Postsozialistischer Geschichtsrevisionismus

Geschichtsrevisionismus in Mittel- und Osteuropa

Eine Bestandsaufnahme

September 2009

Dass der ideologische Kampf um Geschichtsinterpretationen keine akademische Frage über „richtig“ oder „falsch“ ist, ist eine Binsenwahrheit. Dieser Streit geht – insbesondere in Mittel- und Osteuropa seit dem Ende des sozialistischen Staatensystems – einher mit politischen Rechtstendenzen, die sich oftmals stellvertretend an Symbolen der Geschichte bzw. der geschichtlichen Erinnerung festmachen. Dabei geht es insbesondere um die Umwertung bzw. Rehabilitierung der faschistischen Vergangenheit und die Kollaboration. Im ersten Teil dieses Beitrags sollen schlaglichtartig verschiedene Auseinandersetzungen – vor allem in den Transformationsstaaten – und deren ideologische Grundmuster dokumentiert werden, bevor ein Blick auf die ideologischen Vorstöße auf europäischer Ebene und mögliche Gegenkräfte diese vorläufige Bestandsaufnahme abschließt.

Im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung standen in den vergangenen Monaten die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Dort wird seit gut 15 Jahren eine offene Revision der Geschichte betrieben. Dabei bezieht sich diese unverblümt auf faschistische Propaganda-Topoi. Anknüpfungspunkt in den drei Staaten ist das gesellschaftliche Selbstbild einer seit Jahrhunderten besetzten Region – zuerst von Polen, dann von Russland, Deutschland und später der Sowjetunion. Dass die eigenen nationalen Regierungen keinesfalls ein Urbild demokratischer Repräsentation waren, fällt dabei nicht ins Gewicht. Auch nicht die Tatsache, dass sich in den baltischen Staaten zahlreiche Kollaborateure an der faschistischen Vernichtungspolitik und der Partisanenbekämpfung beteiligten. Die Partisanen jedoch, die an der Seite der sowjetischen Streitkräfte für die Befreiung vom Faschismus kämpften, werden heute als Vorkämpfer einer sowjetischen Besetzung und als „Erfüllungsgehilfen des Bolschewismus“ denunziert. Dies führt zu entsprechenden geschichtspolitischen Frontstellungen.

Die baltischen Staaten

Estland

In Estland ist man besonders rührig, wenn es um die Rehabilitierung der SS geht, gab es doch eine eigene estnische SS-Division. Zum ersten Mal versuchten 2002 estnische Kollaborateure in Tallinn mit einem Ehrenmal in Form der Statue eines estnischen SS-Angehörigen mit Eisernem Kreuz und MP-40 an die „kühnen Kämpfer der 20. SS-Division“ zu erinnern. Enthüllt wurde es von Benno Leaesik, dem Vorsitzenden einer militanten Reservistenorganisation der heutigen estnischen Armee. Auf staatliche Anordnung musste die Statue wieder abgeräumt werden. Im August 2004 gab es den zweiten Versuch im Städtchen Lihula; nach internationalen Protesten ließ die estnische Regierung das Denkmal aber demontieren. Im September 2005 beschloss die Regierung, die Figur dem „Museum für den Kampf zur Befreiung Estlands“ in Lagedi zu schenken, wo sie postwendend aufgestellt wurde.

Von da an fanden regelmäßig Treffen und Aufmärsche zu Ehren der SS statt. Am 20. August 2006 hielten etwa 300 estnische, belgische und holländische SS-Angehörige, aber auch junge „Skinheads“ in Sinimae eine Ehrung der 20. SS-Division ab. Die Teilnehmer weihten weitere Denkmäler für die SS-Angehörigen aus Belgien und den Niederlanden ein. Die Denkmäler trugen Hakenkreuze, Flaggen sowie Inschriften auf estnisch, französisch und niederländisch und glorifizierten „die Verdienste“ der SS dieser Länder, die dort umkamen. Während dieser Zeremonie wurde die nationale Flagge der Niederlande am Denkmal der holländischen SS gehisst. Die belgische Nationalflagge durfte aber nicht entfaltet werden. Der Botschafter von Belgien in Estland, Pierre Dubuisson, hatte dies untersagt und in den estnischen Medien erklärt, dass in seinem Land „die Belgier, die in Estland gekämpft hatten, als Verräter betrachtet werden, die Teil der Nazi-Kollaboration bilden“. Anders die Haltung des estnischen Parlamentsabgeordneten der rechts-nationalen Partei Vaterlandsunion, Trivimi Velliste. Dieser erklärte, dass „die Esten nicht vergessen sollten, dass vom historischen Gesichtspunkt Estland immer zwei Feinde hatte: Russland und Deutschland“. 2008 marschierten 800 Veteranen, auch aus Dänemark und Norwegen, und ihre Nazianhänger in Sinimae auf. Diesmal übermittelte der estnische Verteidigungsminister ein Grußschreiben und Trivimi Velliste forderte laut Nachrichtenagentur Interfax, das Parlament solle den SS-Angehörigen offiziell den Status von „Freiheitskämpfern“ geben und sie auf die gleiche Stufe mit den Teilnehmern des Befreiungskampfes 1918-1920 stellen.

So kann es nicht verwundern, dass im Küstenort Pärnu ein Denkmal mit der Inschrift: „Für alle estnischen Soldaten, die im Zweiten Freiheitskrieg für ihr Vaterland und ein freies Europa zwischen 1940 und 1945 gefallen sind“ steht, das ebenfalls einen estnischen Soldaten in SS-Uniform mit Sturmgewehr zeigt.

Vor diesem Hintergrund überrascht auch nicht die seit 2006 laufende nationalistische Kampagne zur Verlagerung des sowjetischen Ehrenmals zur Befreiung Estlands, des „Bronze Soldaten“, aus dem Stadtzentrum von Tallinn. Obwohl der Staatspräsident offiziell ein entsprechendes Gesetz abgelehnt hatte und eine breite internationale Öffentlichkeit bis hin zum UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon gegen diese Denkmalsschändung protestierte, setzten staatliche Stellen den Abriss in der Innenstadt mit der Begründung durch, das Denkmal stehe für „russische Besatzung“. Tagelange Auseinandersetzungen waren die Folge. Die russische Bevölkerung in Estland wertete dies zurecht als Diffamierung der Rolle der sowjetischen Streitkräfte bei der Befreiung vom Faschismus und als Ausdruck anti-russischer Ressentiments.

Welche geschichtspolitischen Folgen solche Ressentiments haben, zeigten kommunale Dienststellen in der estnischen Ortschaft Metsakivi. Sie verhinderten im Juli 2007 die Enthüllung eines Denkmals. Das Monument sollte 14 Einwohnern gewidmet werden, die im Sommer 1941 von deutschen Soldaten erschossen worden waren. Lokale Politiker intervenierten, da einer der Erschossenen mit der Sowjetunion sympathisiert und mit der Roten Armee zusammengearbeitet haben soll.

Lettland

In Lettland weihten im September 2003 gut 5000 Bürger in Lestene einen Friedhof für Angehörige der lettischen Waffen-SS ein, der mit staatlichen Mitteln finanziert wurde. Dabei führte Erzbischof Janis Vanags aus, die lettische Waffen-SS habe „mit dem Gewehr in der Hand versucht, den Einfluss der sowjetischen Truppen zu stoppen.“ Damit wurden aus Kriegsverbrechern und Kollaborateuren des Faschismus Helden der nationalen Befreiung.

Zur gleichen Zeit, nämlich im April 2004, verurteilte der Oberste Gerichtshof in Riga den ehemaligen lettischen Partisan Wassili Kononow wegen angeblicher Kriegsverbrechen. Das Verfahren, dass sich seit 1998 durch mehrere Instanzen zog, zielte auf eine Kriminalisierung des Befreiungskampfes der lettischen Partisanen an der Seite der sowjetischen Armee. Erst der Europäische Gerichtshof hob im Juni 2008 dieses Skandalurteil auf und sprach ihm eine Entschädigung für erlittenes Unrecht zu.

Rehabilitierung und Glorifizierung der Kollaborateure und der SS gehen jedoch weiter. Seit mehreren Jahren organisieren ehemalige Angehörige von SS-Verbänden und Neofaschisten am 16. März in Riga Aufmärsche zum „Befreiungstag“ zu Ehren der Waffen-SS als „nationale Befreier Lettlands“. 2009 rührte sich zum ersten Mal internationaler Protest. Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) und zahlreiche Mitgliedsverbände wandten sich an die lettische Regierung, Vertreter der europäischen Union wurden bei lettischen Stellen vorstellig. In Riga selbst wurden Proteste angekündigt. In der Folge sprach die Regierung in Lettland ein Verbot dieses Aufmarsches und der antifaschistischen Aktionen dagegen aus. Trotz des Verbotes durfte am 16. März der Aufmarsch zu Ehren der SS unter dem Schutz der Polizei stattfinden, die Proteste dagegen wurden jedoch massiv unterbunden.

Litauen

Ein ähnliches Verhalten gegenüber Kollaborateuren der faschistischen Herrschaft findet man in Litauen, auch wenn immer wieder betont wird, es habe keine SS-Division aus Litauen gegeben. Das stimmt, es gab jedoch spezielle Hilfseinheiten, Polizeieinheiten sowie Bataillone, die auch außerhalb von Litauen in sehr schlechtem Ruf standen. Nicht nur die jüdische Bevölkerung Litauens, die in Ghettos lebte und vernichtet wurde, und nicht nur die in die Gefangenschaft geratenen Rotarmisten mussten unter der Willkür der litauischen Polizisten leiden. Zwölf Bataillone der litauischen Polizei unter dem Kommando von Major Antanas Impulevicius haben ihre blutigen Spuren auch in Weißrussland hinterlassen, wo Dutzende von Dörfern niedergebrannt worden waren.

Während diese Täter unbehelligt blieben, entdeckten die politischen Rechtskräfte die ehemaligen Partisanen als „Verbrecher“. So ermittelten die litauischen Justizbehörden seit 2007 gegen vier jüdische Partisanen, die des Mordes und Terrorismus angeklagt wurden, weil sie sich bewaffnet gegen die faschistische Okkupation und die Kollaborateure gewehrt hatten. Der Vorwurf lautete: Verbrechen an Litauern. Unmittelbar betroffen waren die in Israel lebenden Yitzhak Arad und Rachel Margolis sowie die in Vilnius lebenden Fania Brantsovsky und Sara Ginaite. Gemeint waren jedoch alle Juden, die mit kommunistischen Partisanen kooperiert hatten.

In einer Zeitungskampagne der rechtskonservativen Tageszeitung „Lietuvos Aidas“ wurde 2008 die rhetorischen Frage gestellt: „Warum stellt niemand Fania Brantsovsky vor Gericht?“ Sie hatte sich 1943 der ‚Vereinigten Partisanen-Organisation‘ FPO angeschlossen; heute arbeitet sie im Jüdischen Museum Vilnius. Das Blatt warf ihr vor, sie habe gemeinsam mit „sowjetischen Terroristen“ im Januar 1944 die Einwohner des Dorfes Kaniukai umgebracht. Dabei stützte es sich auf die Memoiren der früheren Partisanin Margolis und forderte, diese als Zeugin zu laden. Andere Medien forderten einen Prozess gegen Yitzhak Arad, der als Jugendlicher in der Markov-Brigade gekämpft hatte (Deckname ‚Tolya‘) und von 1972 bis 1993 Leiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem war. Arad schrieb in seinen Büchern über Angriffe auf litauische Kollaborationseinheiten. Seine Gegner schlussfolgerten messerscharf, er habe Litauer ermordet. Statt solche Denunziationen als antisemitische Kampagne zurückzuweisen, griff die Justiz die Vorwürfe auf und verlangte von Fania Brantsovsky, als Zeugin gegen ihre Kameraden auszusagen.

Die Justiz richtete sich in einem „antitotalitären Reflex“ gegen die Partisanen an der Seite der sowjetischen Armee. Ideologische Rückendeckung erhielt sie von Vytautas Landsbergis, dem ehemaligen Staatsoberhaupt Litauens. Landsbergis formulierte in einem Interview mit der ultrarechten Wochenzeitung „Junge Freiheit“: „Vermutlich hat kein Land so sehr unter der Sowjetherrschaft gelitten“. Und so verbindet sich antirussische Aversion mit virulentem Antisemitismus zu einem kruden ideologischen Gemisch, das sich auch im offiziellen Genozid-Museum in Vilnius wiederfindet. Die 200.000 litauischen Juden, die unter deutscher Besatzung von den Nazis und ihren Kollaborateuren ermordet wurden, werden dort einfach unter die litauischen Verluste subsumiert. Über die Täter findet man so gut wie nichts.

Die Situation in anderen Ländern Osteuropas

Albanien

Es sind aber nicht nur die baltischen Staaten, in denen massive Anstrengungen zur Veränderung des Geschichtsbildes unternommen werden. In Albanien versuchte bereits 2005 die damalige Regierung unter Berisha die Erinnerung an den antifaschistischen Befreiungskampf gegen die italienischen und deutschen Truppen aus der öffentlichen Wahrnahme zu verdrängen, indem der traditionelle Gedenktag, der 29. November, zugunsten eines Erinnerungstages zur Gründung des albanischen Staates am 28. November ersetzt werden sollte. Zwar gelang es den antifaschistischen Kräften bis heute, das Gedenken am 29. November fortzusetzen, es wurde aber deutlich, dass es nicht um die „Doublettierung“ eines Gedenktages geht, sondern um die Verdrängung einer historischen Perspektive (auf den antifaschistischen Kampf) durch nationalistische Identitätsbildung.

Bulgarien

Eine ähnliche Geschichtsauseinandersetzung vollzieht sich auch im heutigen Bulgarien. Dabei bewegt sich der Streit seit langer Zeit um die Frage, welchen politischen Charakter die Regierung seit 1923 hatte: War es eine faschistische Herrschaft oder eine monarchistisch-konservative Regierungsform? Dies ist in der Tat keine akademische Debatte, da sie die weitergehende Frage einschließt, ob man sich auf diese Regierungszeit positiv beziehen kann und welchen Charakter der politische Widerstand und der Partisanenkampf gegen diese Regierung besaß. Ist es eine Regierungsform im bürgerlichen Rahmen, ist Widerstand dagegen natürlich anders zu bewerten, als wenn die Einschätzung lautet, es handele sich um ein faschistisches Regime. Für die antifaschistischen Kämpfer in der faschistischen Periode, die sich gegen Verfolgung, Verhaftung, Terror und Illegalisierung wehren mussten, war dies letztlich egal. Da die antifaschistischen Kämpfer daraus nach der Befreiung die politische Legitimation zum Aufbau des Sozialismus in Bulgarien auch in Abgrenzung zur faschistischen Periode ableiteten, ist dieser politische Paradigmenwechsel zur Einschätzung der Regierung ein ideologischer Hebel zur Delegitimierung des sozialistischen Bulgarien.

Ukraine

Die letzten Beispiele kommen aus der Ukraine und aus Ungarn. Insbesondere in der westlichen Ukraine wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Denkmäler und Gedenkorte beseitigt, die dem antifaschistischen Partisanenkampf gewidmet waren, wenn sie als Ausdruck der sowjetischen Periode angesehen wurden. Dabei finden sich sowohl Formen der Bilderstürmerei als Versuch zur Beseitigung der Erinnerung an die gemeinsame historische Vergangenheit, als auch Beispiele der Rehabilitierung der ukrainischen Faschisten in den Reihen der SS oder anderer Kollaborateure.

Der Rat des westukrainischen Bezirks Ternopil wandte sich Ende April 2009 an den ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko mit dem offiziellen Antrag, die hauptsächlich aus ukrainischen Faschisten ab dem Juli 1943 formierte SS-Division „Galizien“ zu rehabilitieren. Ab 1944 war diese faschistische Militäreinheit aktiv an deutschen Vernichtungsaktionen in Polen, der Ukraine, Belorussland, der Slowakei und Jugoslawien beteiligt. Die von der neofaschistischen Partei „Swoboda“ getragene Initiative zielt darauf ab, die ukrainischen SS-Männer als „Kämpfer um die Freiheit der Ukraine“ anzuerkennen, was gleichbedeutend mit der Anerkennung eines Veteranenstatus wäre.

Zur gleichen Zeit ehrte im westukrainischen Lwiw die Stadtverwaltung die ukrainischen Kollaborateure Nazideutschlands auf Plakaten, auf denen der SS-Division Galizien unterstellt wurde, die Ukraine „verteidigt“ zu haben. Bereits am 5. März 2009 hatten die Stadtoberen ein Denkmal für den Nazi-Kollaborateur und Führer der „Ukrainischen Aufstandsarmee“ (UPA), Roman Schuchewitsch, aufstellen lassen, der im Juli 1941 an der Spitze des Kollaborateursbataillons „Nachtigall“ das bestialische Pogrom an der jüdischen Bevölkerung Lwiws (dt. Lemberg) in Kooperation mit Wehrmachtseinheiten organisiert hatte. Im Oktober 2007 wurde Schuchewitsch auf Erlass Juschtschenkos der Titel eines „Helden der Ukraine“ zuerkannt. Die Chancen stehen somit nicht schlecht, dass auch die SS-Männer der Division „Galizien“ von Juschtschenko als „Kämpfer um die Freiheit der Ukraine“ anerkannt werden.

Solche Maßnahmen werden in der Ost-Ukraine zurecht als Angriff auf das nationale Selbstverständnis angesehen und als Teil der innenpolitischen Auseinandersetzung zwischen Juschtschenko und Janukowytsch verstanden. Geschichtspolitik ist in diesem Falle die Folie staatspolitischer Konflikte.

Ungarn

In Ungarn versuchen insbesondere die Rechtskräfte um FIDESZ und JOBBIK, die eine reaktionäre Mobilisierung der Gesellschaft gegen die sozialdemokratische Regierung forcieren, die Geschichte als Kampffeld zu besetzen. Die – inzwischen verbotene – „Ungarische Garde“, die Kampforganisation von JOBBIK, führte ihre Aufmärsche mehrfach auf dem Heldenplatz in Budapest durch. Offen faschistische Gruppen organisierten in den vergangenen Jahren jeweils im Frühjahr Aufmärsche zum Gedenken an die SS-Einheiten, die sich in Budapest der Befreiung der Stadt durch die sowjetischen Truppen widersetzten. Folgerichtig begann JOBBIK am 11. Juli 2009 eine Kampagne für die Beseitigung des Denkmals für die sowjetischen Befreier der Stadt Budapest. An dem Aufmarsch direkt im Angesicht der Erinnerungsstätte nahmen 2500 Neonazis, insbesondere aus den Reihen der ungarischen Garde, teil.

Einige allgemeine Aspekte

Die Aktionen der geschichtspolitischen Umwertung finden teilweise staatliche Unterstützung, teilweise werden sie jedoch auch als störend in der großen ideologischen Auseinandersetzung angesehen, die man in Abwicklung kommunistischer Positionen insgesamt versucht. Denn SS-Nostalgiker und ihre Aktionen lösen oftmals internationale Proteste aus, die von dem eigentlichen Ziel, der Durchsetzung neuer Geschichtsbilder, ablenken. Gerade in den mittel- und osteuropäischen Staaten hat man zahlreiche Einrichtungen geschaffen, die eine neue totalitarismustheoretische Geschichtsperspektive öffentlich durchsetzen sollen. Dazu gehören insbesondere die verschiedenen Museen zur Diktaturgeschichte in Osteuropa. Die Namen der Einrichtungen, die in aller Regel staatlich getragen und finanziert sind, sind dabei oftmals bereits Programm: In Budapest finden wir ein „Haus des Terrors“, in Prag das „Museum des Kommunismus“, in Vilnius das „Genozid-Museum“ und in Tallin und Riga „Okkupationsmuseen“. In Rumänien findet sich in Sighet eine zentrale „Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und des Widerstands“.

Solche Museen und mit ihnen verbundene historische Einrichtungen spiegeln die staatliche Geschichtspolitik wider. In ungewöhnlicher Offenheit stellte dies die ehemalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete im März 2004 auf der Leipziger Buchmesse unter Beweis. In ihrer Eröffnungsrede nannte sie Nazismus und Kommunismus in einem Atemzug „gleich kriminell“ und sprach schließlich sogar davon, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der „Genozid an den Völkern Osteuropas“ seine Fortsetzung gefunden habe. Der damalige Vize-Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, kritisierte, dass die frühere Außenministerin ihr Land als Opfer einer völkerrechtswidrigen Politik dargestellt, die Beteiligung der Letten am Holocaust hingegen unerwähnt gelassen habe. Während sich bundesdeutsche Medien um ein „Verständnis“ für diesen geschichtspolitischen Vorstoß bemühten – so meinte Richard Herzinger in der „Zeit“, die Osteuropäer wollten nur, dass sich der Westen mit der kommunistischen Seite der europäischen Totalitarismusgeschichte ebenso intensiv befasse wie mit den Schrecken des Nationalsozialismus –, kann man aus heutiger Perspektive nur feststellen, dass Frau Kalniete das ausgesprochen hatte, was in den folgenden Jahren in den meisten baltischen Staaten geschichtspolitisches Programm wurde.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstand nicht nur in den baltischen Staaten das Bedürfnis, den Weg in die nationale Eigenständigkeit ideologisch abzusichern. Die politisch forcierte Ablehnung der Beteiligung an der GUS und die Westorientierung (Europäische Union und NATO) war noch nicht hinreichend abgesichert, so dass eine ideologische Legitimation hinzutreten musste, um in der Öffentlichkeit Akzeptanz zu erreichen bzw. kritische Stimmen auszuschalten. Dabei richtete sich die ideologische Offensive nur teilweise gegen die ehemaligen Strukturen der kommunistischen Parteien als Staatsparteien, waren diese doch selber Teil des Transformationsprozesses geworden. Sie richtete sich auch an die Teile der Bevölkerung, die vom ökonomischen Veränderungsprozess unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ihnen bot man in zweierlei Richtung eine ideologische Legitimation an:

Zum ersten wurde durch massive Formen von Ab- und Ausgrenzungen der russischen Minderheit, die sich zur Zeit der Sowjetunion in den baltischen Regionen – auch aus Gründen günstiger Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten – angesiedelt hatte, eine Gruppe von Menschen mit eingeschränkten demokratischen und Bürgerrechten geschaffen, die aus ihren angestammten Arbeitsverhältnissen verdrängt wurden und „Eingeborenen“ Platz machen mussten. Damit wurde eine soziale Korrumpierung baltischer Beschäftigter auf Kosten der russischen Bevölkerungsteile versucht.

Wo dies nicht möglich war bzw. nicht ausreichte, dort wurde die zweite ideologische Legitimation auf den Weg gebracht, die Umschreibung der Geschichte der sowjetischen Periode. Dabei geht es gar nicht um die Frage, dass es in der stalinistischen Epoche Verbrechen gegeben hat. Die Deportationen, Massenumsiedlungen, Straflager und Schauprozesse waren spätestens seit dem XX. Parteitag der KPdSU keine Geheimnisse mehr. Diese Verbrechen betrafen jedoch die gesamte sowjetische Gesellschaft und waren kein Spezifikum des Verhaltens gegen einzelne nationale Teile. Auch die Ansiedlung von Spezialisten aus anderen Teilen der Sowjetunion hatte mehr mit dem Bedürfnis des Aufbaus der ökonomischen Basis als mit Nationalitätenpolitik gegen die Balten zu tun. Solche Differenzierungen haben jedoch im heutigen ideologischen Streit keine Bedeutung. Pauschal wird die sowjetische Periode als „zweite Okkupation“ bezeichnet, in der die Staaten ihre Eigenständigkeit und kulturelle Identität verloren hätten. Folgerichtig gilt auch jegliches Handeln gegen die Sowjetunion als „Freiheitskampf“, selbst wenn es verbunden war mit Kollaboration mit der faschistischen Okkupation, mit Massenmorden und Massakern unter der jüdischen Bevölkerung oder anderen Verbrechen. Insbesondere in den baltischen Staaten ist der „Opfermythos“ ein konstitutives Element des historischen Selbstverständnisses.

Es soll an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass – wie an einzelnen Beispielen gezeigt – antirussischer Nationalismus in verschiedenen Facetten mit Formen virulenten Antisemitismus korrespondiert. Antisemitische Stereotypen finden sich in diesen Ländern bis in die Spitzen der politischen Elite und nicht nur am offen faschistischen Rand.

Ausstrahlung auf die EU

Während sich einige Kommentatoren nach dem Auftritt von Frau Kalniete 2004 in Leipzig besorgt fragten, was aus den baltischen Staaten auf uns zukomme, „vergaßen“ sie offensichtlich, dass diese ideologischen Positionen längst auch auf EU-Ebene präsent waren.

Anfang der 90er Jahre hatte sich das Europäische Parlament oftmals deutlich antifaschistisch positioniert, wie z.B. beim Beschluss, den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee, zu einem europäischen Gedenktag für alle Opfer faschistischer Verfolgung zu machen oder bei der einstimmig verabschiedeten Entschließung von 1993 über die Bewahrung der historischen Orte der faschistischen Verfolgung und Vernichtungspolitik. In diesem Dokument wurde ausdrücklich die Verbindung des Gedenkens an faschistische Verbrechen mit der Erinnerung an andere Formen politischen Unrechts abgelehnt.

Nun ging es den rechtskonservativen Kräften in Europa darum, diesen antifaschistischen Konsens im europäischen Parlament zu zerstören. Aktiv treibende Kraft dieser Offensive waren und sind die Europäische Volkspartei (EVP) und deren deutsche Ableger CDU/CSU. Schon auf dem 16. Kongress der EVP im Februar 2004 wurde unter der Überschrift „Verurteilung des totalitären Kommunismus“ eine Resolution verabschiedet, in der die Durchsetzung der Totalitarismus-Doktrin als strategisches Ziel bis 2009 gefordert wurde.

In geschichtsrevisionistischer Form wurde hierin über Faschismus und kommunistische Herrschaft als „zwei gleich inhumane totalitäre Regime“ gesprochen. In der Beschreibung werden Konzentrationslager und rassistischer Völkermord als typische Merkmale kommunistischer Herrschaft genannt. Als Gegenpol zum 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, wird ein „europäischer Gedenktag für die Opfer des Kommunismus“ gefordert. Während einerseits die finanziellen Mittel für den Erhalt der KZ-Gedenkstätten begrenzt werden, forderte die EVP die Errichtung eines europäischen Forschungs- und Dokumentationszentrums sowie ein zentrales Mahnmal für die „Opfer des Kommunismus“ – finanziert durch die EU. Und gemäß dieser Vorgabe organisierten die Vertreter der EVP in allen europäischen parlamentarischen Strukturen Beschlussfassungen, in denen sie diese politische Option „mit Leben füllten“.

Es begann 2005 mit den Gedenkfeiern zum „60. Jahrestag des Kriegsendes“ im Europäischen Parlament. Ohne öffentlichen Widerspruch erklärte der Parlamentspräsident Josep Borrell am 9. Mai, vielen habe der 8. Mai 45 noch keinen Frieden gebracht, nun sei er froh, auch Staaten in der EU zu haben, die einst „Geiseln von Jalta“ gewesen seien.

16 EU-Abgeordneten der politischen Linken protestierten gegen diese Sicht auf die Befreiung vom Faschismus, die auch in einer Resolution des Auswärtigen Ausschusses zum Ausdruck kam, mit folgender Feststellung: „Die Erklärung bezeichnet die Befreiung der osteuropäischen Länder als Besatzung. Damit leistet sie der Wiederbelebung von Symbolen des Hitler-Faschismus in den Ländern Ost- und Mitteleuropas Vorschub, stimmt der Politik der baltischen Regierungen zu, die Antifaschisten verfolgen und Kollaborateure der SS hochleben lassen, spendet einer Politik Beifall, der zufolge in Deutschland und Österreich die Deserteure der deutschen Armee als ‚nationale Schande’ betrachtet werden, während Faschisten als ‚Nationalhelden’ materiell und moralisch rehabilitiert werden.“

Bezeichnend für den ideologischen Einfluss der Totalitarismus-Doktrin war, dass nicht einmal alle Abgeordneten der GUE/NGL-Fraktion diese Erklärung unterstützten, von anderen Fraktionen gar nicht zu sprechen. Den Unterzeichnern der Erklärung wurde vorgehalten, den breiten überparteilichen Konsens im EU-Parlament durchbrochen zu haben,. Zu ihrer Kritik selber wurde jedoch keine Stellung genommen.

Keinerlei inhaltliche Zurückhaltung legten sich die rechts-konservativen und reaktionären Vertreter in der parlamentarischen Versammlung des Europarates im Januar 2006 auf, als sie mehrheitlich eine Resolution unter dem Titel „Über die Notwendigkeit der internationalen Verurteilung der Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime“ durchsetzten. Vorgeschlagen wurden dabei „nationale Komitees“ zur Durchführung antikommunistischer „Aufklärungskampagnen“. Außerdem sollten „Kommissionen zur Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus“ in allen europäischen Ländern eingerichtet werden, deren einziges Ziel die Delegitimierung sozialistischer Ideen und Orientierungen sein konnte. Zwar erhielt dieser Text aus formalen Gründen keine rechtliche Bindung, aber die Repressalien (bis hin zur Illegalisierung) gegen kommunistische Organisationen in Tschechien und Ungarn in den folgenden Monaten zeigten, dass diese Angriffe nicht allein auf ideologischer Ebene erfolgen. Dass in dieser Zeit auch faschistische Organisationen bzw. deren Auftritte in den beiden Ländern verboten wurden, galt als Beleg, dass man sich doch gegen „Totalitäre von links und rechts wehre“.

Einen weiteren ideologischen Vorstoß lancierten diese Kräfte im Sommer 2008 mit einem Antrag im Europäischen Parlament, den 23. August zum „Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime“ zu erklären. Im April 2009 wurde darüber abgestimmt und mit 553 gegen 44 Stimmen bei 33 Enthaltungen beschlossen. Im gleichen Atemzug winkte das Europäische Parlament auch noch das letzte Projekt der EVP von 2004 durch, nämlich die Schaffung einer „Gesamteuropäischen Gedenkstätte für die Opfer aller totalitären Regime“ und die Errichtung einer „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ und eines gesamteuropäischen Dokumentationszentrums, was bedeutet, dass diesen Projekten zukünftig erhebliche finanzielle Mittel der EU zufließen sollen.

Diese Resolution ist ein ideologischer Generalangriff auf das historische Fundament der europäischen Nachkriegsentwicklung. In der Resolution heißt es wörtlich: „Europa benötigt eine gemeinsame Sicht seiner Geschichte und muss Kommunismus, Nazismus und Faschismus als ‚gemeinsames Vermächtnis’ anerkennen.“ Faktisch geht es jedoch nicht um ein „gemeinsames Vermächtnis“, sondern um die Ideologie des „Kalten Krieges“, die Totalitarismusthese. In der Konsequenz bedeutet dies nicht nur eine historisch falsche Gleichsetzung zwischen faschistischer Herrschaft und verschiedenen sozialistischen Herrschaftsformen, sondern eine Umkehrung der politischen Gewichtungen und damit eine Verharmlosung und Relativierung der faschistischen Vernichtungspolitik.

Den Initiatoren des Antrags selber geht es darum, den Schwerpunkt des Gedenkens auf die „Auswirkungen und die Bedeutung der Sowjetzeit sowie der Okkupation“ in den „postkommunistischen Ländern“ zu legen.

Die OSZE-Resolution

Ausgehend von dieser Beschlusslage brachten Litauen und Slowenien in die Parlamentarische Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zum 3. Juli 2009 eine Resolution über die Wiedervereinigung des geteilten Europa ein. In dem Text heißt es, Europa habe im 20. Jahrhundert „zwei große totalitäre Regime, das nationalsozialistische und das stalinistische, erlebt, die Völkermord, Verletzungen der Menschenrechte und Freiheiten, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit brachten“. Damit werden der faschistische Massengenozid und die zweifellos als Verbrechen zu charakterisierenden Ungesetzlichkeiten in der stalinistischen Periode undifferenziert auf die gleiche Stufe gestellt. Gleichzeitig wurde in der Resolution in völliger Verkehrung geschichtlicher Tatsachen der Sowjetunion die gleiche Verantwortung an der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges zugewiesen wie Hitler-Deutschland.

Die Resolution wurde gegen den ausdrücklichen Protest Russlands und die Stimmen von etwa einem Drittel der Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung durchgesetzt. Das zeigt, dass es den Initiatoren nicht um einen möglichst breiten politischen Konsens, sondern um die Etablierung eines reaktionären Geschichtsbildes – geprägt von Totalitarismusdoktrin und Geschichtsverfälschung – in Europa ging.

Solche Beispiele verdeutlichen, dass sich die Akteure der Geschichtsrevision in Mittel- und Osteuropa in Übereinstimmung mit den ideologisch und politisch hegemonialen Kräften in der EU wähnen können. Sie verstehen sich als Teil des rechten ideologischen Mainstreams.

Gegenkräfte

Umso wichtiger ist es daher, alle Formen des politischen und ideologischen Widerstandes aufzubieten, um eine dauerhafte Verschiebung der historischen Koordinaten der Erinnerung zu verhindern, dem politisch-ideologischen Roll-Back der Rechtskräfte massiven Widerstand entgegenzusetzen.

Dabei sind jedoch die Gegenkräfte insbesondere in den betreffenden Ländern noch wenig entwickelt. In den baltischen Ländern werden der Protest und die gesellschaftliche Gegenbewegung zumeist von der russischen Minderheit getragen. Wie wirksam sie sein kann, zeigten in Estland die Massenproteste gegen die Verlagerung des „Bronze Soldaten“ und in Lettland die jüngsten Ergebnisse der Europawahl, bei der Parteien der russischen Minderheit Mandate und damit eine internationale Stimme auch in dieser Frage bekamen.

In Ungarn wächst eine Zivilgesellschaft, in der Naziaufmärsche durch Bürgerproteste beantwortet werden. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens stellen sich schützend vor das Denkmal der sowjetischen Befreier.

Auch in der Ukraine organisieren sich – gemeinsam mit Veteranen des antifaschistischen Kampfes – gesellschaftliche Kräfte, um gegen solche Geschichtsfälschung öffentlich wirksam zu werden.

Beachtenswert ist zudem, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen in einer Entschließung am 4. November 2008 einmütig alle Versuche zur Verherrlichung der faschistischen Bewegung und der früheren Angehörigen der Waffen-SS, einschließlich der Errichtung von Denkmälern zur Glorifizierung dieser verbrecherischen Organisationen als „nationale Befreiungsbewegungen“, verurteilt hat.

Es ist jedoch bezeichnend für die Rolle der Medien in dieser ideologischen Auseinandersetzung, dass bundesdeutsche Zeitungen und ein Großteil der politischen Öffentlichkeit diese Resolution schlicht ignorieren. Es ist für die Verhinderung von Geschichtsrevisionismus geboten, dass solche Positionen der Internationalen Gemeinschaft in den geschichtspolitischen Debatten ein stärkeres Gewicht bekommen.