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Perspektiven der Friedensbewegung und die Linke

von Antworten von Aktivist:innen auf Fragen der Redaktion
Juni 2023

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine droht in einen langwierigen und verheerenden Stellungskrieg überzugehen. Zugleich ist er Teil von globalen Stellvertreterkriegen außerhalb Europas (Jemen, Syrien u.a.), die hierzulande weit weniger zur Kenntnis genommen werden. Wie viele andere Kriege hat auch der Krieg in der Ukraine eine weit zurückreichende Vorgeschichte der verpassten und teilweise auch bewusst sabotierten Friedenschancen. Die Brisanz des Widerspruchs zwischen NATO-Expansion und dem russischen Anspruch auf eine Sicherheitszone in Osteuropa war seit vielen Jahren bekannt und wurde jüngst durch wikileaks-Dokumente noch einmal bestätigt.1 Weder ein militärischer Sieg einer der beteiligten Seiten noch irgendeine Art von Friedensschluss sind derzeit in Sicht. Mit der kontinuierlichen quantitativen und qualitativen Ausweitung von Waffenlieferungen der NATO-Staaten wächst die Gefahr einer nicht mehr beherrschbaren Eskalation bis hin zu einer möglichen nuklearen Katastrophe, wie es UN-Generalsekretär Guterres mehrfach betonte. Die Bundesrepublik wird im Gefolge der USA immer tiefer in den Krieg hineingezogen. In der bundesdeutschen Politik werden die weitere Lieferung von Waffen an die Ukraine und deren militärische Unterstützung als alternativlos dargestellt. Allerdings mehren sich Stimmen in der Politik, in der Wissenschaft und von ehemaligen Militärs, die den militärischen Sieg einer Seite für unmöglich halten und für eine politische Lösung plädieren. In der Bevölkerung wächst die Angst vor einer nuklearen Eskalation des Krieges, gewinnen Erwartungen an eine Verhandlungslösung an Popularität. Der „bellizistische Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“ (Habermas) wird von einem wachsenden Teil der Bevölkerung nicht (mehr) geteilt.

Die Friedensbewegung vermochte die darin liegenden Chancen bisher aber nicht zu nutzen und blieb eher schwach. Es gelang ihr bisher nicht, ernsthaften politischen Druck in Richtung auf eine politische Beendigung des Krieges, auf Frieden und Abrüstung aufzubauen. Die Ansichten in der Friedensbewegung über die Ursachen und den Charakter dieses Krieges sind ebenso unterschiedlich und z.T. widersprüchlich wie darüber, wie dieser Krieg beendet werden könnte und welche Forderungen im Einzelnen erhoben werden müssen. Hierbei spielen offenbar auch unterschiedliche Erfahrungen der Generationen, von Jüngeren und Älteren, eine Rolle. Das von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierte „Manifest für Frieden“ und die daran anschließende Friedensdemonstration Ende Februar in Berlin gab der begründeten Angst von Hunderttausenden vor einer Eskalation des Krieges und dem Verlangen nach Friedensverhandlungen eine Stimme. Dies gilt gleichermaßen für die vielen dezentralen Aktionen der Ostermarschbewegung mit ihren Zehntausenden aktiv Beteiligten.

Das ist ein Anfang, aber – verglichen mit der Friedensbewegung der 1980er Jahre – ein zunächst noch sehr bescheidener. Was müsste nun geschehen, um die Friedens- und Antikriegsbewegung stärker zu machen und welche Aufgaben stellen sich in diesem Zusammenhang der Linken? Dazu bat die Redaktion einigen Aktivist:innen der Friedensbewegung um Stellungnahme. Im Folgenden veröffentlichen wir diese Fragen und die uns gegebenen Antworten. Sie stammen von Willi van Ooyen (Friedens- und Zukunftswerkstatt Frankfurt/M.), Daphne Weber (Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der Partei Die Linke) und von der Gruppe Krieg & Frieden Kassel, die als Team auf drei der fünf Fragen geantwortet hat. Ingar Solty (Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik, Rosa-Luxemburg-Stiftung) und Ulrich Brinkmann (Prof. f. Arbeits- u. Organisationsoziologie, TH Darmstadt, Z-Beirat) haben zwei statements beigesteuert, die im Anschluss abgedruckt werden.

Redaktion

Redaktion: Wenn wir von der Friedensbewegung sprechen – wer ist das heute? Wo ist sie verankert, welche Kräfte tragen sie, wie artikuliert sie sich, welche Resonanz hat sie gegenwärtig?

Willi van Ooyen: Bei den diesjährigen Ostermärschen hat sich deutlicher als in den Vorjahren gezeigt, dass die Friedensbewegung von einer regionalen zum Teil örtlichen Struktur in allen Landesteilen lebt. Um über 120 lokale Aktionen (wie in diesem Jahr) zu planen, Aufrufe zu diskutieren bzw. zu beschließen, zu drucken und in Umlauf zu bringen und Märsche und Kundgebungen zu organisieren, braucht es Aktive vor Ort. In den vergangenen Jahren waren das oft Aktive, die bereits in den 80er Jahren Friedensforen und Bündnisstrukturen mit entwickelt haben und eine lose Verbindung zum Bundesausschuss Friedensratschlag hatten. In den letzten Jahren kamen auch neue örtliche Gruppen und Aktive aus Protestbewegungen (Umwelt, Corona, Jugendinitiativen, internationale Solidaritätsgruppen) hinzu. Bei den Aktionen waren in der Regel örtliche Gliederungen der Partei DIE LINKE und der DKP, der Gewerkschaften, der NaturFreunde, der DFG-VK sowie VVN-BdA, Pax Christi, andere christliche Gruppen und örtliche Pfarrer:innen, IPPNW, DIDF und soziale Initiativen aktiv beteiligt. Seit den Jugoslawien- bzw. Afghanistan-Kriegen sind lediglich noch einzelne Vertreter:innen der Grünen bzw. der SPD beteiligt.

In den Medien wird die Friedensbewegung mit diffamierenden Etiketten belegt („naiv“, „Putin-Versteher“, „Lumpenpazifisten“). Daneben wird ihr häufig Uneinigkeit zur Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine-Unterstützung unterstellt oder es wird ihr vorgeworfen, „rechtsoffen“ zu sein. Die wirklichen Inhalte der Aufrufe und Kundgebungen sind kaum Gegenstand der Berichterstattung – wenn man von der linken Presse absieht. Bemerkenswert ist dabei, dass - trotz der an Umfang und Schärfe erheblich aggressiveren Diffamierungen der Friedensbewegung – eine stärkere Mobilisierung nicht verhindert werden konnte. Die Ostermarschierer haben sich nicht durch medial aufgeblähte Abgrenzungsdebatten ablenken lassen und sind eindeutig gegen die fortschreitende Militarisierung und Kriegspropaganda aufgetreten. Es bleibt die Aufgabe der Friedensbewegung, die politischen Zusammenhänge von globalen Veränderungen und Krieg zu analysieren und gegen die weitere Militarisierung Positionen zu halten.

Daphne Weber: Ich würde sagen, dass die Friedensbewegung vielschichtig ist und man nicht von einer homogenen Bewegung sprechen kann. Darüber hinaus gibt es viele Menschen, die Sympathien mit den Losungen und Zielen der Friedensbewegung haben, ohne dass sie deshalb auf eine Kundgebung gingen oder sich an anderen Aktionen beteiligten. Was man sagen kann, ist, dass es eine große Lücke zwischen den Generationen gibt: Die etablierten Organisationen und Netzwerke der Friedensbewegung sind nach wie vor von denjenigen geprägt, die seit vielen Jahrzehnten die Kernaktiven sind. Es ist nicht gelungen, die Friedensbewegung in dem Sinne zu verstetigen, dass sie (auch) von den jüngeren Jahrgängen als eigenständige soziale Kraft getragen wird. Das trägt zu ihrer geringeren Resonanz bei und dazu, dass sie nicht so stark medial und gesellschaftlich wahrgenommen wird, wie sie es müsste.

Gruppe Krieg & Frieden Kassel: In Anbetracht des diesjährigen Ostermarsches sind wir als junger Teil der Friedensbewegung in Kassel positiv überrascht: Nicht nur, weil der Aufruf es trotz des aggressiven bellizistischen Grundtons der Leitmedien und des deutschen Regierungspersonals geschafft hat, mehr als 1000 Menschen in Kassel auf die Straße zu bringen, sondern vielmehr, weil die offenkundig an ‚Frieden‘ interessierten Menschen alle gesellschaftlichen Gruppen umfassten. Von „der“ Friedensbewegung zu sprechen, wäre demnach irreführend. Diese Bewegung ist keine Entität, obwohl es einen hohen Grad an Institutionalisierungen gibt, die sich im Laufe der vielen Jahrzehnte friedenspolitischer und aktivistischer Arbeit herausgebildet haben. Diese vielen Institutionen sind ohne Zweifel wichtige, weil materielle und organische Verankerungen. Dabei hat der Krieg in der Ukraine auch hier eine tiefe Spaltung und Verunsicherung ausgelöst, die sich an der zuweilen sehr gegensätzlichen Bewertung des Krieges ablesen lässt. Die breite Beteiligung an den Ostermärschen in diesem Jahr zeigt das Bedürfnis, diese Gräben zu überwinden. Auch unsere alltägliche friedenspolitische Arbeit am Campus und in der eigenen Stadt ist davon geprägt, das notwendige „Brückenschlagen“ zwischen traditionellen Friedensgruppen, neueren sozialen Bewegungen und Gewerkschaften zu erreichen.

Redaktion: Die Aufgaben der Friedensbewegung sind heute komplexer als in früheren Jahrzehnten. Welche Aufgaben und welche zentralen Forderungen sollte die Friedensbewegung aus Deiner Sicht in den Mittelpunkt stellen, um politisch breiter und wirksamer zu werden? Welche Erfahrungen vermitteln hier die Ostermärsche?

Willi van Ooyen: Die Friedensbewegung sollte – angesichts zahlreicher weltweiter Kriege - konsequent das Zwangsdenken von Kriegspropaganda und Kriegsdrohungen ablehnen. Was die Bundesrepublik selbst betrifft, sollte sie wegen der sich dramatisch verschärfenden sozialpolitischen Probleme und mit Blick auf die globale Umwelt- und Klimakrise Forderungen nach Abrüstung in den Vordergrund stellen. Es geht darum die dadurch freiwerdenden Mittel für eine dringen notwendige sozial-ökologische Wende einzusetzen.

Die zentralen Forderungen der Friedensbewegung: „abrüsten statt aufrüsten“, Verbot aller Atomwaffen, Beendigung der Rüstungsexporte und eine neue Entspannungspolitik, um einen neuen Kalten Krieg abzuwenden, bleiben aktuell. Die Debatte sollte aber auch um die Begriffe Demilitarisierung und Neutralität erweitert werden.

Daphne Weber: Bei den Ostermärschen verdichtet sich der Eindruck, dass die alten Protestformate der Friedensbewegung nicht mehr tragen wie früher. Die Forderungen nach Waffenstillständen, einem Verhandlungsweg und dem Rückzug der Truppen sind richtig, aber nicht hinreichend. Vorschläge für friedensschaffende und -erhaltende Strukturen wie Abkommen, Sicherheitsgarantien und kollektive Sicherheitssysteme würden auf Fragen der Menschen antworten und könnten positiv überzeugen. Wir sollten als Friedensbewegung außerdem klarer und schärfer Stellung beziehen gegen einen neuen Aufrüstungswettlauf, der großes Vernichtungspotential zur Folge hat und zudem wertvolle Ressourcen aufzehrt, die dann nicht mehr für den Kampf gegen Armut und für den ökologischen Umbau verfügbar sind.

Gruppe Krieg & Frieden Kassel: Grundsätzlich heißt das Gebot der Stunde: „Die Waffen nieder!“, um das Sterben im Abnutzungskrieg von Mensch und Material zu beenden. Als friedenspolitisch aktive Studierende in Kassel sehen wir unsere Aufgabe aber auch darin, dass wir abseits von den großen Galionsfiguren der Friedensbewegung ein lokal verankertes, heterogenes Bündnis schaffen, um gegen die Militarisierung und die in Kassel tief verankerten Rüstungsmonopole zu kämpfen. Die Entmilitarisierung von Wissenschaft & Bildung, Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht, Erneuerung der Friedenswissenschaften, die Zivilklausel & Rüstungskonversion, sowie prinzipiell Abrüstung sind dabei zentrale Themen, die sich auch über die traditionsreichen Termine wie den Ostermarsch hinaus in Aktionen ausdrücken. Darüber hinaus erscheint es uns eine besonders zentrale Aufgabe, die Diskussionen und ideologischen Auseinandersetzungen über die Zusammenhänge von Krieg & Frieden zu führen. Für uns bedeutet Frieden nicht einfach die Abwesenheit von Krieg. Deshalb arbeiten und streiten wir innerhalb der friedensbewegten Bündnisse, und darüber hinaus, für eine sozialistische Perspektive auf Frieden, die die herrschende globale Ordnung der Konkurrenz und Profite rücksichtslos kritisiert. Wir setzen hier auf Aufklärung und weniger auf Orientierung. Die große Resonanz auf das „Manifest für Frieden“, rund um Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und den sich selbst als „preußisch-deutscher Offizier“1 bezeichnenden Erich Vad wird vielfach als großer Erfolg gefeiert. Dieses, wie bislang alle öffentlich wirksam wahrgenommenen Aufrufe, Appelle, Manifeste oder gar Aufstände zeigt aus unserer Sicht tiefgreifende Schwächen: Sie befeuern eine geradezu staatstreue „Orientierung“, einen Nationalismus, der sich vom nationalen Auftrag des Regierungspersonals kaum unterscheidet, weil sie ebenso den Erfolg der deutschen Nation zum Maßstab auserkoren haben. Dass die Gründe für Krieg aber gerade von eben jenen Nationen ausgehen, die sich den Platz am Tisch der Weltmächte sichern wollen, wird nur unzureichend oder gar nicht zur Sprache gebracht. Vielmehr ist hier eine Tendenz zur Idealisierung zu beobachten, die die Verhältnisse vor dem 24. Februar 2022 als etwas erstrebenswertes inszeniert und die Friedensfrage zu einer Frage des falschen Regierungspersonals erklärt. Dieser Nationalismus scheint uns eine Kontinuität zu sein, die zum Teil auch den Massencharakter der Friedensbewegung in den 1980er Jahren ausgezeichnet hat. Statt nationalistischer Staatsbürger:innen-Ansprache, fokussieren wir auf eine internationalistische Perspektive, die Kooperation und Völkerverständigung zur Grundlage einer friedensorientierten Weltgemeinschaft anerkennt.

Redaktion: Anfang der 1980er Jahre hatte die Friedensbewegung gegen die Raketenstationierung in der BRD mit dem Krefelder Appell (4 Mio. Unterzeichnende) Massencharakter und politisches Gewicht gewonnen. Worin lag die Stärke der damaligen Friedensbewegung? Was unterscheidet die damalige politische Konstellation von heute? Was lässt sich für die aktuelle Friedensbewegung daraus lernen? Ist die damalige mit der heutigen Konstellation überhaupt vergleichbar?

Willi van Ooyen: Die Situation ist nicht vergleichbar. 1978, als die atomare Bedrohung durch die Entwicklung der „Neutronenbombe“ und der geplanten neuen Mittelstreckenraketen, die keine Überlebenschancen ließen, sichtbar wurde, begann eine aufklärerische Phase der Friedensarbeit. Mit vielfältigen Veranstaltungen, Bildung dezentraler Friedensforen, durch kirchliche, wissenschaftliche, betriebliche Friedensinitiativen und vor allem durch direkte persönliche Ansprache wurden vier Millionen Menschen erreicht, die den Krefelder Appell mit der Hand unterschrieben. Der enorme politische Zuspruch für die damalige Bewegung mit großen Demonstrationen, Menschenketten, kulturellen und sportlichen Veranstaltungen hatte aber auch damit zu tun, dass es die Hoffnung gab, die Stationierung zu verhindern. Eine ähnliche Erfahrung gab es mit der erfolgreichen Mobilisierung gegen den Irak-Krieg im Jahre 2003. Heute ist das anders. Aktuell ist der von SPD, Grünen, FDP, CDU und der AfD getragene Kurs der weiteren Militarisierung (100-Milliarden-Fonds, Zwei-Prozent-Aufrüstung, Kriegsbereitschaft) nur schwer aufzubrechen. Es wird bei allen Friedensinitiativen stark darauf ankommen, sich mit dieser kriegerischen Einheitsfront kritisch auseinandersetzen.

Daphne Weber: Gegen Helmut Schmidt und dann Helmut Kohl sowie Ronald Reagan ließ sich damals leichter mobilisieren, zudem hätte im Unterschied zum Krieg gegen die Ukraine ein Bundestagsbeschluss hingereicht, um die Stationierung zusätzlicher Raketen zu verhindern. Wir haben heute eine andere Situation als im Kalten Krieg und es ist schwerer für uns, wenn ein Krieg nicht vom eigenen imperialistischen Block begonnen wurde. Was sich aber lernen lässt, ist die Diskussion nach vorne. Wie können Abrüstung und kollektive Sicherheit gehen? Was sind die konkreten Vorschläge, die nach vorne weisen? Wie kann man damit dann auch Menschen überzeugen und begeistern, die nicht schon bereits überzeugt sind? Die Linke, aber auch die Friedensbewegung müssen die sie isolierenden Ringe aufsprengen. Das geht nur im Vorwärtsgang mit überzeugenden Antworten, die am Alltagsverstand anknüpfen und über Phrasen hinausgehen. Und es wäre im Sinne der Glaubwürdigkeit auch ratsam, eigene blinde Flecken zu bearbeiten.

Redaktion: Wenn es gelingen soll, die Friedens- und Antikriegsbewegung zu einer politisch wirksamen Massenbewegung zu machen, muss sie auch mehr sein als eine lupenreine linke Veranstaltung. Bei einem gemeinsamen Ziel wird sie dennoch – wie frühere Massenbewegungen – politisch heterogen sein. Ein heftig diskutiertes Problem ist in diesem Zusammenhang die Abgrenzung nach rechts. Wie kann es gelingen, politische Klarheit und politische Breite unter einen Hut zu bringen?

Willi van Ooyen: Das einigende Band der Friedensbewegung ist die Kritik an Militarismus und Krieg. Auf dieser Grundlage bietet sie Raum für Menschen mit ihren eigenen Überzeugungen, darunter etwa konservative oder kommunistische, christliche oder atheistische, anarchistische, bürgerlich-liberale, ökologische, pazifistische und viele andere mehr. Die Diffamierung als „rechtsoffen“ (darunter auch „Querdenker“ oder „Antisemiten“) ist jüngeren Datums, aber sie erzielt durchaus Wirkung.

Neu ist gegenüber früher, dass dieses bei uns durch Kräfte aus Organisationen erfolgt, die bisher in der Friedensbewegung verwurzelt waren. Damit werden innerhalb von großen Mitgliedsorganisationen tiefgehende Widersprüche provoziert, da in ihnen zugleich nach wie vor Menschen aktiv sind, die Stigmatisierung und Ausgrenzung ablehnen. Dasselbe gilt für wichtige Partner der Friedensbewegung, wie Gewerkschaften oder kirchliche Kreise. Die Friedensbewegung als breites gesellschaftliches Bündnis war immer geprägt von einer Vielzahl unterschiedlicher Analysen und Meinungen zu friedenspolitisch relevanten Fragen. Kontroversen – wie aktuell in der Bewertung von Vorgeschichte und Hintergründen des Ukraine-Krieges – stehen aber gemeinsamen, prägnanten Forderungen nicht entgegen. Mit den genannten Vorwürfen setzen wir uns in einem Thesenpapier („Frieden-Links“) auseinander (https://frieden-links.de/2023/04/
thesenpapier-friedensbewegung-rechtsoffen/)

Daphne Weber: Bei dieser Frage muss klar sein, was nicht geht: Strategische Uneindeutigkeit, die die Tür zur organisierten radikalen Rechten offenlässt, ist und bleibt inakzeptabel. Jegliche Vereinnahmung muss durch Ansage und Anlage friedenspolitischer Aktionen für die Rechten undenkbar gemacht werden. Wenn Leute neu dazukommen und aus Unwissenheit Losungen teilen, die rechtsoffen sind, muss man sie solidarisch aufklären und mitnehmen. Aber wer zur AfD gehört oder auf radikal rechte Inhalte nicht verzichten will, hat bei der Friedensbewegung nichts verloren. In dieser Frage uneindeutig zu sein, spaltet den dringend benötigten Protest gegen Krieg und Aufrüstung, denn es hat zur Folge, dass viele wegbleiben, denen das Anliegen wichtig ist oder die man gewinnen muss.

Gruppe Krieg & Frieden Kassel: Hier sehen wir den größten Bedarf an Veränderung: Eine Friedensbewegung, die es mit dem Frieden ernst meint, muss erkennen, dass die Gründe für Kriege bereits im Frieden liegen. Aus unserer Sicht hat das nichts mit einer „lupenreinen“ linken Veranstaltung zu tun, sondern entspricht einer Analyse, die auf die allgemeine Krise des globalen Kapitalismus verweist. Pandemien, Klimakrise, Flucht, Vertreibung, Krieg, usw. treiben Grundsatzfragen über die kapitalistische Realität an. Dieses Interesse, in Gegnerschaft zum Kapitalismus und seinen politischen Parteigängern, findet sich zunehmend auch in der jüngeren und oft als bürgerlich verschrienen Klimabewegung wieder. Hier wollen wir breitere Bündnisse vorantreiben, um die Friedensfrage als Leitfrage zu fokussieren.

Für uns als junger Teil der Friedensbewegung sind die zentralen Grundachsen: Antifaschismus, Antimilitarismus, Antiimperialismus. Damit knüpfen wir an die antifaschistischen Wurzeln der Friedensbewegung in der Nachkriegszeit an. Aus der Erfahrung von Faschismus und Holocaust haben sich die Überlebenden von Buchenwald geschworen, eben jene Grundlagen für Krieg und Barbarei an ihren Wurzeln herauszureißen. Dazu zählt auch, die soziale Demagogie rechter Akteure zu entlarven, indem die sozialen Konsequenzen aus Krieg, Inflation und Aufrüstung offengelegt und bekämpft werden. Im Antimilitarismus liegen die Verbindungen zur Klimafrage auf der Hand, denn die globale Aufrüstungsspirale – Panzer und Geschosse – dient nicht dem Erhalt existentieller Lebensgrundlagen, sondern deren Zerstörung. Deswegen gilt es für uns, die Friedensfrage mit der Bewältigung der Klimakrise zu verbinden, um damit auch (jüngere) Aktivist:innen der Klimabewegungen einzubinden. Als Grundlage dienen uns die Analysen der Kontinuitäten des deutschen Imperialismus: Der ausgerufene Zeitenwenden-Militarismus ist keine „Über Nacht“-Reaktion, sondern ist spätestens mit der 2013 postulierten außenpolitischen Strategie „Neue Macht, Neue Verantwortung“ der Anspruch Deutschlands in der Welt. Eine Friedensbewegung, die diese antifaschistischen, antimilitaristischen und antiimperialistischen Prämissen zu ihren Grundsätzen erklärt, lässt keinen Spielraum für eine rechte Vereinnahmung, gerade weil sie Perspektiven aufzeigen für eine echte Befriedung der Gesellschaften und Weltgemeinschaft.

Redaktion: In der politischen Linken und in der Bevölkerung gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen über die Ursachen und den Charakter des Ukrainekrieges. Ebenso zu Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen. Welchen Stellenwert hat die Friedensfrage für die politische Linke? Und wie kann sie als orientierende Kraft in der Friedensbewegung wirksam werden?

Willi van Ooyen: Aktuell hat sich die gesellschaftliche Stimmung geändert – die Mobilisierung zum 25.2. und die Ostermärsche sind ein Ausdruck davon. Dennoch überwiegt – angetrieben durch das mediale Dauerfeuer – in Organisationen wie den Gewerkschaften, aber auch innerhalb der Kirchen eine große Unklarheit über die Einschätzung des Krieges. Dies führt in der Praxis zu schwierigen Positionierungen und Diskussionen. Während in den Gewerkschaften eine allgemeine Positionierung „gegen Aufrüstung“ und für die Aufnahme von Friedensverhandlungen eingenommen wird, gibt es zugleich einen Konflikt um den Eskalationskurs und Waffenlieferungen. Es gibt innerhalb des DGB erste Versuche, die Gewerkschaften auf Regierungslinie zu bringen. Das äußerte sich unter anderem in dem Versuch, lokale DGB-Gliederungen auf Abstand z.B. zu den Ostermärschen zu bringen.

Es muss gelingen, in der linken Debatte, die Klassenperspektive herauszuarbeiten. Die Analyse muss wieder die globalen und ökonomischen Grundlagen der Krisen und der Kriege in den Blick nehmen. Darüber – gegen alle mediale Propaganda – aufzuklären, das ist die Aufgabe der LINKEN. Sie muss deutlich machen, dass die Friedensfrage die zentrale Überlebensfrage unserer Zeit ist.

Daphne Weber: Die Frage nach Frieden ist als eine Hauptfrage zurück auf der Tagesordnung. Nicht weil der Krieg jemals vom Erdball verschwunden war, sondern weil er jetzt räumlich so nah an Deutschland dran ist. Selbstverständlich müssen die gesellschaftliche Linke wie auch die Partei DIE LINKE sich dazu verhalten. Die Forderungen nach einem Waffenstillstand und Verhandlungen auf der einen und einen Rückzug der russischen Truppen auf der anderen Seite bleiben zentral und sind eine gute Orientierung für das gesellschaftliche Eingreifen der Linken. Das Problem des isolierenden Rings bleibt aber bestehen und wird wohl nur in einem mühevollen Prozess der Organisation und neuen Vertrauensbildung zu potentiellen Mitstreiter:innen bearbeitet werden können. Zwischen starken Bewegungen der letzten Jahre, wie etwa Unteilbar oder der Klimabewegung und der Friedensbewegung gibt es kaum organisatorische Überschneidungen. Das ist fatal, weil wir die Synergieeffekte brauchen, um Veränderung herbeizuführen. Wir müssen mehr werden.

Die Friedensbewegung in schwierigen Zeiten

Die Friedensbewegung ist heute gespalten

Es ist schwierig, von der Friedensbewegung zu sprechen. Sie ist tief gespalten. Die Berliner Großdemonstration vom 27. Februar 2022, die sich gegen den russischen Krieg in der Ukraine richtete, war ihrem Aufruf nach und im Selbstverständnis wohl auch der vielen Demonstrant:innen eine Antikriegs- und Friedensdemonstration. Einig war man sich weitestgehend in der moralischen Verurteilung der drei Kriegslügen („Entmilitarisierung“, „Schutzverantwortung“ für den Donbass, „Entnazifizierung“), mit denen Russland den Angriff auf sein Nachbarland rechtfertigen wollte. Die Spaltung war jedoch auf dieser Demonstration schon sichtbar, vor allem sich hier grünliberale Befürworter:innen der Waffenlieferungen an die Regierung in Kiew und die Vertreter:innen der klassischen friedenspolitischen Deeskalationspositionen gegenüberstanden. Die Spaltungslinien verlaufen durch Gewerkschaften, linke Parteien und soziale Bewegungen. Auf der einen Seite stehen diejenigen linksliberalen Kräfte und versprengten Linksradikalen, die im Ukraine-Krieg einen durch großrussisch-völkische Ideologie motivierten Invasionskrieg sehen und vor „Appeasementpolitik“ warnen. Auf der anderen Seite stehen denjenigen, die den Ukrainekrieg als einen innen- sowie geo- und sicherheitspolitischen Invasionskrieg betrachten, der sich zu einem Stellvertreterkrieg mit NATO-Beteiligung ausgeweitet und seine Wurzeln in dem innerukrainischen Bürgerkrieg von 2013ff. hat. Deshalb warnen sie mit 1914 vor Augen vor einem Schlafwandeln in einen atomar geführten Dritten Weltkrieg.

Diese Spaltungslinien prägen auch den Streit innerhalb der Linkspartei – mit existenzbedrohenden Austritten sowohl am linksliberalen als auch klassisch-friedenslinkem Ende –, und ihre Existenz ist Ursache der handlungspolitischen Lähmung der Parteiführung, die den (angesichts der Massenaustritte auf beiden Seiten zum Scheitern verurteilten) Versuch unternahm, es formelkompromisslerisch beiden Seiten recht zu machen und zugleich die Einheit der Partei wahren zu wollen, indem sie (beim „heißen“ bzw. „solidarischen Herbst“) den hauptursächlichen Krieg aus ihrer Mobilisierung gegen die inflationsbedingte Verarmung breiter Bevölkerungsschichten ausklammerte. Dabei folgt sie einer zum Nichthandeln und zu Richtungslosigkeit verdammenden strukturkonservativen Logik, die die Wahrung des (Mitglieder-)Status Quo höher gewichtet als den nötigen Versuch, der sich politisch nicht vertreten fühlenden Bevölkerungshälfte eine Stimme zu verleihen, die sich gegen die herrschende Politik und die Waffenlieferungen wendet und Bemühungen um eine Verhandlungslösung einfordert.

Friedenspolitische Aufgaben

Es gibt heute drei zentrale friedenspolitische Aufgaben: (1.) die unbedingte Vermeidung einer Eskalation des Kriegs in der Ukraine und über ihre Grenzen hinaus und die schnellstmögliche Beendigung des stattfindenden Abnutzungskriegs durch einen vermittelten Waffenstillstand, gefolgt von einem dauerhaft Stabilität, Sicherheit und Frieden in Europa garantierenden Friedensvertrag, (2.) die unbedingte Verhinderung der vor allem von den USA im Windschatten des Ukrainekriegs angestrebten neuen Blockkonfrontation gegen China, die sich auch zwangsläufig verheerend auf Industriestruktur, Sozialstaatlichkeit, Demokratie, Zivilität und Liberalität im Innern Europas auswirken würde, und (3.) die alternative Entwicklung einer neuen Neuen Ostpolitik, die neu ist, weil sie (a) mit der Richtung der vorherrschenden Konfrontationspolitik bricht und (b) sich auf den gesamten eurasischen Kontinent und namentlich China erstreckt. Neu an ihr wäre auch, dass sie – ausgehend von Maßnahmen der Vertrauensbildung und den allgemeinen Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der Nichtintervention – eine neue Friedens- und Sicherheitsarchitektur aufbaut und die nur kooperativ zu lösenden existenziellen Menschheitsfragen (Klimagerechtigkeit, Ökologie, Entwicklung, globale soziale Rechte, demokratische Teilhabe) angeht.

Zu diesen historischen Aufgaben gibt es keine Alternative. Zugleich müssen sie einer geschwächten Friedensbewegung wie eine Herkules-, wenn nicht sogar Sisyphusaufgabe erscheinen. Die Friedensbewegung ist nicht nur klein und gespalten, sondern schon seit Jahr und Tag gefährlich gealtert, weil ihre Aktiven sich vor allem aus dem Spektrum derjenigen speisen, die sich Anfang der 1980er Jahre - in den Gewerkschaften, den Kirchen, aus der DKP, den Grünen und der SPD heraus – gegen den NATO-Doppelbeschluss wandten und die dann im Rahmen des Kosovokriegs 1999 und des Afghanistan- und Irakkriegs ab 2001 auch den Weg des Menschenrechtsbellizismus vor allem grüner, aber auch „antideutscher“ Provenienz nicht mitgingen.

Es besteht jedoch Hoffnung. Die strategisch-konzeptiven Versuche, die Friedensbewegung vor allem in Richtung Klimabewegung zu verbreitern und auch auf ein neues demografisches Fundament zu stellen, bekommen eine neue materielle Grundlage. Es gibt in Folge des Ukrainekriegs und seiner globalen, auch geopolitischen Auswirkungen eine strukturelle Konvergenz von sozialer, Klima- und Friedensfrage. So gesehen reicht die Konzentration der Gewerkschaften auf ihr „Kerngeschäft“ nicht aus. Die soziale Frage ist heute mit der Außenpolitik stark verschränkt. Und daraus ergibt sich für die Gewerkschaften der Zwang, ein allgemeines, gesellschaftlich-politisches Mandat einzufordern und praktisch auszufüllen.

Zugleich konvergieren auch Friedens- und Klimafrage, da klar sein muss, dass die Abwendung der Klimakatastrophe (Stichwort Kipppunkte), erst recht die Einhaltung der Klimaziele des Weltklimarats, völlig illusorisch ist, wenn es zu einer neuen Blockkonfrontation gegen China kommt. Das zwingt auch die Klimabewegung, sich in dieser Frage zu positionieren. Dass realistische Klimapolitik dabei einen Konflikt, ja einen Bruch mit den – am Stärksten an der Seite der USA auf eine neue Blockkonfrontation zusteuernden – Grünen voraussetzt, sollte dabei ebenfalls klar sein.

Dabei gilt es für die Friedensbewegung auch, die Verknüpfungen zu antirassistischen und Bewegungen der Flüchtlingssolidarität herzustellen. Auch hier gibt es eine neue Konvergenz. Die oben genannten drei Hauptziele müssen auch für sie Priorität haben. Denn während ein Staat wie Deutschland Verteilungsspielräume besitzt, um die Auswirkungen der Inflation durch die Aussetzung der Schuldenbremse und Maßnahmen wie den Energiepreisdeckel für Kapital und Bevölkerung wenigstens zeitweilig abzufedern, trifft die Inflation die Bevölkerungen in den ärmeren und schwächeren Staaten Südeuropas und vor allem Afrikas schon heute weitgehend ungebremst. Es braucht keine nostradamischen Fähigkeiten, vorherzusehen, dass die laufende Entwicklung erneut vor allem die afrikanischen Staaten massiv unter Druck setzt, es zu ethnisierten und konfessionalisierten Verteilungskämpfen kommt, die gewaltförmig ausgetragen werden und zu Staatszerfall führen, in der Folge Millionen Menschen zur Flucht zwingen, die dann wiederum Militärinterventionen, Stellvertreterkriege, weitere Zehntausende Todesopfer an den Grenzen der Festung Europa und Aufwind für rechtsextreme, rassistische Kräfte in Europa bedeuten würde. Kurz, es besteht die Notwendigkeit, zersplitterte Einzel(fragen)bewegungen zusammenzuführen, und auch die Möglichkeit.

Die Dialektik des Krieges

Krieg unterliegt einer allgemeinen Dialektik von Herrschaftsstabilisierung und -destabilisierung. Zu Beginn führen wahrgenommene Bedrohung, initiale Kriegslügen und fortgesetzte Propaganda zu einer Wagenburg-Mentalität und einem vaterländisch-patriotischen Burgfrieden. Je mehr aber sich die Widersprüche des Krieges entfalten, je mehr der Krieg seine realen Auswirkungen zeigt, umso stärker artikulieren sich Unzufriedenheit und Protest. Historisch besteht ein enger Zusammenhang zwischen Krieg (und vor allem Kriegsniederlagen) und Revolution/Revolte: Auf den deutsch-französischen Krieg 1870/71 folgte die Pariser Kommune, auf den russisch-japanischen Krieg die Russische Revolution von 1905, auf den Ersten Weltkrieg folgte eine Welle von sozialen Antikriegsrevolution von Irland bis Zentralasien (einschließlich der Oktoberrevolution), auf den Zweiten Weltkrieg folgten Antikolonialrevolutionen, usw. Auch heute ist diese Dialektik noch wirksam, so z.B. in den USA, wo der Hurrikane Katrina als eine Art Brennglas für die Widersprüche im Innern den Bann des militaristisch-nationalistische Klimas rund um den Irakkrieg brach und in einer ähnlichen Dynamik den Erdrutschsieg der Demokraten 2006 und zwei Jahre später Obamas hervorrief.

Die Schlüsselkategorie, wenn es um die Frage geht, wann und wie sich die Dialektik des Krieges entfaltet und Antikriegsbewegungen und Friedenskräfte erstarken, ist persönliche Betroffenheit. Auch diese unterliegt der historischen Entwicklung. Es ist verständlich, dass und warum der Kosovokrieg 1999, der Afghanistankrieg 2001, der Libyenkrieg 2011, der Krieg in Syrien usw. – die alle weit weg waren - keine starken Friedensbewegungen hervorriefen. Die Ausnahme bildet der Irakkrieg 2003, weil der Bruch im transatlantischen Verhältnis zur Folge hatte, dass die Kriegslügen der kriegführenden Staaten in aller Welt zur prime time-Uhrzeit über den Fernsehschirm flackerten und entlarvt wurden.

Vergleichbar mit der Zeit des „Krefelder Appells“ ist sicherlich, dass die persönliche Betroffenheit heute wie damals sehr viel größer ist als bei den deutschen Krieg(sbeteiligung)en in Afghanistan, Mali, Syrien usw. Jeder Mensch muss sich irgendwie dazu verhalten, ob er/sie nun Angst vor einer atomaren Eskalation in Folge des Ukrainekriegs hat oder nicht. Der Versuch, sich beim Streit der Welt nur aufs Private zu konzentrieren, funktioniert unter diesen Bedingungen nicht. Das ähnelt der Zeit des NATO-Doppelbeschlusses, als klar war, dass ein neuer Krieg zunächst einmal vor allem auf deutschem Boden stattfinden würde. Auch der kriegsbedingten Verteuerung der Lebenshaltungskosten kann sich die arbeitende Bevölkerung nicht entziehen.

Keine Angst vor heterogenen Bewegungen

Alle großen Massenbewegungen waren historisch stets heterogen. Dies gilt für sämtliche Antikriegsbewegungen genauso wie für die größten Demonstrationen der letzten Jahrzehnte gegen den Irakkrieg (2003), gegen die Hartz-Gesetze (2004), gegen die Agenda 2010 und TTIP/CETA (2015). Spontane Massenproteste in der Geschichte – wie in der Großen Französischen Revolution - gingen stets mit weltanschaulich verquerem Denken und Irrationalität einher. Es liegt in der Natur der Sache, dass Massenbewegungen und Revolutionen nie homogen und kohärent waren und auch keinem ideologischen Reinheitsgebot entsprechen können, weil das als „richtig“ angenommene Bewusstsein immer nur das Bewusstsein von kleinen Zirkeln politisierter Intellektueller und Aktivisten sein kann, die sich im Besitz der Wahrheit glauben, um die sich die Welt dann zu versammeln habe. Es steckt in dieser Haltung auch ein Unwille, um die Richtung von spontanen Massenbewegungen zu kämpfen – im Wissen, dass der Grund, warum fortschrittliche Revolutionen und Bewegungen Fortschrittliches erreichten, eben genau der war, dass „Linke“ in ihnen die hegemonialen Auseinandersetzungen führten.

Das gilt auch für die heutigen Bewegungen. Der Wunsch nach einem linken Reinheitsgebot ist sektiererisch. Die Weigerung, sich in Bewegungen und das argumentative Handgemenge zu begeben und – im Geist Rosa Luxemburgs – den „Tiger zu reiten“, entspringt subjektiven Ohnmachtsgefühlen, die möglicherweise auch mit den Niederlagen gegen den Neoliberalismus und den Zusammenbrüchen der Jahre nach 1989 zusammenhängen. Kann es sein, dass damit vielen Linken der Glaube an die eigene (auch argumentative Überzeugungs-)Kraft abhandenkam, das subalterne „Antis (Antifaschismus, Antirassismus, Antisexismus, Antiheteronormativismus, Antispeziesismus usw.) das Pro des Sozialismus ablösten und entsprechend die antifaschistische Angst vor dem „Mob“ an die Stelle des Hoffens und Vertrauens auf den Aufstand der breiten Bevölkerungsmassen trat.

Die Bewegungen, mit denen wir es heute zu tun haben, machen sich an Fragen fest, die wirklich die große Mehrheit der Menschen betreffen. Wer nicht will, dass sich diese Bewegungen nach rechts entwickeln, der muss Antworten auf diese Fragen haben und Angebote machen. Wer nicht will, dass die Rechte das Friedensthema besetzt, muss von links aktiv agieren und das Thema links besetzen.

Mehr Mut, Linke

Historisch hat noch jeder Krieg die Linke gespalten: Der Erste Weltkrieg spaltete die Arbeiter:innenbewegung in einen patriotisch-reformistischen und einen internationalistisch-revolutionären Flügel, der Kalte Krieg spaltete die Linke in zwei deutsche Staaten und ihre Befürworter oder Gegner, der Kuwaitkrieg spaltete die linke „Nie wieder Deutschland“-Einheit und führte zur Entstehung der Antideutschen, die den Krieg aus Angst vor Scud-Raketen auf Israel befürworteten, der Kosovokrieg 1999 trennte diejenigen, die Anfang der 1980er Jahre noch im Bonner Hofgarten, in Mutlangen und anderswo gemeinsam demonstriert hatten, in grüne Menschenrechtsbellizisten und die Friedensbewegten in und um die PDS, der Irakkrieg 2003 brachte die „Soft-Antideutschen“ in und um die damalige Linie der „konkret“ hervor, und selbst im Zweiten Weltkrieg gab es noch Sozialisten, die wie Karl Renner, den Anschluss Österreichs und des Sudetenlands durch Nazideutschland guthießen. Die gute Nachricht ist: Die Linke hat historisch noch alle diese Spaltungen – die Austritte, Abspaltungen, zerbrochenen Freundschaften etc. – überlebt, weil für alle verlorenen Aktiven ganz neue Aktive, Sympathisanten und Wähler:innen erschlossen wurden.

Entscheidend ist, dass man – trotz der Dialektik des Krieges – von Anfang an einen klaren, mutigen Standpunkt eingenommen hat, denn nur so wird man glaubwürdig, wenn die Dialektik des Krieges sich entfaltet und der Burgfrieden aufgekündigt wird. Leider wurden die „vier unbequemen Wahrheiten“ des Ukrainekriegs1 nicht primär von Linken zum Ausdruck gebracht, sondern von anderen Kräften: kritischen liberalkonservativen Intellektuellen, Militärs und Vertretern aus den Staatsapparaten selbst.

Viele in der Linken sagen, dass man mit der Friedensfrage nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren habe. Die strukturelle Konvergenz von Friedens-, sozialer, Klima- und auch Emanzipationsfrage (Antirassismus, internationale Solidarität) zeigt jedoch, dass die Friedensfrage heute alle anderen Fragen überdeterminiert und darum unbedingt beantwortet werden muss. Die Aufgabe besteht darin, die Zusammenhänge aufzuzeigen und die Einzelthemen in eine gemeinsame politische Bewegung zu synchronisieren.

Ingar Solty

Vertrauen und Diplomatie

John Kenneth Galbraith hat einmal festgestellt, dass in einer historischen Rückschau viele zyklische Krisen des Kapitalismus einen ähnlichen Verlauf haben und die Betroffenen in einer Weise auf sie reagieren, dass man den Eindruck gewinnt, sie hätten aus der Geschichte nichts gelernt: „Diejenigen, die sie nicht kennen, sind dazu verurteilt, sie zu wiederholen“. Vielleicht gibt es ähnliche (40jährige?) Zyklen auch mit Blick auf militärische Krisen. 1983 setzte Reagan in einer berüchtigten Rede die Bezeichnung vom „evil empire“ in die Welt, vom Kampf „zwischen richtig und falsch und zwischen gut und böse“, auf sowjetischer Seite finden sich ähnliche Titulierungen. Wer sich die heute vorherrschenden Dichotomisierungen anschaut, fühlt sich in jene Zeit zurückversetzt, das gilt für das Vokabular nicht weniger als für die zur Schau gestellte Selbstgerechtigkeit und Scheinheiligkeit. Wie mühsam der Weg zurück in Diplomatie und Vertrauen war, musste nach dem Wechsel zu Gorbatschow nicht nur Reagan, sondern auch Kohl erfahren. Erinnert sei an dessen haarsträubenden Gorbatschow-Goebbels-Vergleich im Interview mit der Newsweek vom Herbst 1986 (Der Spiegel 44/1986).

Liest man Scott Ritters kürzlich erschienenen Zeitzeugenbericht über „Disarmament in the time of Perestroika“ (Abrüstung in der Zeit der Perestroika), so wird deutlich, was für eine Herkulesaufgabe es war, im aufgeladenen, verknöcherten Klima des späten Kalten Kriegs eine fruchtbare Basis für erfolgreiche Rüstungskontrollgespräche zu schaffen. Kapitel 3 ist überschrieben „Vertraue, aber überprüfe“. Es handelt von der Unterzeichnung des INF-Vertrags von 1987 und beginnt mit dieser Aussage Reagans: „‘Wir haben die Weisheit eines alten russischen Spruches gehört. Und ich bin mir sicher, dass sie Ihnen bekannt ist, Herr Generalsekretär, auch wenn meine Aussprache Ihnen vielleicht Schwierigkeiten bereitet. Die Maxime lautet: Doveryai no proveryai – vertraue, aber überprüfe.' Gorbatschow sah Reagan an und lächelte. Sie wiederholen das bei jedem Treffen", sagte er. „Das gefällt mir", antwortete Reagan, ebenfalls lächelnd, bevor er mit seinen vorbereiteten Ausführungen fortfuhr.”

Ob man Standardwerke zu Theorie und Praxis von Diplomatie (etwa von Geoff Berridge) oder zu ihrer Geschichte (z.B. Jeremy Black) zu Rate zieht: Alle werden nicht müde, die Bedeutung von Vertrauen in diplomatischen Prozessen hervorzuheben. Und aus der sozialwissenschaftlichen Vertrauensforschung wissen wir zudem, dass es zwar vergleichsweise unaufwändig ist, Vertrauen in sozialen Beziehungen zu zerstören – umso mühseliger, es (wieder-)aufzubauen. Dies gilt nicht weniger für die Beziehungen zwischen Staatengebilden und ihren politischen Führer:innen.

Die drei basalen Vertrauensdimensionen – auch darin ist sich die Forschung weitgehend einig – sind Kompetenz, Gesinnung (i.S. von Wohlgesonnenheit) und Integrität. Sind eine oder mehrere dieser Dimensionen zerrüttet, so zerbricht das daran geknüpfte Vertrauen. Beispiel Kompetenz: Fehlt etwa ein Verständnis von der Entstehungsgeschichte und/oder Komplexität internationaler Konflikte, so wird man kaum auf jenen gemeinsamen Nenner kommen, den Diplomatie anstrebt. Im Falle der kriegerischen Auseinandersetzung in der Ukraine muss also eine Debatte über Ursachen und Anlässe möglich sein. Ob man also den Februar 2022, also den russischen Einmarsch als Beginn interpretiert oder das Jahr 2014 mit den Maidan-Auseinandersetzungen, muss Gegenstand einer Analyse sein können. Gleiches gilt für die bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Ostukraine seit dem Sturz von Janukowytsch oder die langjährigen Sezessionsbestrebungen (Donbass, Krim)1, also die Bedrohung der territorialen Einheit der Ukraine. Ob das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine von 20172 oder Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 20073 – um nur einige Wegmarken zu nennen: Für die Analyse des Konfliktzusammenhangs sollten sie bekannt und verstanden sein. Hand aufs Herz: Wer weiß heute noch von Russlands Wunsch nach einem NATO-Beitritt von 2001?

Mit der Gesinnungsdimension von Vertrauen ist es etwas komplizierter – sie baut auf eine grundsätzliche Wohlgesonnenheit (meist „benevolence“) gegenüber der anderen Partei auf. Das schließt keineswegs unterschiedliche Interessen aus, deren Ausgleich ja gerade angestrebt wird. Aber es disqualifiziert opportunistisches Handeln (sprich: bewusst jemanden über den Tisch ziehen) oder auch die prinzipielle Delegitimierung der anderen Interessenposition. So hat etwa Chruschtschow in der Kuba-Krise gut daran getan, grundsätzlich einzusehen, dass die USA ein legitimes Interesse hatten, keine feindlichen Atomraketen vor ihrer Küste stationiert zu haben. Gleiches gilt für das damalige sowjetische Interesse an einem Abbau der in Europa stationierten Mittelstreckenraketen „Jupiter“. Dass beide Seiten verständlicherweise Probleme damit hatten, das in öffentlichen Stellungnahmen zuzugeben, stand dem klandestinen „Deal“ aber nicht entgegen4. Klar ist: Rüstung von Staaten (in diesem Fall Kuba) kann nicht ohne Berücksichtigung legitimer Sicherheitsinteressen von Anrainern vonstattengehen. In ähnlicher Weise können auch heute nicht legitime Sicherheitsinteressen übergangen werden – weder die der osteuropäischen Staaten noch die von Russland. Dies war aus der russischen Sicht auch der Tenor der angesprochenen Rede von Putin vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007: „Ich möchte aus der Rede von NATO-Generalsekretär Wörner am 17. Mai 1990 in Brüssel zitieren. Er sagte damals: ‚Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen außerhalb des Territoriums der Bundesrepublik zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.‘ Was ist aus diesen Garantien geworden?“ Eine Antwort auf diese Frage war auch der NATO-Gipfel in Bukarest im Jahr 2008, der der Ukraine einen NATO-Beitritt in Aussicht stellte.

Schließlich die Integritätsdimension von Vertrauen – sie verweist auf die zeitliche Stabilität von Zuverlässigkeit, das Sich-Verlassen-Können („reliability“), gerade in der Diplomatie ein Kapital, das sich mit den Jahren bzw. mit den Iterationen aufstocken lässt. Dies kann man gut am Beispiel von Reagan/Kohl und Gorbatschow sowie deren jeweiligem diplomatischen Umfeld ablesen. Aber auch hier gilt: Zerbrochenes Geschirr ist schwer zu kleben. Aus russischer Sicht war die angesprochene NATO-Osterweiterung nach dem Ende des Kalten Kriegs ein gebrochenes Versprechen. „Not one inch eastward“ – so der damalige US-Außenminister Baker – würde sich die NATO nach Osten erweitern. Viele weitere Versicherungen dieser Art von unterschiedlichen Regierungsakteuren folgten – sie sind mittlerweile „declassified“ und öffentlich einsehbar5. Nun kann man einwenden, dass es ein Fehler der sowjetischen/russischen Seite war, dies nicht in ein verbindliches Regelwerk gießen zu lassen – allerdings ändert diese Auffassung nichts am Vertrauensbruch. Deutlicher wird dieser noch hinsichtlich des Abkommens Minsk II, zu dem sich die Verhandlungsbeteiligten Poroschenko, Merkel und Hollande 2022/23 überraschend äußerten. Selbst wenn man das Zustandekommen (ukrainische Defensive) und die Sequenzierung der Umsetzung dieses Friedensabkommens kritisiert, ist doch die nachträgliche explizite Klarstellung der drei Protagonist:innen, es habe sich um einen Trick gehandelt, der den Zeitgewinn für eine Aufrüstung der ukrainischen Armee ermöglichen sollte, aus vertrauenstheoretischer Perspektive ein deutlicher Bruch in der Integritätsdimension. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Kujat formuliert dies so: „Russland bezeichnet das verständlicherweise als Betrug. Und Merkel bestätigt, dass Russland ganz bewusst getäuscht wurde. Das kann man bewerten, wie man will, aber es ist ein eklatanter Vertrauensbruch und eine Frage der politischen Berechenbarkeit.“6

Geht man von der plausiblen Annahme aus, dass nur Diplomatie einen Friedenszustand erreichen kann, scheint die (Wieder-)Herstellung von Vertrauen die erste Aufgabe nicht nur für die politischen, sondern auch die zivilgesellschaftlichen Akteure auf allen Konfliktseiten zu sein. Mir scheint, dass dies in den mir bekannten Reden auf den Ostermärschen (z.B. Käßmann, Däubler, Peter Brandt) gut zum Ausdruck gebracht wurde.

Ulrich Brinkmann

1 https://www.youtube.com/watch?v=naLzrXvnoXE.

1 Neue Züricher Zeitung: „«Merkels General» will nicht mehr“, 19.03.2023. https://www.nzz.ch/
international/nach-wagenknecht-demo-erich-vad-will-nicht-mehr-auftreten-ld.1730748.

1 Ingar Solty, „Vier tabuisierte Wahrheiten über den Ukrainekrieg“, in: der Freitag, 21.3.2023, Link: https://www.freitag.de/autoren/ingar-solty/vier-tabuisierte-wahrheiten-ueber-den-ukrainekrieg

1 Hier empfiehlt sich die Lektüre von Nicolai Petros „The Tragedy of Ukraine“ (2023), insbesondere Kapitel 5: „The Tragedies of Crimea and Donbass“.

2 Lesenswert dazu die besonnene Kritik von Fritz Pleitgen: https://globalbridge.ch/wir-recht-er-doch-hatte-fritz-pleitgen-ueber-die-ukraine-krise-im-jahr-2014

3 Nachlesbar in den Blättern 03/2007: https://www.blaetter.de/ausgabe/2007/maerz/was-ist-aus-den-garantien-geworden.

4 Interessant zu bemerken: Schon damals wurde der „München“-Appeasement-Vorwurf von Hardlinern gegen Amerikas UNO-Chefdelegierten vorgebracht, der den „Raketenhandel“ vorgeschlagen hatte (Der Spiegel, 05/1963).

5 https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early.

6 https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-1-vom-18-januar-2023.html.