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„Gutes Leben" oder „Gerechtigkeit"?

Anmerkungen zu François Dubet u.a.: „Ungerechtigkeiten. Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz"

September 2009

François Dubet[1], der Verfasser des hier zu besprechenden Buches[2], das die Ergebnisse einer von ihm geleiteten umfangreichen empirischen Untersuchung vorstellt, gehört zu den renommierten Vertretern der gegenwärtigen französischen Soziologie. Sein Verständnis von Soziologie steht in der Kontinuität der Schule des „Aktionalismus“, die Alain Touraine begründet hat und die ihren institutionellen Ort im „Zentrum für soziologische Aktion und Intervention“ (CADIS) findet (vgl. Peter 2004). Ein zentraler Gedanke des „Aktionalismus“ besteht in der Annahme, dass die Subjekte trotz der ambivalenten Folgen gesellschaftlicher Modernität als selbstverantwortliche Akteure ihres Lebens zu betrachten sind und die Soziologie die Aufgabe habe, die Bedingungen für eine neue, den Subjekten adäquate Modernität zu analysieren, die den Widerspruch zwischen utilitaristischer Rationalität einerseits und fundamentalistischer Religiosität („intégrisme“) und Kommunitarismus andererseits überwinden könne (Peter 2004).

Gemeinsam mit einer Forschungsgruppe und Studierenden hat Dubet in seiner Untersuchung das „Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz“ zum Gegenstand gemacht und damit ein Problem aufgegriffen, mit dem die Erwerbstätigen zwar tagtäglich konfrontiert sind, das aber bisher relativ wenig erforscht worden ist. Mit Hilfe eines Methodenmix aus qualitativer und quantitativer Sozialforschung hat die von Dubet geleitete Gruppe Daten aus 350 teilstandardisierten Interviews und rund 1150 Fragebögen erhoben und ausgewertet. Das Sample verteilt sich auf unterschiedliche Wirtschaftsbereiche, Berufs- und Altersgruppen und Menschen mit unterschiedlichem Erwerbsstatus, d.h. es bezieht auch Unternehmer und freiberuflich Tätige in die Untersuchung ein. Wenn Titel und Untertitel eine Untersuchung von „Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz“ ankündigen, so bietet der Inhalt des Buches aber tatsächlich weit mehr. Es geht nämlich nicht nur um Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit am Arbeitsplatz, sondern um eine ziemlich komplexe Analyse subjektiver Arbeitserfahrung im Spannungsfeld zwischen persönlich erlebter Arbeitssituation und gesellschaftlichen Bedingungen und Wertorientierungen. Das zeigt sich schon an der theoretischen Bestimmung von Gerechtigkeit. Anknüpfend an internationale philosophische und sozialwissenschaftliche Gerechtigkeitsdiskurse, insbesondere die Beiträge von John Rawls (Rawls 1979) und Michael Walzer (Walzer 1994) entwickelt Dubet eine Konzeption, die keinen in sich geschlossenen Begriff von Gerechtigkeit vorsieht, sondern auf drei „Prinzipien“ zurückgreift. Ohne sie könne, wie Dubet behauptet, die „Grammatik der normativen Aktivität von arbeitenden Menschen“ (17) nicht dargestellt werden. Dabei handelt es sich um die Prinzipien der Gleichheit, der Leistung und der Autonomie. Zusammen bilden sie eine „Polyarchie“, also ein nicht-hierarchisches Arrangement von Prinzipien, deren subjektive Gewichtung unendlich vielen, kontext- und situationsabhängigen Variationen und Modifikationen unterworfen ist. Nach Dubet gibt es kein „hegemoniales Gerechtigkeitsprinzip“, weil in der sozialen Erfahrung jeweils ein anderer Referenzpunkt in den Vordergrund treten kann: zum Beispiel Gleichheit dann, wenn andere als höher und überlegen wahrgenommen werden, Leistung, wenn andere in erster Linie als Konkurrenten erscheinen, und Autonomie in Situationen, in denen der Standpunkt des Subjekts (etwa aufgrund einer intrinsischen Arbeitshaltung) den Maßstab des Handelns bildet.

Diese Gerechtigkeitskonstruktion ist mit einem für die Touraine-Schule charakteristischen Defizit behaftet. Indem Dubet nämlich darauf verzichtet, eine objektive, die materielle Reproduktion der Gesellschaft berücksichtigende Bestimmung von Gerechtigkeit zu geben, geht er das Risiko ein, Gerechtigkeit in subjektiven Relativismus aufzulösen. Trotz dieses Defizits gelingt es ihm, die Vielschichtigkeit und oft auch innere Widersprüchlichkeit subjektiver Arbeitserfahrung empirisch auf eindrucksvolle Weise zu entfalten. Zahlreiche konkrete Interpretationen und Befunde sind ebenso differenziert wie wirklichkeitsnah. Problematisch wird es aber häufig dann, wenn er bei den individuellen Aussagen der Befragten stehen bleibt und einen objektiven, von der subjektiven Erfahrung abstrahierenden Begriff von Gesellschaft als intellektuellen Voluntarismus verwirft: „Wenn die Prinzipien der Gerechtigkeit keine Ideologien sind, wenn sie weder bloße Rationalisierungen noch eine List der Herrschaftsverhältnisse sind, muss die kritische Soziologie einer Soziologie der Kritik (damit meint Dubet: einer Soziologie der kritischen Äußerungen der Befragten, Anm. L.P) weichen. Statt ganz allgemein eine gesellschaftliche Situation zu beurteilen, die man für ungerecht hält, sollte man sich fragen, inwiefern die Akteure ihre Situation und die Welt, in der sie leben, gerecht oder ungerecht finden. Die Kritikfähigkeit der Individuen reicht völlig aus; ...Wir müssen also akzeptieren, dass die wahrgenommenen Ungleichheiten nicht die ‘realen’ Ungerechtigkeiten sind, dass nicht alle realen Ungleichheiten als ungerecht erlebt werden und dass die einzigen ‘wirklich’ realen Ungleichheiten diejenigen sind, die als Ungerechtigkeiten erlebt werden.“ (47/48)

Solange Dubet auf der Ebene der unmittelbaren Erfahrung bleibt, gelingen ihm Interpretationen, die seine These einer Pluralität von Gerechtigkeitsprinzipien ebenso realistisch wie sensibel belegen. Er kann zeigen, wie diese Prinzipien mit dem jeweiligen betrieblichen Status, dem Geschlecht, der beruflichen Qualifikation, der Hautfarbe usw. variieren und sowohl innerhalb der Erfahrung des einzelnen Individuums als zwischen unterschiedlichen, am Arbeitsprozess beteiligten Gruppen in Widerspruch zueinander treten können. So kann Gleichheit subjektiv einmal als grundsätzliche und für alle Menschen gültige oder aber konkret durch die betriebliche Hierarchie verletzte Gleichheit empfunden, ein anderes Mal als durch meritokratische Ordnung gewährleistete Chancengleichheit (etwa bei Beamten) verstanden werden (65 ff.). Auch schließt das Gerechtigkeitsempfinden nicht aus, dass viele Befragte bestimmte Ungleichheiten für gerecht und bestimmte Gleichheiten für ungerecht halten. Als ein besonderes Verdienst der Studie ist dabei hervorzuheben, dass, was in der heutigen Soziologie noch keineswegs selbstverständlich ist, Probleme des Geschlechterverhältnisses immer wieder eindringlich zur Sprache gebracht werden. Hier liefert Dubet sowohl überzeugende Interpretationen des empirischen Materials als auch plausible Schlussfolgerungen.

Was für das Prinzip der Gleichheit gilt, trifft auch auf Leistung und Autonomie zu. Mal wird Leistung am Maßstab des persönlichen Einsatzes, mal am Kriterium gesellschaftlicher Nützlichkeit und mal an Bildungszertifikaten gemessen. Je nachdem, welcher Aspekt im Vordergrund steht, können sich die Deutungen dessen, was gerecht ist, sehr weit verschieben. Viele Beschäftigte üben Kritik an ihrer Arbeitssituation, gerade weil sie ihre Arbeit schätzen und in ihr nach Möglichkeiten suchen, sich ein Stück weit zu verwirklichen (141). Andere verbinden dagegen Autonomie ausschließlich mit der Sphäre der privaten Lebensführung und wiederum andere sehen in Autonomie eine Dimension der inneren Berufung. Dubet lässt vor den Augen der Leserinnen und Leser ein Panorama der modernen Arbeitswelt entstehen, das weder Härte, Brutalität und Entwürdigung beschönigt noch Züge eines radikalen Verelendungsdiskurses aufweist. Auch enthält er sich jeder Neigung zu einem „going native“, wie man in der Ethnologie und empirischen Sozialforschung die Tendenz von Forschenden beschreibt, sich persönlich mit den Subjekten ihrer Untersuchungen zu identifizieren und so die notwendige wissenschaftliche Distanz zum Forschungsgegenstand zu verlieren. Es gelingt Dubet, das Datenmaterial in ein ebenso komplexes wie heterogenes und lebendiges Bild der subjektiv erlebten Arbeitsverhältnisse zu verwandeln. Ihre Deutung läuft auf mehrere grundlegende Ergebnisse hinaus.

Erstens betont Dubet, dass sich die Erfahrung von Ungerechtigkeit nicht monokausal und direkt auf eine Verletzung der drei Prinzipien Gleichheit, Leistung und Autonomie zurückführen lässt. Hinzu kommen „Missachtung des Rechts, Machtmissbrauch und fehlende Anerkennung“ (180). Sie bezeichnet Dubet als „intermediäre Sphären der Gerechtigkeit“, denen zwar nicht dieselbe fundamentale Bedeutung wie den drei genannten Prinzipien zukommt, die ihnen aber erst ihre erfahrungsnahe subjektive Gestalt verleihen: „Wenn man den Gedanken akzeptiert, dass Gleichheit, Leistung und Autonomie Grundprinzipien sind, die untereinander sehr widersprüchlich sind – in letzter Konsequenz schließt jedes die anderen aus –, dann müssen sich intermediäre Sphären der Gerechtigkeit bilden, die offener sind und mehr der unmittelbaren Erfahrung der Akteure entsprechen. Die Akteure müssen ‘reine’ Prinzipien in vermittelnden Sphären miteinander verbinden, gegensätzliche Prinzipien zusammenbringen.“ (180) Der Erkenntnisgewinn der Untersuchung liegt hier vor allem darin, die Schwierigkeiten bewusst zu machen, die sich für unter den gegebenen Bedingungen einer Modernisierung, Flexibilisierung und Tertiarisierung der Arbeit für die Interessenvereinheitlichung und kollektive Aktionen der abhängig Beschäftigten ergeben; denn es sind nach Dubet gerade diese sekundären, erfahrungsnahen Phänomene der (rechtlich geregelten) Arbeitsbeziehungen, der betrieblichen Macht und der persönlichen Anerkennung durch Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzte, ihr „unvollkommener“ Charakter und ihre ambivalente, ja in sich selbst widersprüchliche Deutung, die einheitliche praktische Antworten der Beschäftigten auf betriebliche Herrschaft und Entsolidarisierung erschweren.

Zweitens folgt für Dubet aus der „zutiefst widersprüchlichen Natur der grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien“ (222), also daraus, dass Gerechtigkeit, Leistung und Autonomie subjektiv ständig kollidieren können, eine Dynamik der Arbeitserfahrung, die eine „endlose Spirale“, ein permanentes „Rondo“ der Kritik hervorrufen. Wenn, so Dubet, die moderne Gesellschaft im Allgemeinen und die Arbeitswelt im Besonderen einerseits immer „demokratischer“ werden und damit immer mehr Gleichheit versprechen, andererseits aber immer mehr Leistung fordern, also „kapitalistischer“ werden, und sich schließlich als immer „individualistischer“ darstellen, weil Autonomie normativ ständig an Bedeutung gewinne, dann müsste die Welt zwangsläufig in der einen oder anderen Weise als Verrat an den Bedürfnissen nach Gerechtigkeit wahrgenommen werden. (262) Die daraus resultierende bedrohliche Rastlosigkeit könne nur dadurch in einen für die Beschäftigten erträglichen Zustand überführt werden, dass sich die subjektiven Erfahrungen von übergreifenden Vorstellungen von Gesellschaft lösten und auf die unmittelbare individuelle Arbeits- und Lebenssituation konzentrierten.

Drittens – und dabei handelt es sich sowohl um das wichtigste Ergebnis als auch gleichzeitig die zentrale These der Untersuchung – stellt Dubet fest, dass sich subjektive Erfahrung der Individuen von der Kollektivität von Lohnarbeit, Klassenlage und Gesellschaft entkoppelt hat. Ihr Erleben drücken die Befragten nicht länger in der Semantik des Klassenkampfes aus, sie nehmen die Gesellschaft auch nicht mehr als „zusammenhängendes System“ (303) wahr und verorten das, was ihnen am Arbeitsplatz widerfährt, nicht mehr auf einer Rechts-Links-Achse des politischen Bewusstseins, wie es für die traditionelle Arbeiterklasse charakteristisch gewesen sei.

Vor allem diese zentrale These der Untersuchung fordert aus mehreren Gründen Widerspruch heraus; denn wenn es auch zutrifft, dass sich unter den heutigen Bedingungen der Individualisierung, Flexibilisierung und betrieblichen Reorganisation kapitalistische Erwerbsarbeit in eine – verglichen mit früheren Perioden – enorme Vielfalt der konkreten Arbeitssituationen ausdifferenziert hat, so ist das aber noch längst kein überzeugender Beweis dafür, dass, wie Dubet behauptet, die „in die Sozialstruktur eingeschriebenen Ungleichheiten … nicht von sich aus die Gefühle und Auffassungen von Gerechtigkeit“ (292) bestimmen. Zu einer solchen Behauptung kann er nur deshalb kommen, weil er erstens von einem idealisierenden geschichtlichen Bild proletarischer Kollektivität und Solidarität ausgeht und zweitens die von ihm subtil beschriebenen gegenwärtigen Ambivalenzen und Dissonanzen subjektiver Arbeitserfahrung nicht mehr in einen Zusammenhang mit den Widersprüchen kapitalistischer Vergesellschaftung von Arbeit zu stellen vermag. Nicht seine empirischen Befunde an sich sind problematisch – im Gegenteil, sie sind glaubwürdig und eindrucksvoll – problematisch ist vielmehr sein Verzicht darauf, diese Erfahrung der befragten Erwerbstätigen als gesellschaftlich vermittelt zu begreifen, auch wenn diese sich selbst dessen nicht immer oder nur teilweise bewusst sein mögen. Zwar sagt Dubet nicht ausdrücklich, dass die moderne Gesellschaft kein „zusammenhängendes System“ mehr darstellt, aber indem er immer wieder die Unmöglichkeit betont, die subjektiven Erfahrungen auf objektive gesellschaftliche Verhältnisse zu beziehen, suggeriert er unwillkürlich, dass diese Verhältnisse für das subjektive Empfinden und Handeln irrelevant geworden sind. Dem widersprechen jedoch teilweise schon empirische Daten, die Dubet und seine Gruppe selbst erhoben haben. So kann er nicht umhin, zum Beispiel für die Gruppe der befragten Arbeiter festzustellen, dass sie eine Erfahrung von Ausbeutung artikulieren, die ohne ihre objektive Lage im kapitalistischen Arbeitsprozess gar nicht denkbar wäre. Auch dass die befragten Selbständigen, zumal die Unternehmer, normativ vor allem auf das Leistungsprinzip fixiert sind (266), sich Arbeiter, Angestellte und mittlere Fachkräfte – ganz im Unterschied zu den Unternehmern – im Verhältnis zur geleisteten Arbeit schlecht bezahlt fühlen (Tabelle 9, 277) und Arbeiter, Angestellte und mittlere Fachkräfte für sich signifikant seltener Möglichkeiten sehen, in der Arbeit eigene Initiativen zu entwickeln (Tabelle 10, 281), taugt wenig als Argument, um die angebliche Bedeutungslosigkeit von Klassenverhältnissen für das subjektive Gerechtigkeitsempfinden zu belegen. Und wenn, um noch ein plastisches Beispiel zu nennen, Führungskräfte und Unternehmer im Vergleich zu Arbeitern und Angestellten es doppelt so häufig und mehr für gerechtfertigt halten, dass eine kaufmännische Führungskraft viermal so viel verdient wie eine Kassiererin (Tabelle 3, 268), dann lässt sich das wohl kaum als schlagender Beweis dafür heranziehen, das subjektive Erfahrung und objektive gesellschaftliche Lage unwiderruflich auseinander driften. Um die Kritik an Dubet in diesem Punkt noch einmal zusammen zu fassen: Problematisch an der Untersuchung ist nicht, dass sie die enorme Heterogenität und innere Widersprüchlichkeit individueller Arbeitserfahrungen benennt. Die Empirie lässt gar keine andere Möglichkeit offen und es wäre eine plumpe Verfälschung der Daten, wollte man da Kollektivität, Interesseneinheit und ein entwickeltes Bewusstsein gesellschaftlicher Zusammenhänge hineinlesen, wo sich die subjektive Erfahrung unmissverständlich in entgegen gesetzter Weise äußert.

Der entscheidende Mangel bei Dubet liegt darin, dass er Heterogenität, Fragmentierung und Widersprüchlichkeit subjektiver Arbeitserfahrung nicht mehr in ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit begreift, sondern von den subjektiven Daten auf objektive Realitäten schließt und damit einem methodologischen und theoretischen Irrtum erliegt, auf den ein anderer französischer Soziologe, nämlich Robert Castel, hingewiesen hat. Im Gegensatz zu Dubet begreift Castel nämlich Prozesse der Individualisierung nicht als Auflösung und Negation, sondern vielmehr als aktuelle Erscheinungsform kapitalistischer Vergesellschaftung: „Niemand, nicht einmal der sozial ‘Ausgegrenzte’, existiert jedoch außerhalb der Gesellschaft. Die Entkollektivierung selbst ist eine kollektive Situation. Übereilt wurde behauptet, es gebe keine sozialen Klassen oder konstituierten Gruppen mehr, weil diese Kollektiveinheiten die Geschlossenheit und Dynamik eingebüßt hätten, durch die sie sich als eigenständige soziale Akteure hatten bilden können ... Man übersieht schlicht, daß es auch Klassen oder Gruppen geben kann, deren gemeinschaftliche Entwicklung nicht unbedingt in eine glorreiche Zukunft führt, sondern daß sie vielmehr die größte Last des Elends dieser Welt zu tragen haben.“ (Castel 2005: 66)

Trotz dieses Defizits liefert Dubet auf der empirischen Ebene eine Fülle von zum Nachdenken anregender Interpretationen. Das Ungerechtigkeitsempfinden wird in mehreren Dimensionen gleichsam empirisch durchdekliniert, nämlich sozialstrukturell, politisch, arbeitsorganisatorisch, berufsmilieu- und handlungsbezogen. Das umfasst den mittleren Teil der Untersuchung. Was dabei herauskommt, bestätigt die schon beschriebene Tendenzen zu einer Dissoziation von Erfahrung, die in zahllose einzelne, je nach situativem Bedarf zur Selbstrechtfertigung oder Identitätswahrung herangezogene Facetten zerfällt. Eine kohärente Vorstellung von Gesellschaft und einen kollektiven Gegnerbezug zur herrschenden Klasse gibt es dann nicht mehr: „Die Ungerechtigkeiten, von den politischen und gesellschaftlichen Spaltungen auf diese Weise entkoppelt, zerfallen in eine Unzahl erlebter Ungerechtigkeiten in den engen Kreisen der Arbeitskollektive. Die Arbeitenden leiden unter ihren Kollegen, unter ihren Chefs, unter dem Rassismus oder der Prekariät, aber dieses Leiden veranlasst sie nicht dazu, einen eindeutig identifizierbaren Gegner anzuklagen“ (311).

Die im Ergebnis der empirischen Analyse entdeckte „Kluft zwischen Gerechtigkeit und gemeinsamem Handeln“ (416) führt Dubet auf die „Polyarchie der Gerechtigkeitsprinzipien“ zurück, die eine kollektive Handlungsorientierung, wie sie sich früher fast unvermeidlich durch das „System sozialer Klassen“ aufgedrängt habe, nicht mehr zulasse. Diese „Polyarchie“ fördere zwar die individuelle Kritikfähigkeit und Sensibilität für eine Verletzung von Gerechtigkeitsstandards, erschwere aber gerade dadurch die Bereitschaft zu kollektivem Handeln. Sofern es etwa zur Bejahung sozialer Bewegungen komme, werde eine solche Haltung nicht mehr mit Gerechtigkeitsprinzipien legitimiert, die der Sphäre der Erwerbsarbeit entstammen oder – anders gesagt – das Ungerechtigkeitsempfinden in der Arbeitswelt würde nicht mehr in ein „oppositionelles Projekt“ (425) gesellschaftlicher Veränderung verwandelt. Das hängt nach Dubet nicht zuletzt damit zusammen, dass die Situation am Arbeitsplatz zwar einerseits durch vielfältige leidvolle Erfahrungen geprägt sei, aber es andererseits dennoch „weitaus mehr Gründe“ gebe, „seine Arbeit zu lieben als sie zu hassen“ (466). Aus dem Spannungsverhältnis von subjektiv erlebter Herrschaft, Missachtung und Demütigung zum einen und der Wertschätzung der Arbeit zum anderen resultiere ein intensives Bedürfnis danach, vor allem die persönliche Identität und Würde gegen die unmittelbaren Zwänge am Arbeitsplatz zu verteidigen. Diese Tendenz zur Selbstzentrierung verstärke die Neigung, die eigene Arbeit und das eigene Leben nicht mehr „in Klassenbegriffen“ (469) zu interpretieren. Das Problem der mit Lohnarbeit verbundenen Ungerechtigkeit verlagert sich für Dubet deshalb von der Ebene gesellschaftlich bestimmter Klassenverhältnisse und -gegensätze auf die Ebene subjektiver Erfahrung, auf der sich die Beschäftigten einerseits bedroht fühlten, auf der sie aber andererseits trotzdem ihre Subjektivität zu entfalten versuchten. Ihr Ziel bestehe aber nicht mehr darin, sich in Formen kollektiven Widerstandes gegen Herrschaft zur Wehr zu setzen, sondern den „Zwängen der Arbeitsteilung, der Ausbeutung, des Konsums und der Identitäten ein moralisches Konzept des guten Lebens abzuringen ...“ (S.488). Die Entwicklung von Subjektivität würde damit zu einer „sozialen Bewegung im Kleinen“ (ebd.).

Offensichtlich nimmt Dubet hier eine Argumentationslinie auf, die auf den Begründer des „Aktionalismus“ zurückgeht. Nachdem sich nämlich Alain Touraine nach 1968 vom Klassenbegriff und seinen politischen Konnotationen verabschiedet hatte, dann aber seine Hoffnungen eher auf die „neuen sozialen Bewegungen“ setzte, hat er in seinen späteren Veröffentlichungen, vor allem seit „Critique de la modernité“ ( Touraine 1992), mehr und mehr „das Subjekt“, nämlich „den Willen eines Individuums, als Akteur zu handeln und anerkannt zu werden“ (Touraine 1992: 242, Übersetzung L.P) als den entscheidenden sozialen Akteur ausgemacht. Nur vom Subjekt sei noch eine emanzipatorische Kraft zu erwarten, die sich weder fundamentalistischen Druck beuge noch durch instrumentelle Vernunft und individualistischem Liberalismus vereinnahmen lasse.

Aus der Favorisierung des Subjekts als zukünftig entscheidendem Akteur von Entwicklungen zu mehr Menschenwürde, persönlicher Freiheit und Selbstverwirklichung zieht Dubet politische Schlussfolgerungen, die er als „sozialdemokratisch“ bezeichnet (487). Was ihm dabei vorschwebt, erinnert in nicht wenigen Punkten an die Programmatik eines „Dritten Weges“, wie sie der prominente britische Soziologie und Berater des ehemaligen Premierministers Tony Blair, Anthony Giddens, in die Diskussion gebracht hat (Giddens 1999). Auch das Konzept des „Dritten Weges“, das die „Erneuerung der sozialen Demokratie“ zwischen bürokratischem Staatssozialismus und neoliberalem Turbokapitalismus verorten will, nimmt Abschied vom „Links-Rechts-Schema“ (Giddens 1997), empfiehlt eine auf das Individuum bezogene „Politik der Lebensführung“ und entmaterialisiert den Begriff der Gleichheit zugunsten der Forderung nach mehr Chancengleichheit. Dubet seinerseits tritt dafür ein, zwischen den widerstreitenden Prinzipien der Gleichheit, Leistung und Autonomie politisch einen Ausgleich zu finden, die Liberalisierung des Arbeitsmarktes mit sozialer Sicherung zu verknüpfen und partizipatorische Elemente in die Arbeitsorganisation zu implementieren. Wie aber stellt er sich die Realisierung seiner politischen Ideen vor? Wenn er primär auf das sich als eigenständiges Subjekt verstehende Individuum setzt, erhebt sich die Frage, wie dieses Individuum den genannten Ziele praktisch näher kommen soll.

Zwar ist Dubet darin zuzustimmen, dass Individualisierung, Subjektivierung und Pluralisierung heute die sozialen Beziehungen, die Lebensstile und Formen der Selbstwahrnehmung in erheblichem Maße prägen, aber das ändert nichts an der Tatsache, das auch die Individuen in der modernen kapitalistischen und patriarchalischen Gesellschaft des Zusammenschlusses mit anderen, gemeinschaftlicher Formen des Handelns und einer Bündelung von Zielen bedürfen, wenn sie politisch etwas erreichen wollen. Das einzelne Individuum muss, wie sehr es auch auf seine subjektive Identität bedacht sein mag, die Grenzen individueller Befindlichkeiten und Erfahrungen überschreiten und Ansätze kollektiven Handelns entwickeln, wenn es – gerade um seiner Subjektivität, Identität und Würde willen – die Zumutungen gesellschaftlicher Herrschaft abwehren und die Spielräume für Veränderungen erweitern will. Das Subjekt, dessen idealtypische Konturen bei Dubet sichtbar werden, ist dagegen letztlich nicht mehr als ein unmittelbarer soziologische Reflex auf den durch die empirischen Erscheinungsformen der Vereinzelung und Selbstbezüglichkeit verdeckten Zusammenhang zwischen Individualisierung und Vergesellschaftung. Indem er die von ihm empirisch ermittelten Deutungen und Urteile der Befragten ohne kritische Reflexion zum Ausgangspunkt politischen Handelns macht, erweckt er den Eindruck, als könnten die Individuen allein aufgrund ihrer Subjektivität, ihrer persönlichen Gerechtigkeitsstandards und moralischen Ressourcen, jene „Verschiebung der Kräfteverhältnisse“ (486) herbeiführen, die zwar keine ideale Welt schaffen, aber der „Zerrissenheit unserer Gesellschaft“ etwas entgegensetzen könnten. Richtig ist an den Überlegungen von Dubet gewiss, dass ein politisches, über die unmittelbare eigene Arbeits- und Lebenssituation hinausgehendes Handeln heute mehr als in den vergangenen Perioden gesellschaftlicher Konflikte einer subjektiven Identifikation mit den Inhalten dieses Handelns bedarf. Ohne dass die Akteure einen subjektiven Sinn, in dem, was sie tun, erkennen können – sei dieser Sinn beruflicher, politischer oder moralischer Art, werden sie nur schwer für Ziele zu mobilisieren sein, die über egoistische Vorteilskalküle hinausweisen. Aber die Beschwörung des Subjekts reicht nicht aus, um den Kampf um Gerechtigkeit und Gleichheit führen zu können. Auch Menschen mit sehr differenzierter Subjektivität kommen ohne andere nicht aus, wenn sie sich am Arbeitsplatz und im Betrieb gegen die vielfältigen Formen von Herrschaft erfolgreich zur Wehr setzen wollen. Selbst die Angehörigen von Berufen, die sich durch ein hohes Maß an Berufsstolz, professioneller Identität, Autonomie und Verantwortungsbewusstsein auszeichnen, sind auf den Zusammenschluss mit anderen angewiesen, wie zum Beispiel zahlreiche Arbeitskonflikte und Streiks von Ärzten, Lokomotivführern, Flugpiloten und Lehrern während der letzten Jahre gezeigt haben. Der Aktions- und Streiktag der französischen Gewerkschaften am 19. März hat bestätigt, wie wichtig es ist, dass die Lohnabhängigen kollektiv demonstrieren, eine neoliberale Politik der Kaufkraftminderung, der Entlassungen, der Demontage des öffentlichen Sektors und der rechtlichen Einschränkungen gewerkschaftlicher Handlungsfreiheit nicht widerstandslos hinnehmen zu wollen. Obwohl solche Aktionen nicht schon für sich genommen ausreichen, konkrete Verbesserungen durchzusetzen, sind sie doch ein wichtiges Zeichen, um gemeinsame Interessen der unterschiedlichen Fraktionen der Lohnabhängigen öffentlich zum Ausdruck zu bringen.

Am Ende der Studie insistiert Dubet auf einer Unterscheidung zwischen „guter“ und „gerechter Gesellschaft“. Da die Individuen primär an einem „guten Leben“ im Sinne ihrer moralischen Wertpräferenzen interessiert seien, verliere eine allgemeine, die Individuen übergreifende Vorstellung von Gerechtigkeit ihre frühere Verbindlichkeit. „Gerecht“ sei dementsprechend nicht die Gesellschaft, die gleiche materielle und kulturelle Lebensbedingungen für alle Menschen anstrebe, sondern diejenige, die den Individuen die Möglichkeit gebe, die Widersprüchlichkeit ihrer persönlichen Gerechtigkeitsprinzipien subjektiv zu meistern: „Die gute Gesellschaft ist nicht die gerechte Gesellschaft, sondern diejenige, die am wenigsten ungerecht ist, weil sie es den Individuen erlaubt, in ihrer Subjektivität widersprüchliche Prinzipien zu verbinden“(490). Mit dieser Relativierung des Gerechtigkeitsbegriffs trägt Dubet, ob er es will oder nicht, dazu bei, sowohl die Notwendigkeit einer materiellen Fundierung von Gerechtigkeit zu bestreiten als auch die Erfordernisse kollektiver Aktivitäten zur Bekämpfung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit auszublenden. Die Aufmerksamkeit, die Dubet und seine Forschungsgruppe der komplexen Thematik subjektiver Arbeitserfahrung zu Recht zukommen lassen, droht so in eine Affirmation individualistischer Zersplitterung und subjektiver Beliebigkeit umzuschlagen.

Literatur

Castel, Robert (2005): Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat (frz. 2003), Hamburg

Giddens, Anthony (1997): Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie (engl.1994), Frankfurt am Main 1997

Giddens, Anthony ( 1999): Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie (engl. 1998), Frankfurt am Main

Peter, Lothar (2004): Aktionalismus, Akteur und Subjekt: Alain Touraine. In: Stephan Moebius/Lothar Peter (Hrsg.): Französische Soziologie der Gegenwart, Konstanz, S. 139-169.

Rawls, John (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit (engl.1971), Frankfurt am Main

Touraine, Alain (1992): Critique de la modernité, Paris

Walzer, Michael (1994): Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/New York

[1] François Dubet wurde 1946 geboren. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Bordeaux, Forschungsdirektor an der prestigeträchtigen Pariser Hochschule EHESS und führendes Mitglied des CADIS. Er veröffentlichte u.a. „Sociologie de l’expérience“ (Soziologie der Erfahrung,1994), zusammen mit Danilo Martuccelli „Dans quelle société vivons-nous?“ (In welcher Gesellschaft leben wir?, 1998) und „Le Déclin de l’institution“ (Der Niedergang der Institution, 2002). Außerdem arbeitet er in der Intellektuellengruppe „La République des Idées“ (Die Republik der Ideen) mit, die geistig im Umfeld der Sozialistischen Partei angesiedelt ist und besonders mit der ehemaligen sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal nahestehenden Gruppen zusammenarbeitet.

[2] Dubet, François. In Zusammenarbeit mit Valérie Caillet, Régis Cortéséro, David Mélo und Françoise Rault: Ungerechtigkeiten. Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien, Hamburg 2008 (frz.2006).