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Hegemonie- und Europapolitik der türkischen AKP

Juni 2009

Am 30. Juli 2008 gab das oberste Gericht der Türkei sein Urteil im Verbotsverfahren gegen die regierende AKP bekannt – die Partei bleibt legal. Die 16 Monate währenden Auseinandersetzungen um die Existenz der islamisch-konservativen Regierung waren damit vorerst beendet und die europäischen Eliten feierten das Urteil als einen „Sieg der Vernunft“ (FAZ, 01.08.2008). Die ursprünglich in der islamistischen Bewegung wurzelnde AKP, war in der überwiegenden Wahrnehmung europäischer bürgerlicher Medien zur Garantin von Reform und Fortschritt avanciert. Ihre politischen Gegner galten dem Journalisten Michael Thuman als Kemalisten, die ihre „Seidentücher bei den Galeries Lafayette in Paris [kaufen A.G.], eine Renault-Limousine [fahren A.G.], nicht in die Moschee [gehen A.G.], sondern in die Oper oder ins Atatürk Kulturzentrum, wo auf der Bühne nackte Beine zu Jaques Offenbachs Melodien geschwungen und in der Pause Sektgläser gereicht werden.“ (Die Zeit, 24.07.2008). Am 15. Mai 2008 war Michael Thumann ganz den sinnlichen Reizen der zentralanatolischen Bekleidungsindustrie erlegen und schwärmte von Männern an Nähmaschinen, die höflich ihre Chefin grüßen. Dort, in der Steppe, machte er das Aufkeimen eines „anatolischen Calvinismus“ aus, in welchem der Islam und der fleißige gläubige Mittelstand Motoren der Modernisierung und Verbündete der EU seien.

In die neue islamische Bourgeoisie und einen sich formierenden Mittelstand werden offenkundig große Erwartungen gesetzt, ihnen soll es obliegen, den Beitrittsprozess zur EU zu gestalten. Die Frage, wie Reichtum und Macht der neuen Bourgeoisie entstehen, überfordert letztlich unseren Zeit-Journalisten. Im Folgenden der Versuch einer Antwort:

1. Historischer Abriss:
Ökonomie und Hegemonie im Kemalismus

Eine türkische Bourgeoisie hatte sich erst im Verlauf des Ersten Weltkriegs in Folge der Kriegswirtschaft und der Vertreibung der griechischen und armenischen Minderheiten aus dem Osmanischen Reich gebildet. Nach dem Unabhängigkeitskrieg (1919-1922), in welchem die neue Eigentumsstruktur gegen die Intervention der Entente-Mächte und vor allem griechische Truppen verteidigt wurde, stellte sich die türkische Bourgeoisie sehr bald als zu schwach für ein ausschließlich privatkapitalistisches Akkumulationsmodell heraus. In den 1930er Jahren beschritt die noch junge türkische Republik im Interesse ihrer Bourgeoisie und zur Verteidigung ihrer Souveränität einen etatistischen Entwicklungspfad.[1] Die damals praktizierte indirekte Revolutionierung der Produktivkräfte – im Sinne einer passiven Revolution – überliefert die offizielle türkische Geschichtsschreibung als die Reformen Atatürks. Die Errichtung großer Produktionseinheiten und der Ausbau des Bildungswesens schufen erstmals eine technisch-administrative Mittelschicht, die zusammen mit der türkischen Bourgeoisie den Kern des kemalistischen Blocks bildete. Die Etablierung des fordistischen Lebensstils, der stets zum impliziten Ziel kemalistischer Politik gehört hatte, beschränkte sich in der Realität fast ausschließlich auf die Angehörigen des kemalistischen Blocks in den urbanen Zentren, während bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, vor allem im ländlichen Raum, präfordistische und sogar vorkapitalistische Lebensweisen weiterhin dominant blieben.

Die Herrschaft des kemalistischen Blocks blieb brüchig und wurde daher durch ein hohes Maß an Zwang abgesichert. Bereits in den 1940er Jahren wuchsen im ländlichen Raum die Widerstände der Großagrarier, gegen die von der kemalistischen Einheitspartei CHP geplante Bodenreform. Im Zuge einer immer engeren Einbindung in das westliche Blocksystem sah sich die türkische Regierung gezwungen auch konkurrierende Parteien zuzulassen. 1950 gewann die DP (Demokrat Parti) die Parlamentswahlen und verfolgte im Interesse der Großagrarier einen liberalkapitalistischen Kurs. In Folge einer schweren Wirtschaftskrise und massivem städtischem Pauperismus, der aus der anhaltenden Landflucht resultierte, setzte 1960 ein Putsch linksgerichteter Offiziere der DP-Regierung ein Ende und leitete den Übergang vom liberalen Agrarkapitalismus zur Politik der importsubstituierenden Industrialisierung ein (vgl. Ahmad, 1977, S. 270/271). Bis in die 1970er Jahre gelang es so, den Ausstoß der türkischen Industrie massiv zu steigern und der türkische Staat blieb ein mächtiger Akteur in der Wirtschaftsplanung. Mit dem Wachstum der industriellen Produktion wuchs die Abhängigkeit vom Import hochwertiger Vorprodukte, die die Leistungsbilanz der türkischen Ökonomie belasteten (vgl. Ceylan, 1985, 235). Ähnlich wie die Ökonomien vieler anderer Schwellenländer konnte auch die türkische am Ende der siebziger Jahre im Zuge des Volcker-Schocks ihre auswärtigen Kredite nicht mehr bedienen. Um an neue Kredite zu gelangen, kooperierte die Regierung mit der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und großen Gläubigerstaaten. Dabei öffnete sie sich über die Implementierung der so genannten Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogramme, den Imperativen der neoliberalen Angebotsökonomie. Diese verlangten von der türkischen Großindustrie sich durch die Steigerung ihrer Exporte selbst aus ihrer Krise zu befreien. Diese Strategie setzte die Fähigkeit zu billigen Exporten und damit die massive Absenkung des Lebensstandards der Lohnarbeitenden voraus. Gesellschaftliche Widerstände gegen diese Politik wurden durch den Militärputsch von 1980 gewaltsam gebrochen. Nach dem formellen Übergang zu einem parlamentarischen Regime, behielt die regierende Mutterlandspartei ANAP diesen Kurs unter ihrem Vorsitzenden und Premierminister Turgut Özal bei.

2. Produktions- und Reproduktionsverhältnisse
in den türkischen Klein- und Mittelindustrien

Von der Politik der Exportstimulation war zunächst primär ein rasches Wachstum der großindustriellen Produktion erwartet worden. Während dieses in den achtziger Jahren eher schleppend verlief, wuchsen die Exporte der Klein- und Mittelindustrien stärker als erwartet. Durch technische Fortschritte in Kommunikation und Transportwesen war es seit den siebziger Jahren zunehmend möglich geworden, bislang zentralisierte Produktionsvorgänge zu fragmentieren und zu flexibilisieren; was sowohl die Verkleinerung der industriellen Produktionseinheiten als auch die Dequalifikation der Lohnarbeit ermöglicht hat (vgl. Aydın, 2005, S. 211-212). Diese strukturellen Veränderungen haben die Auslagerung zahlreicher Produktionsprozesse in die Staaten der Semiperipherie begünstigt und so die globale Arbeitsteilung nachhaltig beeinflusst. Dabei profitieren die kleineren und mittleren Betriebe – oft als Zulieferer transnationaler (Handels-) Konzerne – von einem relativ einfachen Zugang zum globalen Markt und kombinieren diesen mit einem auf ‚billige‘, gewerkschaftlich nicht organisierte Landflüchtige mit geringer Qualifikation. Diese leben zumeist in den informellen Siedlungen (gecekondus) an den Peripherien der türkischen Großstädte oder in den Provinzstädten Anatoliens.[2] Die industriellen Beziehungen sind dabei in der Regel schwach institutionalisiert und durch lokale Bindungen und direkte, zuweilen feudal anmutende Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber dem Unternehmer geprägt (vgl. Yavuz, 2003, S. 88). Informelle Arbeitsverhältnisse in Kleinbetrieben und Heimarbeit sind dabei oft typischer als klassische (fordistische) Fabrikarbeit. Die in den gecekondus vorherrschende Prekarität und Armut sowie die unzulängliche staatliche soziale Sicherung, werden, wenn auch auf geringen materiellen Niveau, durch Solidaritätsnetzwerke kompensiert. Nachbarschaftliche Identität (hemşerilik)[3], resultierend aus der gemeinsamen Erfahrung der Landflucht (vgl. Yavuz, 2003, S. 84) und die verbreitete Religiösität stabilisieren die Netzwerke, indem sie deren einseitige Ausnutzung durch Einzelmitglieder moralisch sanktionieren. Auf diese Weise stabilisieren wesentliche Elemente des Wertesystems der anatolischen Peripherie, obgleich oft präfordistischen oder gar vorkapitalistischen Ursprungs, die Produktions- wie auch die Reproduktionsdisziplin. Damit leisten die sozio-ökonomischen Verhältnisse in den gecekondus auch einen wichtigen Beitrag zur Reproduktion des patriarchalen Geschlechterregimes. Die erweiterte Familie genießt weiterhin eine hohe ideologische Wertschätzung und die Ehe wird als die zentrale Institution angesehen, die die Volljährigen zu Erwachsenen, zu Mitgliedern der Gesellschaft macht. ‚Mütterlichkeit‘ wird mit den stereotypen Konnotationen des Umsorgens, des sich Kümmerns und des Pflegens idealisiert (vgl. Dedeoğlu, 2002, S. 213). Dem Muster der alten feudal-argraischen Produktionsweise folgend, gilt weibliche Heimarbeit oder Arbeit im Familienbetrieb als „erweiterte Reproduktionsarbeit“ und kann so mit dem Paradigma des Familienernährers vereinbart werden. In arbeitsintensiven Bereichen von Industrieproduktion und Landwirtschaft sind gar Tendenzen einer Feminisierung zu verzeichnen. Während die Beteiligung von Frauen am offiziellen Erwerbsleben sinkt, hat für Familien mit niedrigen Einkommen der monetäre Beitrag weiblicher Arbeitskraft stetig an Bedeutung gewonnen (vgl. Dedeoğlu, 2002, S. 217/218). Obwohl die herrschenden Normen sich offenkundig nicht spannungsfrei mit der sozialen Realität decken, werden Versuche des Ausbruchs aus der patriarchalen Norm sanktioniert, bis hin zur gesellschaftlichen Exklusion.

Die erfolgreichsten Fraktionen der neuen Bourgeoisie haben sich in der 1990 gegründeten MÜSİAD Müstakil Sanayici ve İşadamları Derneği (dt. Vereinigung der unabhängigen Industriellen und Geschäftsleute) organisiert, die sich heute mit 2.000 Unternehmen und 26 regionalen Büros als zweitgrößten Unternehmensverband der Türkei bezeichnet (vgl. MÜSİAD, 2008). Ein durchschnittliches MÜSİAD-Unternehmen beschäftigt ca. 30 Menschen. Bis zur Asienkrise von 1997 trat sie massiv für die Adaption eines als ostasiatisch bezeichneten Entwicklungsmodells durch die Türkei ein. Dieses sollte den „nicht westlichen kulturellen Identitäten“ in der Türkei Rechnung tragen (vgl. Burğa, 1998, S. 531) und propagierte den Aufstieg einer „Informationsgesellschaft“, deren wesentlichstes Merkmal die steigende Relevanz der Charakteristika vorindustrieller, agrarischer Gesellschaften sei, während hingegen die absteigende Industriegesellschaft von großen kapitalintensiven Unternehmen, Sozialstaat, Positivismus und Rationalismus geprägt gewesen sei (vgl. Burğa, 1998, S. 531). Darüber hinaus interpretiert die MÜSİAD bis heute den Islam komplementär zum Klasseninteresse ihrer Mitglieder und propagiert eine „protestantisch-islamische Ethik“ (vgl. Yavuz, 2003, S. 95). Für jene Individuen, die als Lohnarbeitende oder unternehmerisch am Markt nicht bestehen können, sollen ethnische, religiöse und ländliche Solidaritätsnetzwerke ökonomische Sicherheit stiften (vgl. Yavuz, 2003, S.93). Der größte Teil der 3,5 Millionen Gewerbetreibenden in der Türkei ist allerdings nicht in der MÜSİAD organisiert, sondern leitet Kleinstunternehmen mit nicht mehr als zehn Mitarbeitenden. Der Alltag dieser überwiegenden Mehrheit ist weniger als eine „unternehmerische Tätigkeit“ aufzufassen, die von Investition geprägt ist, als vielmehr als eine von kleinen Händlern, „die notgedrungen auf kleiner Stufenleiter kalkulieren“ und „beim Kaufen verdienen müssen“ (Özbek, 2008, S. 264). So übertüncht der Begriff ‚Unternehmer‘ die tatsächlichen ökonomischen Asymmetrien und Abhängigkeitsverhältnisse, die sich durch ‚Geschäftspartnerschaften‘ und die Einbindung des Klein- und Kleinsthandels in die Distributionswege der neuen Bourgeoisie reproduzieren (vgl. Özbek, 2008, 265). Das herrschende patriarchale Geschlechterregime verschleiert effektiv die inhärenten Wiedersprüche der verbreiteten ‚Kleinunternehmerideologie‘, indem es in der Kultur des Alltags den Handel treibenden Mann lobpreist.

3. Zur Ideologie islamistischer Parteien
in den neunziger Jahren

Resultierend aus den Produktions- und Reproduktionsverhältnissen in den gecekondus ist es islamistischen Parteien seit den achtziger Jahren gelungen, zunehmend erfolgreich im städtischen Raum zu agieren und seit 1994 Bürgermeisterposten in wichtigen türkischen Großstädten, darunter İstanbul zu besetzen (vgl. Seufert, 2002, S. 16 u. Yavuz, 1997, S. 72). In den neunziger Jahren vertrat die islamistische Refah Partisi (RP) (dt. Wohlfahrtspartei) noch die Konzeption einer Gerechten Ordnung (Adil Düzen), die das „ehrliche Klein- und Mittelgewerbe“ glorifizierte, patriarchale Praktiken zum gesellschaftlichen Leitbild erhob und sich zugleich gegen Korruption und Nepotismus in den regierenden Mitte-Rechtsparteien ANAP und DYP wandte. So inszenierte sich die RP als ‚einzige wirklich markwirtschaftliche Kraft‘ (vgl. Gülalp, 2001, S. 438), erzielte so große Erfolge bei den Landflüchtigen, die in den staatsnahen Konglomeraten ihre wirklichen Ausbeuter und im Kemalismus deren Ideologie sahen. Ihre Idee der Gerechten Ordnung wirkte zeitweilig sowohl attraktiv auf jene, die vom neoliberalen Regime profitierten als auch auf solche, die diesem ihren sozialen Abstieg verdankten (vgl. Aydın, 2005, S. 202 u. Gülalp, 2001, S. 441). Im Juni 1996 wurde Necmettin Erbakan mit den Stimmen der RP und DYP zum Ministerpräsidenten gewählt, zum ersten Mal seit der Gründung der Republik wurde die Regierung damit von einem Islamisten geführt. Gleichwohl war die islamistische Ideologie der RP zur damaligen Zeit nicht hegemonial in der türkischen Gesellschaft, und ihr Versuch, über die Apparate des türkischen Staates zu politisch-kultureller Hegemonie zu gelangen, scheiterte an jenem Widerstand, der sich in den Staatsapparaten und der Zivilgesellschaft formierte. Nach einem Memorandum der Streitkräfte und monatelangen Protesten der so genannten säkularen Front, eines Zusammenschlusses getragen von säkularen Gewerkschaften, Verbänden der türkischen Großindustrie, kemalistischen Organisationen, den Streitkräften, aber auch unabhängigen Frauenorganisationen sowie dem linken und liberalen Spektrum, wurde die Regierung Erbakan durch Staatspräsident Demirel zum Rücktritt gezwungen und die RP schließlich im Januar 1998 verboten.

Das Scheitern der ersten islamistischen Regierung und das Verbot der RP-Nachfolgerin FP (Fazilet Partisi) beschleunigten den Prozess der Katharsis, der im August 2001 in die Gründung der AKP mündete. Diese repräsentierte im Moment ihrer Gründung vor allem die wirtschaftlich erfolgreichsten Angehörigen der neuen Bourgeoisie sowie die Generation eines neuen technisch-professionellen Mittelstandes, der sich, nicht aus dem kemalistischen Block stammend, seinen gesellschaftlichen Aufstieg oft hart hatte erarbeiten müssen.[4] Beide Gruppen teilten nicht die Skepsis des radikalen Islamismus vor Kapitalakkumulation im Allgemeinen und gegenüber Geschäften auf westlichen Märkten im Besonderen. Die Annäherung der Türkei an die Europäische Union betrachteten sie prinzipiell als Chance, mittelfristig die autoritäre, oft gegen sie selbst instrumentalisierte Verfassung zumindest zu verändern. Vor allem aber zielten sie darauf, Sedimente kemalistischer Praxis und Ideologie zu beseitigen, die auch zwei Jahrzehnte nach dem sozio-ökonomischen Kollaps des kemalistischen Entwicklungsmodells noch im Alltag präsent waren.

4. Ideologie der AKP

Diese Haltung manifestiert sich in der Programmatik der AKP, die sich mit dem Konzept der Konservativen Demokratie, Muhafazkar Demokrasi, vor allem an die nationale aber auch internationale akademische Öffentlichkeit[5], die Intellektuellen innerhalb der eigenen Partei und die bürokratischen Eliten der Türkei wendet und zugleich Zeugnis über den Stand der Katharsis ablegt. So propagiert die Partei eine Synthese aus als lokal bezeichneten Werten und Demokratie, die sich positiv auf den Parlamentarismus (west-) europäischer Prägung bezieht. Das Lokale steht für jene konservativen und islamischen Werte, die der Lebenspraxis der anatolischen Peripherie entstammen und sich stets im Konflikt mit dem kemalistischen Entwicklungsparadigma befanden: „Our aim is to reproduce our system of local and deep-rooted values in harmony with the universal standards of political conservatism (vgl. Erdoğan, 2004, S. 335) (...) by developing a modernity that accept the traditional, a globalism that accepts the local, and a stress on smooth, rather than radical change.“ (Akdoğan, 2006, S. 52) So ist die einst religiös formulierte Kritik am kemalistischen Entwicklungsstaat in die Terminologie eines säkularen (europäischen) Konservatismus burkescher Prägung übersetzt und zugleich mit Diskursen verknüpft, die einen Aufstieg des Lokalen in der globalisierten Welt sehen (vgl. Erdoğan, 2004, S. 333). Rückgekoppelt an den türkischen Alltag lassen sich darin die sozialen Praktiken in den großstädtischen gecekondus und den Provinzstädten Anatoliens erkennen, die die Voraussetzungen der Akkumulation der Klein- und Mittelindustrie unter den Imperativen der globalisierten flexiblen Produktion bilden. Der Angriff auf die verbliebenen Institutionen des kemalistischen Entwicklungsstaates ist folglich eine logische Konsequenz: „Supporting a process of change that is evolutionary, gradual, and based on transformation its natural course, we emphasize the importance of preserving values and achivements, rather than the preservation of present institutions and relations.“ (Erdoğan, 2004, S. 335) Nach diesem Verständnis ist gesellschaftliche Entwicklung folglich nicht ein Ergebnis sozialer Kämpfe, sondern etwas natürlich Gewachsenes. Laizismus kemalistischer Prägung hat – als Instrument der passiven kemalistischen Revolutionierung – keine Funktion, stattdessen wird diffus eine Art neuer Laizismus gefordert, der als Instanz der Kompromissvermittlung (vgl. Erdoğan, 2004, S. 336) „eine neue Synthese von Traditionalismus und Moderne“ mitbegründen soll. In eine Reihe mit dem radikalen Islamismus der Milli Görüş Bewegung und ihren Vorgängerparteien stellt sich die AKP freilich nicht, sondern sieht sich in einer Kontinuität mit DP sowie der konservativen Mutterlandspartei Turgut Özals und bezieht (nach Erdoğan, 2004, S. 335) ihre Stärke aus dem Zentrum des sozialen Spektrums.

5. Katharsis und EU-Politik der AKP

Im Februar 2001 erlebte die Türkei – ausgehend von einem Zusammenbruch des Finanzmarktes – ihre bislang schwerste Wirtschaftskrise, das Bruttosozialprodukt sank um 8,5 Prozent, die Informalisierung der türkischen Ökonomie beschleunigte sich und die realen Einkommensverluste der regulär beschäftigten Lohnarbeitenden erreichten zweistellige Raten (vgl. Kozanoğlu, 2002, S. 6). Letzteren bürdete die regierende Koalition aus der linksnationalistischen DSP, der ultranationalistischen MHP und der Mutterlandspartei mit ihrer Austeritätspolitik die Hauptlast der Krisenbewältigung auf (vgl. Aydın, 2005, S. 136). Infolge dieser Kooperation mit dem IWF und der Weltbank verlor sie die im Herbst 2002 folgenden Wahlen; nur die kemalistische CHP und die AKP zogen als Parteien in das Parlament ein. Die nun mit absoluter Mehrheit regierende AKP erwies sich, entgegen verbreiteter Erwartungen, nicht als Protestpartei, sondern verfügte – durch die Kontinuität zu ihren Vorgängerorganisationen – über intakte lokale Strukturen, Regierungs- sowie Verwaltungserfahrung auf kommunaler Ebene. Die noch präsenten Erinnerungen an das schnelle Ende der Regierung Erbakan bestärken die Führung der Partei darin, hegemoniepolitisch umsichtiger zu agieren und den Prozess der Katharsis konsequent fortzusetzen. Eine Katharsis umfasst stets mehr als Traktate und programmatische Bekenntnisse, sie ist das Überwinden der unmittelbaren, egoistischen, also der korporativen Interessen der neuen Bourgeoisie, um die Interessen weiterer Bündnispartner so zu berücksichtigen, dass auch diese aus dem Gelingen des hegemonialen Projektes einen realen Nutzen ziehen. Der bereits von den vorangegangen Regierungen eingeleitete Annäherungsprozess an die EU avancierte unter der AKP-Regierung zum hegemonialen Projekt des neuen Bürgertums, welches genügend Integrationskraft besaß, um über das Versprechen von Wohlstand den eigenen Block zu stabilisieren, d. h. die Klassenharmonie zwischen der neuen Bourgeoisie und den Lohnarbeitenden zu festigen und gleichzeitig die horizontale Bündnisfähigkeit hin zur Großindustrie und zu linksliberalen Kräften zu verbessern, die in der Türkei den Kern der pro-europäischen Kräfte ausmachen. Darüber hinaus gaben die erforderlichen Rechtsanpassungen die Möglichkeit zur umfassenden passiven Revolutionierung.

In den ersten Jahren ihrer Regierungszeit hat die AKP Kompetenzen des Nationalen Sicherheitsrates beschnitten, den Haushalt der Streitkräfte erstmals der Kontrolle des Rechnungshofes zugänglich gemacht, die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte aufgelöst, die Todesstrafe abgeschafft, die Untersuchungshaft an europäische Standards angeglichen, ein liberaleres Presserecht verabschiedet und erste Schritte hin zur Einrichtung von Berufungsinstanzen getan (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2004, S. 70 u. 71). In einem von der der türkischen und internationalen Öffentlichkeit unerwarteten Bereich der Gesetzgebung überwand die neue Bourgeoisie ihre korporativen Interessen: Bei der Reform des Strafrechtes änderte die AKP – fraktionsübergreifend mit der oppositionellen CHP – 35 Artikel, die Frauen und deren Recht auf sexuelle Autonomie betrafen. So trat im Januar 2005 ein Strafrecht in Kraft, das erstmals in der Geschichte der Republik Sexualverbrechen als Verletzungen individueller Rechte ahndet, Strafnachlässe für Ehrenmorde beseitigt, Vergewaltigung in der Ehe kriminalisiert, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz verbietet (vgl. ESI, 2007, 21). Im Oktober 2005 beschlossen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Aufnahme von offiziellen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, womit die AKP-Regierung ihren bislang größten außenpolitischen Erfolg verbuchen konnte, während allein bis zum September 2006 weitere 148 Gesetzesvorlagen verabschiedetet wurden, die unter anderem die rechtliche Autonomie der Streitkräfte weiter einschränkten (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2007, S. 22). Damit hatte die neue Bourgeoisie nicht nur ihr Bündnis, um Teile jener Kräfte erweitern können, die 1997 noch für den Rücktritt der islamistischen Regierung Erbakan demonstriert hatten, sondern trat gewissermaßen in die staatlich-hegemoniale Phase ein. In dieser wurde sie nun nicht nur von linksliberalen Kräften zunehmend geschätzt, sondern galt auch in der Wahrnehmung der anfangs gegenüber der AKP skeptischen europäischen Eliten als Motor und Garant von Reform und Demokratisierung schlechthin, das kemalistische Spektrum hingegen als reaktionär. Dieses verbreitete Bild half ihr 2007 ein Memorandum der Streitkräfte und Massenproteste von kemalistischen Organisationen, säkularen Gewerkschaften, Frauenverbänden und linken Parteien zu überstehen, die nicht nur eine schleichende Islamisierung durch explizite administrative Maßnahmen, sondern auch den neoliberalen Charakter der Regierungspolitik thematisierte. Gleichwohl waren die Proteste stark von den korporativen Interessen der etablierten städtisch-säkularen Mittelschichten geprägt und hatten es als solche nicht geschafft, die Unterschichten der städtischen Peripherien zu mobilisieren, während die türkische Regierung – anders als noch 1997 – auch von der Großindustrie und der EU-Kommission unterstützt wurde. Das Ergebnis ist bekannt, in der Militärführung fand sich offenkundig keine Mehrheit für einen Putsch, die AKP gewann im Sommer 2007 die Parlamentswahlen und die Große Türkische Nationalversammlung wählte den ehemaligen RP-Abgeordneten Abdullah Gül zum Präsidenten der Republik. Der letzte Versuch, die Macht des neuen Bürgertums aus den Staatsapparaten heraus mit einem Verbot der Regierungspartei zu brechen, scheiterte im August 2008. Gegenwärtig läuft ein Gerichtsverfahren gegen 86 prominente Kemalisten, darunter ehemalige Hochschulrektoren und pensionierte Generäle, denen die Bildung einer Gruppe namens Ergenekon zur Last gelegt wird. Diese soll, so die Anklageschrift, Anschläge geplant haben, die das Klima für einen Militärputsch bereiten sollten. Beinahe im Wochenrhythmus werden illegale Waffenlager in den Häusern von Angehörigen der Sicherheitsapparate aufgespürt, während der Widerstand der Militärführung gegen die Verhaftung auch hochrangiger Offiziere kontinuierlich absinkt. Daher scheint gegenwärtig das Risiko eines Staatsstreiches gering.

Gleichwohl ist die Hegemonie der neuen religiösen Bourgeoisie nicht unerschütterlich. Seit dem Einsetzen der weltweiten Wirtschaftskrise leidet die Türkei unter dem Rückzug ausländischer Investitionen, die das hohe Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre überhaupt erst ermöglicht hatten. Wie in jeder ihrer ökonomischen Krisen ist die Türkei auch in dieser mit einer steigenden Arbeitslosigkeit und einer wachsenden Informalisierung des Arbeitsmarktes konfrontiert. Das Projekt des Beitritts in die EU hat derweil in der Bevölkerung an Zustimmung verloren. Bereits während der Massendemonstrationen im Frühjahr 2008 wurde die Union in einem zunehmenden Maße als Anwältin einer orthodox neoliberalen Politik identifiziert und ihr Drängen nach Marköffnung, weiteren Privatisierungen, freiem Warenverkehr, freiem Kapitalverkehr, etc. erscheint zunehmend als Ausdruck neoimperialer Ambitionen der entwickelten europäischen Staaten. Eine Vollmitgliedschaft in der EU gilt vor dem Hintergrund der Suspendierung von sieben Verhandlungskapiteln zunehmend als unwahrscheinlich, der Status einer dauerhaften Kandidatin, die am Rande des europäische Imperiums die Funktion einer vorgelagerten ‚Werkbank‘ wahrnimmt, erscheint hingegen plausibel. Auf konkrete Verbesserungen ihrer rechtlichen Situation haben die Lohnarbeitenden in den letzten Jahren vergeblich gewartet, selbst die EU-Kommission kritisiert in ihrem Fortschrittsbericht jährlich die Nichterfüllung von ILO- (International Labour Organization) und EU-Standards (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 2007, S. 22). Mit der Verschlechterung der Beitrittsperspektive scheint die Katharsis an Fahrt zu verlieren. Die neue religiöse Bourgeoisie verfolgt ihre korporativen Interessen wieder offener. Damit verliert ihr hegemoniales Projekt zunehmend seine progressive Funktion und Glaubwürdigkeit – was perspektivisch potenzielle neue Handlungsspielräume für eine postkemalistische Linke eröffnet. Gleichwohl sollte sie sich nicht der Versuchung naiver Staatsstreichphantasien hingeben. Der Kampf um eine säkulare Türkei bleibt eine primär hegemoniepolitische Aufgabe, als solche erfordert sie eine beständige Auseinandersetzung mit den herrschenden Produktions- und Reproduktionsverhältnissen, aus denen Hegemonie entspringt.

Literatur:

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Akdoğan, Yalcın: ‘The Meaning of Conservative Political Identity’; in: Yavuz, M. Hakan (Hg.): The Emergence of a New Turkey – Democracy and the AK Parti; The University of Utah Press, Salt Lake City, 2006.

Aydın, Zülküf: The Political Economy in Turkey; Pluto Press, London, 2005.

Burğa, Ayşe: ‘Class, Culture, and State: Analysis of Interest Representation by Two Turkish Business Associations’; in: International Journal of Middle East Studies; S. 521-539, Cambridge, 1998.

Ceylan, Sadi: Die geschichtliche Umwandlung der ökonomischen Gesellschaftsformation in der Türkei; Express Edition, Berlin, 1985.

Dedeoğlu, Saniye: ‘The Household, Female Employment and Gender Relations in Turkey’; in: Balkan, Neşecan und Savran, Sungur (Hg.): The Ravages of Neo-Liberalism. Economy, Society and Gender in Turkey; Nova Science Publishers, New York, 2002.

DIE ZEIT: Die anatolische Versuchung; Reportage des Dossiers vom 15.05.2008.

DIE ZEIT: Putschplan Blondine; Artikel vom 24.07.2008.

Erdoğan, Recep Tayyip: ‘Conservative Democracy and the Globalization of Freedom’; in: Yavuz, M. Hakan (Hg.): The Emergence of a New Turkey – Democracy and the AK Parti; The University of Utah Press, Salt Lake City, 2006.

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Frankfurter Allgemeine Zeitung: Sieg der Vernunft; Kommentar von Horst Bacia, 01.08.2008.

Gülap, Haldun: ‘Globalization and Political Islam – The Social Bases of Turkey's Welfare Party’; in: International Journal of Middle East Studies, S. 433-448, Camebridge, 2001.

Kommission der Europäischen Gemeinschaften: ‚Regelmäßiger Bericht über die Fortschritte der Türkei auf dem Wegzum Beitritt, COM (2004)656 final‘; dokumentiert in: Südosteuropa Mitteilungen, Ausgabe 06/2004, S. 69-77, gesichert am 10.07.2008, www.ceel.com.

Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen – Türkei Fortschrittsbericht 2007; Brüssel, den 6.11.2007.

MÜSİAD: www.musiad.org.tr

Özbek, Sinan: ‚Kleinhändlermoral in der türkischen Politik’; in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften; Jahrgang Nr. 50, Heft 2/2008, S. 261-267 Berliner Institut für Kritische Theorie (InkriT), Berlin, 2008.

Seufert, Günther: Neue pro-islamische Parteien in der Türkei; Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin, 2002.

Yavuz, M. Hakan: ‚Political Islam and the Welfare (Refah) Party in Turkey‘; in: Comparative Politics, Jahrg. 30, Nr. 1, S. 63–82, New York, 1997.

Yavuz, M. Hakan: Islamic Political Identity in Turkey; Oxford University Press, New York, 2003.

[1] Der ökonomische Entwicklungsrückstand des Osmanischen Reiches zu den fortschrittlichsten kapitalistischen Staaten, war bereits um die Jahrhundertwende von der jungtürkischen Bewegung als ursächlich für den Verfall der politischen Autonomie des Reichs identifiziert worden. Die etatistische Wirtschaftspolitik sollte den Akkumulationsprozeß beschleunigen und damit auch die Souveränität der Türkei gegenüber den imperialistischen Staaten verteidigen.

[2] So lebten, auch aus dem Bürgerkrieg in Ostanatolien resultierend, in den achtziger Jahren mehr als 70 Prozent der Bevölkerung Ankaras in solchen gecekondus, landesweit mehr als 30 Prozent der städitischen Population (vgl. Yavuz, 2003, S. 84).

[3] Hemşerilik kann in diesem Zusammenhang am ehesten als eine Form von Nachbarschaft mit starker indentitärer Bindung und Solidarität übersetzt werden (vgl. Yavuz, 2003, S. 84).

[4] Der radikalislamistische Flügel organisiert sich seitdem in der weitgehend erfolglosen Saadet Partisi (dt. Wohlergehenspartei).

[5] Der Parteivorsitzende und Premierminister Recep Tayyip Erdoğan referierte am 29. Januar 2004 die Grundzüge der Konservativen Demokratie vor dem neokonservativen American Enterprise Institute.