Editorial

Editorial

Juni 2023

Der wirtschaftliche Aufstieg von Ländern des globalen Südens und deren schrittweise Emanzipation von der Dominanz der kapitalistischen Zentren prägen seit dem Beginn der 2000er Jahre die internationalen Beziehungen. Die Finanzmarktkrise von 2008 ist dabei ein Einschnitt: Seither ist klar, dass der neoliberale Typ der Globalisierung und die alten geopolitischen und geoökonomischen Machthierarchien ihre Grundlagen eingebüßt haben. Unsere Zeitschrift verfolgt die damit verbundenen Veränderungen schon seit längerem (vgl. Z 84/85, 89, 128/129, 130).

Die USA und ihre Verbündeten sind nicht bereit, den veränderten internationalen Kräfteverhältnissen Rechnung zu tragen und die wirtschaftlichen und politischen Regeln im Konsens mit dem globalen Süden grundlegend zu reformieren. Die vom „Westen“ beschworene Formel von der „Verteidigung der regelbasierten Ordnung“ ist eine Absage an alle Bemühungen, den durch ‚US-leadership‘ geprägten status quo friedlich in eine multilaterale Weltordnung umzuwandeln. Das vorliegende Heft blickt auf die wichtigsten Akteure in den globalen Kräfteverschiebungen, auf ideologische Begründungen und aktuelle machtpolitische Strategien zur Verteidigung der bestehenden Weltordnung. Wir widmen dieses Heft dem langjähriger Beirat und Autoren unserer Zeitschrift Dieter Boris aus Anlass seines 80. Geburtstags, verbunden mit den besten Wünschen der Redaktion.

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Im einleitenden Beitrag geht Jörg Goldberg der Frage nach, wie eine marxistische Perspektive auf die aktuellen Kräfteverschiebungen aussehen und wie sich ökonomische und politische Analysen ergänzen müssten, um die gegenwärtige Dynamik zu verstehen. In der gegenwärtigen Phase des finanzialisierten transnationalen Kapitalismus treibt die Standortkonkurrenz der transnationalen Konzerne die Außenpolitik der Nationalstaaten. Die vom Westen beschworene „regelbasierte Ordnung“ werde von diesem gegenwärtig als Waffe zum Erhalt der US-Dominanz eingesetzt und damit zerstört.

Das Selbstverständnis des „Wertewestens“ und die propagandistische Gegenüberstellung von Demokratie und Autokratie stehen im Zentrum des Beitrags von Peter Wahl. Die Rückkehr des Gut-Böse-Schemas in den internationalen Beziehungen liege in der Tradition ideologischer Rechtfertigungen westlicher Hegemonialpolitik. Zwar dürfe die Linke Unterschiede zwischen autoritären und demokratischen Verhältnissen nicht negieren. Würden diese jedoch zum Maßstab außenpolitischen Handelns, dann sei der Schritt zum „Menschenrechtsinterventionismus“ nicht weit. Der „Indo-Pazifik“, eine geografisch unscharfe Bezeichnung, ist zum Kampfbegriff geworden. Er reflektiert den militärischen Aspekt der gegen China gerichteten Eindämmungsstrategie. Jörg Kronauer schildert die Genese der westlichen Konzentration auf diese Region, genauer: die „erste Inselkette“ vor dem chinesischen Festland mit Zentrum Taiwan. Völkerrechtlich Teil der VR China spiele die Insel sowohl für den Westen als auch für China militärstrategisch eine zentrale Rolle. Für China komme hinzu, dass Separatismus und die damit verbundene Gefahr eines Staatszerfalls historisch immer ein politisches Trauma gewesen ist. Ingar Solty untersucht die Bemühungen der USA, „China in den globalen Kapitalismus nach amerikanischen Spielregeln einzubinden.“ Ob dies gelingt, ist für ihn eine offene Frage. Sicher sei aber, dass der US-amerikanische „Schwenk nach Asien“, die chinesische Herausforderung der US-dominierten internationalen Arbeitsteilung und der Krieg in der Ukraine den asymmetrischen transatlantischen Machtbeziehungen neuen Schwung verschaffen und den „American Decline“ im globalpolitischen Machtgefüge bremsen könnten.

Online-Diskussion zu diesem Heft am Sonntag, den 18. Juni 2023, 20.00 Uhr, YouTube-Kanal von 99zueins u.a. mit Raina Zimmering und Fanny Zeise sowie Fabian Nehring von 99zueins.
Vorankündigung / Zugang sh. unsere Social-Media-Auftritte und https://www.youtube.com/c/99ZUEINS

Klaus Dräger nimmt Rolle und Agieren der Europäischen Union in der gegenwärtigen internationalen Krise in den Blick. Der Anspruch der EU, als Führungsmacht mit den USA oder China konkurrieren zu können, wird mit der aktuellen Entwicklung abgeglichen, die in die gegenteilige Richtung weise. Von einer „strategischen Souveränität“ der EU, wie sie in der Trump-Ära als Ziel formuliert wurde, sei man seit Beginn des Ukrainekrieges in das Gegenteil verfallen: Anbindung und Unterordnung unter Nato- und US-Interessen. Im Ergebnis seien die USA Profiteur und die EU Verlierer der Krise. Thomas Sablowski skizziert den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, anfangs eng mit dem Prozess der liberalen Globalisierung verbunden. Als die USA in den 2010er Jahren realisierten, dass ihre Vorrangstellung gefährdet war, griffen sie zunehmend zu handelspolitischen Sanktionen, die den Globalisierungsprozess stoppten. Aktuell dominieren Maßnahmen, die sich gezielt gegen die chinesische Hightech-Industrie richten, wo das Land noch gewisse Rückstände aufweist. Raina Zimmering fragt, ob die USA im Zuge der internationalen Kräfteverschiebungen ihren lateinamerikanischen ‚Hinterhof‘ verlieren könnten. Die interessenbegründete Stärkung der eigenen Autonomie und die Erweiterung des (geo)politischen Handlungsspielraums lateinamerikanischer Staaten verbänden sich mit neuen Integrationsanstrengungen und einer Intensivierung der Kontakte v.a. mit China und Russland. Für den Erfolg westlicher Bemühungen, eine erneute geopolitische Blockbildung unter dem Vorzeichen ‚Demokratie vs. Autokratie‘ zu erreichen, spielt Indien, oft als ‚größte Demokratie der Welt‘ bezeichnet, eine zentrale Rolle. John Neelsen zeigt, dass das Land gute Gründe hat, eine an nationalen Interessen orientierte und jede Blockbildung vermeidende Politik des „Multi-Alignment“ zu verfolgen, die „strategische Autonomie“ und „optimale wirtschaftliche Entwicklungschancen“ verspricht. Der Osteuropa-Historiker Hans-Heinrich Nolte analysiert auf der Basis des Weltsystemansatzes die Entwicklung Russlands vom 10. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Es handele sich um ein „Imperium 4. Ordnung“, wie die USA oder China. Russland wolle zwar kein Imperium sein, werde aber von außen so wahrgenommen. Die heutige Russländische Föderation sei – wie seine zaristischen und sowjetischen Vorgänger – eine ökonomisch relativ zurückgebliebene Macht, die dem Westen nacheifern bzw. ihn überflügeln wolle. Angesichts der ökonomischen Schwäche setze sie dabei auf politische Argumente.

Insgesamt zeigen sich nicht nur im weltwirtschaftlichen, sondern auch im globalpolitischen Bereich deutliche Kräfteverschiebungen, die die Gefahr weiterer militärischer Eskalationen in sich bergen. Die damit verbundene internationale Militarisierung ist Thema in Z 135 (September 2023).

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Klassenkämpfe in Europa: Die Inflationskrise der Lohn- und Sozialeinkommen hat in Westeuropa die heftigsten sozialpolitischen Kämpfe und Streiks seit Jahrzehnten ausgelöst. Erste Analysen zu den Bewegungen in Großbritannien, Frankreich und in Deutschland liefern Frank Deppe im einleitenden Kommentar (S. 8ff.) sowie in Länderberichten Dieter Reinisch, Sebastian Chwala und Fanny Zeise. Sebastian Liegl und Juri Kilroy geben im Rahmen des „Streikmonitors“ eine Übersicht zu den Arbeitskämpfen 2022 in Deutschland. Ihre Bilanz der Streiks im ersten Halbjahr 2023 wird im Dezember-Heft vorgelegt.

Weitere Beiträge: Zur aktuellen Debatte in der und um die Friedensbewegung im Kontext des Ukraine-Krieges und der Erfahrungen der diesjährigen Ostermärsche hat die Redaktion mehrere Aktive um ihre Beurteilung der Perspektiven der Friedensbewegung und der Aufgaben der Linken gebeten. Willi van Ooyen, Daphne Weber und die Gruppe „Krieg & Frieden“ aus Kassel antworten auf Fragen der Redaktion; Ingar Solty argumentiert, dass die Friedensfrage heute „alle anderen Fragen überdeterminiert“ und daher in einer solidarischen linken Debatte beantwortet werden müsse. Z-Beirat Ulrich Brinkmann geht von der „plausiblen Annahme aus, dass nur Diplomatie einen Friedenszustand erreichen kann“ und sondiert mögliche Wege dahin. In einem längeren Beitrag, dessen erster Teil in diesem Heft erscheint, analysiert Ulrich Brinkmann den Zusammenhang von Stabilität und Krise der DDR anhand eigener empirischer Daten (Betriebsbefragungen). Er argumentiert, dass im „halben Fordismus“ der DDR zentrale konsensstiftende Elemente der fordistischen Regulationsweise (materielle Teilhabe, demokratische Partizipation) nicht inkorporiert und institutionalisiert werden konnten und der verstärkte Rückgriff auf eine „repressive Klammer“ keine längerfristige Stabilität stiften konnte. In seinem Beitrag zur aktuellen Entwicklung in Afghanistan zeigt Matin Baraki, dass die Frauen die Hauptopfer der Re-Talibanisierung sind, dass es jedoch um die Frage der Frauenrechte insbesondere im Bildungsbereich heftige Auseinandersetzungen in der Taliban-Führung gibt.

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Aus der Redaktion: Klaus Dräger ist herzlich zu danken für seine intensive Beteilung an Konzeption und Redaktion des Schwerpunkts. Zu verweisen ist auf die diesjährige Marxistische Studienwoche vom 7. bis 10. August in Frankfurt/M. zum Thema „Multiple Krise? Zuspitzung, Bearbeitung, Gegenkräfte“. Veranstalter Heinz-Jung-Stiftung, Redaktion Z und das isw/München. Z 135 (September 2023) wird als Hauptthema „Militarisierung“ behandeln.