausdruck von Verschiebungen in den Angebots-Nachfrageverhältnissen, d.h. von Verknappungserscheinungen auf der Angebotsseite einerseits und im Zuge nachholender Industrialisierung vieler Länder der bisherigen Peripherie steigender Nachfrage andererseits.[6] Der so begründete Aufwärtstrend aber lockte immer mehr spekulatives Kapital an; die Rohstoffmärkte wurden zum Tummelplatz für Finanzmarktakteure, die so den Aufwärtstrend der Rohstoffpreise beschleunigten. Es entstanden gewaltige rohstoffbasierte ‚Papiermärkte’, die mit den gehandelten Produktmengen nichts mehr zu tun hatten: So seien an einem einzigen Tag, dem 21. Juni 2008, Rohölverträge für 849 Mio. Fass offen gewesen, das Zehnfache der entsprechenden Tagesproduktion. Zwar interessieren sich die Finanzmarktakteure nicht für die physischen Produkte, bestimmten aber trotzdem die Preise, die von den ‚realen’ Verbrauchern bezahlt werden müssen. Sie trieben so die Produktionskosten hoch, beschränkten die Kaufkraft der Verbraucher und vergrößerten den Welthunger.[7] Ganz nebenbei trug der spekulativ angetriebene Anstieg der Rohstoffpreise auch zu folgenreichen Fehlentscheidungen insbesondere der europäischen Notenbanken bei, die in ihrem Inflationsbekämpfungswahn auch dann noch an hohen Zinsen festhielten, als die Liquiditäts- und Konjunkturprobleme bereits offen zu Tage lagen.

· Der zweite Aspekt ist die Verflechtung zwischen der Krise der Finanzmärkte und der Konjunktur. Die Wachstumsverlangsamung in den Industrieländern kommt nicht überraschend und ist auch nicht allein der Finanzmarktkrise geschuldet. Nach wie vor ist das kapitalistische Wachstum von konjunkturellen Faktoren geprägt, deren Grundlage der Investitionszyklus ist. In den letzten Jahrzehnten war es in den Jahren 1982, 1991/93 und 2001/03 zu konjunkturellen Einbrüchen gekommen, die unterschiedlich tief und lang waren. Die USA hatten dabei einen gewissen Vorlauf. Die für 2009 erwartete Abschwächung liegt also im ‚normalen’ Konjunkturtrend; sie ist mit der Finanzmarktkrise verflochten, aber nicht deren Folge. In gewissem Sinne war im Gegenteil die zyklische Wachstumsverlangsamung in den USA (beim Wohnungsbau) der Auslöser der Finanzmarktkrise: Die Stagnation der Häuserpreise war der Lufthauch, der das Kartenhaus der Subprime-Hypotheken zum Einsturz brachte. Dies zeigt ein Blick auf die Entwicklung der Investitionen: In den USA erlahmte die Investitionstätigkeit der Unternehmen bereits im Jahre 2006, während die private Nachfrage noch expandierte. 2007, als viele Beobachter, darunter der IWF, noch von einer robusten Konjunktur ausgingen, sanken in den USA schon die Investitionen. Das gilt auch für Japan, während Europa 2006 noch eine vergleichsweise kräftige Investitionsdynamik verzeichnete. Das Zusammenfallen der Finanzmarktkrise mit konjunkturellen Abschwächungserscheinungen dürfte zumindest teilweise die besondere Tiefe der gegenwärtigen Finanzmarktkrise erklären.

Finanzmärkte als Teil der Realwirtschaft

Die sich abzeichnende konjunkturelle Abkühlung in den Industrieländern hat also zunächst wenig mit der Finanzmarktkrise zu tun. Trotzdem ist damit zu rechnen, dass sich konjunkturelle Abschwächung und Finanzmarktkrise gegenseitig verstärken. Dabei ist die heute übliche Unterscheidung zwischen „Realwirtschaft“ („real economy“) einerseits und Finanzmärkten („global financial system“) andererseits wenig hilfreich, auch wenn sie richtig auf die oben dargestellte Disproportionalität zwischen Finanzoperationen und Güterproduktion verweist. Die Finanzmärkte sind nicht weniger „real“ als die Gütermärkte, sie sind Teil eines einzigen ökonomischen Prozesses. Dies aus mehreren Gründen:

· Die Einrichtungen der Finanzwirtschaft und ihre Beschäftigten sind so real wie produzierende Betriebe. Die Leistungen des Finanzsektors werden in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen bewertet (Anteil: 5 bis 8 Prozent), in den Industrieländern arbeiten zwischen 3 und 5 Prozent der Beschäftigten bei Banken und Versicherungen.[8]

· Die Masse des Geldes, d.h. des Mediums, das in einer arbeitsteiligen Wirtschaft den Austausch von Waren und Dienstleistungen vermittelt, besitzt die Form von durch Einrichtungen der Finanzmärkte generiertem Buchgeld. Banken und andere Kapitalsammelstellen sind eben nicht Unternehmen wie andere, was durch die hektischen Aktivitäten der letzten Monate zur Stabilisierung des Bankensektors eindrucksvoll bestätigt wird. Produktion ist aber in einer arbeitsteiligen Wirtschaft ohne geld- und kreditvermittelten Austausch nicht denkbar.

· Ein relevanter Teil der ‚realen’ Produktions- und Austauschprozesse wird nach wie vor durch Investitions- und Handelskredite finanziert, auch wenn viele vor allem große Unternehmen inzwischen über so hohe Profite verfügen, dass sie kaum noch auf Kredite angewiesen sind. Die Tatsache, dass der größte Teil der Kredite heute der Finanzierung von reinen Finanzoperationen dient, ändert nichts daran, dass der Zusammenhang zur Güterwirtschaft weiter besteht. Dass dieser Zusammenhang den Akteuren der Finanzmärkte unbekannt ist, ist Teil des Problems.

Finanzmarktkrise und Rezession

Die Unterscheidung zwischen Finanz- und Realwirtschaft suggeriert, dass Maßnahmen zur Lösung der Finanzkrise sich auf die Sphäre der Geldpolitik und der Finanzmärkte beschränken könnten. Tatsächlich aber ist die aktuelle Finanzkrise das Ergebnis von über mehrere Wirtschaftszyklen hinweg angestauten Widersprüchen innerhalb der Produktionssphäre. Trotzdem ist die Frage berechtigt, in welchem Umfang die Auswirkungen der Finanzkrise weltweit auf Produktion und Beschäftigung durchschlagen werden. Bislang wird immer noch mit einer nur schwach ausgeprägten Rezession in den Industrieländern gerechnet, die jüngste Prognose des IWF geht davon aus, dass sich das Wachstum in den entwickelten Industrieländern nur auf immer noch 0,5 Prozent abschwächen wird, während die Dynamik der Entwicklungs- und Transformationsländer nur wenig nachlässt. Dieser Widerspruch zwischen dem Katastrophenszenario der Finanzmärkte einerseits und einem gemäßigten Konjunkturoptimismus andererseits stützt sich auf zwei Erscheinungen:

· Die privaten Unternehmen verfügen über eine außerordentlich hohe Eigenfinanzierungsquote; die Beschränkung und Verteuerung von Krediten trifft sie daher nur wenig.

· Die Weltwirtschaft wird getrieben von der nachholenden Industrialisierung großer Transformations- und Entwicklungsländer. Deren Wachstum hängt zwar auch mit Exporten insbesondere in die USA zusammen, so dass eine US-Rezession sich negativ auswirkt. Wichtiger aber als der Exportsog sind die hohen Investitionen (China verzeichnet Investitionsquoten bis zu 40 Prozent).

Obwohl die konjunkturelle Verlangsamung bzw. eine tiefere und längere Rezession in den Industrieländern die Schwellenländer nicht unberührt lassen wird, ist doch festzuhalten, dass China, Indien und einige andere asiatische und lateinamerikanische Staaten inzwischen über große endogene Wachstumspotenziale verfügen, die Einfluss auf die gesamte Weltwirtschaft haben. Die Finanzmarktkrise und die jetzt schon absehbaren Strukturveränderungen der globalen Finanzmärkte (Zentralisation des Bankkapitals, wachsende Rolle der asiatischen Finanzakteure, Machtverlust der Wall Street) vollziehen sich in einem ökonomischen Umfeld, das durch die rasche nachholende Industrialisierung von Teilen der ehemaligen Peripherie geprägt ist.

Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, dass die sich abzeichnende Konjunkturkrise länger und tiefer werden könnte als bislang angenommen. Dies könnte – vor dem Hintergrund der Finanzmarktkrise – dann passieren, wenn die Devisenmärkte voll erfasst würden. Zwar konnte der Block der Entwicklungsländer – dieser ist heute absurderweise Nettokapitalexporteur – in den letzten Jahren ansehnliche Devisenüberschüsse anhäufen; das gilt aber nur für 42 der 113 Entwicklungsländer. Die übrigen sind nach wie vor Defizitländer und auf Auslandskredite angewiesen: Dazu gehören fast alle afrikanischen Länder, die keine Erdölexporteure sind. Dazu gehören die osteuropäischen Transformationsländer und die meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Auch einige asiatische Länder wie Vietnam und Kambodscha haben große und chronische Leistungsbilanzdefizite, ähnlich wie einige lateinamerikanische Staaten. Diese meist extrem armen Länder würden unter einer weltweiten Kreditverknappung am meisten leiden: Selbst wenn die Kreditmärkte nicht völlig austrocknen, würden die armen Entwicklungsländer im Zuge steigender Risikoprämien explodierende Refinanzierungskosten zu tragen haben. Außerdem würde eine erneute Periode heftig schwankender Wechselkurse negative Auswirkungen auf den Welthandel haben, der bisher noch durch den Importsog der Entwicklungsländer gestützt wird. Dass dieses Szenario sehr rasch Realität werden könnte zeigen die Ende Oktober bekannt gewordenen Hilferufe von Ländern wie Pakistan, Argentinien, Ukraine, Weißrussland und Ungarn an den IWF. Der IWF, der in den letzten Jahren stark an Bedeutung verloren hatte, erlebt eine unerwartete Renaissance. Dies sollte jene Keynesianer nachdenklich stimmen, die sich über die Rückbesinnung der Regierungen auf die Tugenden staatlicher Regulierung freuen und – möglicherweise verfrüht – die ideologische Niederlage der Marktradikalen erklären. So sind die Maßnahmen zur Stützung der Banken und Versicherungen, einschließlich deren ‚Teilverstaatlichung’, vor allem Garantien des privaten Eigentums. Dass Regierungen öffentliche Mittel einsetzen um privates Eigentum zu schützen, ist mit dem neoliberalen Akkumulationsmodell völlig konform.

[1] Dazu gehören bereits ausbezahlte 1.000 Mrd. US$ in den USA, weitere 1.000 Mrd. sind in Aussicht gestellt. Das europäische ‚Paket’ hat ein Volumen von rund 2.000 Mrd. EUR.

[2] Neue Risiken tauchen auf: Die spekulativ übersteigerte Umkehr der Rohstoffpreise, sich abzeichnende Krisen auf den Devisenmärkten, die Gefährdung internationaler Finanzströme in chronische Defizitländer (außer den USA).

[3] Lucas Zeise, Ende der Party. Die Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft, Köln 2008.

[4] Vgl. z.B. Joachim Bischoff, Globale Finanzkrise, Hamburg 2008.

[5] World Economic Outlook, April 2007, S. 6

[6] Vgl. die Analysen in Z 71, September 2007 („Energie, Rohstoffhunger, Geostrategie“).

[7] Siehe die Beiträge zum Schwerpunkt des vorliegenden Heftes.

[8] Deutschland am Rande einer Rezession. Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2008, S. 11.